Süddeutsche Zeitung

Familien auf der Straße:Vater, Mutter, obdachlos

Weil die Mieten steigen, leben auch Eltern mit Kindern auf der Straße. In Berlin gibt es einige der wenigen Notunterkünfte für Familien in Deutschland. Ein Besuch.

Von Verena Mayer, Berlin

Die Endstation ist ein schöner Ort. Helle Flure, in einem warmen Blauton gestrichen. Ein großer Gemeinschaftsraum mit einer Sitzbank, an den Wänden hängen Zeichnungen, auf Tabletts liegen frische Zimtschnecken. Alles ist darauf ausgerichtet, dass man sich wie zu Hause fühlen soll. Und doch kann man fast nicht weiter unten landen als hier: in einer Einrichtung für obdachlose Familien. Für Männer, Frauen und Kinder, die keinen Ort mehr zum Wohnen haben.

Ein Hinterhaus in Berlin-Kreuzberg. Hier liegt Berlins erste Notunterkunft für Familien, eine der wenigen Einrichtungen dieser Art in Deutschland. 2016 hat man begonnen, Familien aufzunehmen, erst mit zwölf Plätzen. Inzwischen sind es 30. Aber selbst wenn es hundert wären, hätten sie kein Problem, sie zu belegen, sagt die Leiterin des Heims, Viola Schröder. Denn an diesem Ort zeigt sich die Wohnungslosigkeit in Deutschland so, wie sie inzwischen ist. Als Problem, das immer öfter Menschen betrifft, die man eigentlich für geschützt hielt, alleinerziehende Mütter, kleine Kinder. Aber auch Eltern, die Arbeit haben, sich jedoch keine Wohnung mehr leisten können. Die Mitte der Gesellschaft.

Nach der Wohnungsräumung bringt die Mutter die Kinder auf den Spielplatz

Die Sozialarbeiterin Merle Mangels, 25, eine schmale, tatkräftige Frau, geht im Laufschritt durchs Haus. So, als könne sie ihrer Arbeit nicht anders hinterherkommen. Und das kann sie auch nicht. Ständig klingelt das Telefon, Leute, die nach Plätzen fragen. Ein Übersetzer wuselt vorbei, im Aufenthaltsraum sitzt eine Familie zwischen ein paar Rollkoffern und wartet darauf, ein Zimmer zu beziehen. Mangels läuft an einem Fenster vorbei und blickt hinaus. Auf den schicken Klotz gegenüber, einer von vielen Neubauten mit hochpreisigen Eigentumswohnungen, die gerade überall in Berlin hochgezogen werden. Und auf den Hof, über den gerade zwei junge Frauen gehen. Eine trägt eine Reisetasche, die andere schiebt einen Kinderwagen, ein Kleinkind läuft neben ihr her. Mangels muss nicht lange hingucken, um zu wissen: "Die wollen zu uns."

Berlin, Hauptstadt der Obdachlosen. Wie viele Menschen betroffen sind, kann man nicht genau sagen, der Berliner Senat fängt erst dieses Jahr an, Statistiken zu erstellen. Schätzungen zufolge leben einige Tausend auf der Straße, dazu kommen die 36 900 Menschen, die bis Ende 2017 langfristig in Gemeinschaftsunterkünften für Wohnungslose untergebracht waren, davon etwa 6400 Flüchtlinge. Und jeden Tag werden es mehr. Mangels erzählt von Frauen, die mit ihren Kindern über Jahre bei Verwandten untergekrochen sind, bis es nicht mehr ging, und von Familien, die nach zwei nicht gezahlten Mieten auf der Straße saßen, es braucht nicht viel, um an der Endstation zu landen.

Viele Familien stammen aus Bulgarien oder Rumänien, sie sind nach Berlin gekommen, um ihr Glück zu versuchen, schwarz auf dem Bau oder als Putzkraft. Mangels sieht aber auch Leute aus Spanien oder Irland, die hier Fuß fassen wollen, oder Deutsche, die nach einer Mieterhöhung ihre Wohnung verloren haben. Ihr jüngster Bewohner war zwei Tage alt, die Mutter kam direkt von der Wöchnerinnenstation. Eine Berlinerin ist ihr noch gut in Erinnerung: Nachdem ihre Wohnung geräumt worden war, nahm sie ihre Handtasche, brachte ihre Kinder auf den Spielplatz, und dann ging sie in die Notunterkunft und sagte: "Ich habe nichts mehr."

Mangels zeigt ihnen dann die Zimmer, in denen sie unterkommen. Hübsche Räume, mit Stockbetten aus hellem Holz. Es gibt eine Wickelkommode, Spielzeugkisten, die Kinder können basteln, backen und durchs Haus flitzen, sie machen Ausflüge, "für die Kinder ist das erst mal wie ein Ferienlager", sagt Mangels. Doch die Sozialarbeiterin muss den Familien zwei unangenehme Wahrheiten überbringen. Dass sie höchstens drei Wochen bleiben können, danach müssen sie in eines der Wohnheime für Wohnungslose, die Kinder oft die Schule oder die Kita wechseln. Und dass sie danach keine reguläre Wohnung mehr finden werden. Weil es auf dem boomenden Berliner Immobilienmarkt einfach keine mehr gibt. Schon gar nicht für arme Familien. Früher habe man noch etwas in den Randbezirken auftreiben können oder in den Plattenbauten, sagt Mangels. Inzwischen nicht mal mehr dort. Immer wieder werde sie von Leuten aus anderen Bundesländern angerufen, die nach Berlin kommen wollen. "Wir sagen dann immer: Egal, wo Sie sind, bleiben Sie dort."

"Aber dann kommt immer noch eine Bombe"

Die beiden jungen Frauen mit den zwei Kindern gehen nun tatsächlich die Treppe hoch, vorbei an der Mauer, auf die jemand "Ave Maria" gekritzelt hat, so, als könnten an diesem Ort nur noch Gebete helfen. Sie klingeln an der Tür des Heims und sagen in gebrochenem Deutsch, dass sie aus Bulgarien kommen, aber Türkisch sprechen. Mehr wollen sie erst mal nicht erzählen, wie bei den meisten Leuten, die hier landen, ist die Scham groß. Merle Mangels hetzt los, um den Dolmetscher zu holen, lotst die Frauen in den Aufenthaltsraum, bereitet die Papiere für das Aufnahmegespräch vor. Die Frauen wissen nicht, dass sie damit schon das große Los gezogen haben, ein eigenes Zimmer. Die meisten Menschen muss Mangels wegschicken, zwanzig bis vierzig Familien im Monat.

Die kommen dann nicht selten in die Notschlafstelle des Vereins Straßenfeger. Ein Gewerbegebiet im Berliner Osten. Supermarkt-Parkplätze und Reifenhändler, dazwischen gesichtslose Hochhäuser. An einem führt ein Aufgang in die Notunterkunft. Es ist Nachmittag, in vier Stunden werden sich die Türen der Unterkunft öffnen. Hier finden die klassischen Obdachlosen über Nacht Zuflucht, meistens Männer, die süchtig oder psychisch krank oder irgendwann aus dem Leben gefallen sind. Aber irgendwann seien in der Notschlafstelle so viele Eltern mit Kindern gewesen, dass sie ein eigenes Familienzimmer einrichten mussten. Gleich neben dem Büro der Betreuer liegt es, vier Betten, viel Spielzeug, es sieht aus wie ein Zimmer in einer Ferienpension. 22 Prozent der Menschen in den diversen Unterkünften seien inzwischen Familien, sagt Tanja Schmidt, die Leiterin der Notschlafstelle, "Tendenz steigend". Seit 26 Jahren mache sie den Job, und sie denke oft, sie habe schon alles gesehen. "Aber dann kommt immer noch eine Bombe." Frauen etwa, die häusliche Gewalt erlebt haben und keinen Platz im Frauenhaus finden, weil auch die Frauenhäuser überbelegt sind. Frauen mit Kindern, die über Stunden an einer S-Bahnstation stehen, bis Passanten sie ansprechen und in die Notschlafstelle schicken.

Als Nächstes sind die Alten dran, sagt Schmidt. Die würden jetzt aus ihren Wohnungen geklagt

Es ist ein kalter Tag, der Wind bläst den Schnee davon. Paradoxerweise sei es für Obdachlose im Winter leichter, sagt Schmidt. Da gibt es mehr Schlafplätze und die Kältebusse, U-Bahnhöfe werden geöffnet und in diesem Winter kann man sogar in einigen Berliner Clubs übernachten. Im Sommer hingegen müssten die Leute den ganzen Tag in der Hitze im Park verbringen. Schmidt guckt aus dem Fenster. Vor der Unterkunft stellt sich der Erste an, ein junger Mann, er sieht ganz normal aus. Und das ist er auch, sagt Schmidt, seit einigen Jahren nehme sie immer mehr "Menschen wie du und ich" auf, Bauarbeiter, Pflegekräfte, Handwerker. Berlin mag für viele Menschen auf der Welt sexy sein, hier ist es vor allem arm. Wieder, muss man sagen. Denn früher seien die Hausverwaltungen froh gewesen, wenn sie Sozialhilfeempfänger als Mieter bekamen, sagt Schmidt, da konnte man sicher sein, dass das Amt zahlt. Heute nehme kein Vermieter mehr Familien auf, die nur Wohngeld beziehen. Und viele der Sozialwohnungen, die es in der Hauptstadt gab, wurden wegen der klammen Haushaltslage in den vergangenen Jahren an Investoren verkauft.

Früher habe die Hilfe von unten nach oben funktioniert, sagt Schmidt. Die Leute kamen bei ihr an, sie leitete sie weiter an die Ämter, die fanden Trägervereine oder Wohnungsbaugesellschaften, die Wohnungen zu vergeben hatten. Inzwischen sei es genau umgekehrt. Die Ämter klingeln bei ihr durch, an der Endstation. Ob sie nicht ein Zimmer hätte für eine Familie. Als Nächstes, sagt Schmidt, sind die Alten dran. Leute, die seit der Nachkriegszeit in zwei Zimmern leben und jetzt aus ihren Wohnungen geklagt werden. Die werden dann ebenfalls an der Treppe zum Obdachlosenheim stehen. Selbst an der Endstation geht es immer noch weiter abwärts.

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SZ vom 02.02.2019/ick
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