Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Im Namen der Frau

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Warum schrieb Benjamin Franklin, Gründervater der Vereinigten Staaten, heimlich für die Zeitung seines Bruders - und gab sich dafür auch noch als Witwe aus?

Von Carolin Werthmann

Höflich und zuvorkommend sei sie, attraktiv und manchmal witzig, und solange man sie nicht provoziere, verstünde sie auch Spaß. Mit diesen Worten, die klingen, als suche da jemand in der vergessenen Liebesspalte alter Zeitungen nach dem Partner fürs Leben, beendete die Witwe Silence Dogood ihren zweiten Brief an die Redaktion des New-England Courant. Im April 1722 wurde dieser Brief abgedruckt. So wie 13 weitere Schriften, die sehr viel mehr beinhalten als die Beteuerung ihrer Charakterzüge. Herausgeber James Franklin und seine Journalisten-Kollegen mussten sich gewundert haben: Immer nachts hinterließ ein Unbekannter diese Briefe unter der Eingangstür ihrer Druckerei in Boston, zuverlässig unterschrieben mit dem Namen Silence Dogood. Schon nach der Lektüre des ersten Briefes stellten sie den Autorennamen infrage: So brillant kann doch wohl nur ein Mann schreiben!

Sie hatten nicht ganz unrecht mit ihrer Vermutung. Silence Dogood war keine Frau. Aber auch kein Mann. Silence Dogood war ein 16-jähriger Teenager. Noch dazu derjenige, der den Blitzableiter erfinden, 50 Jahre später die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnen sollte und maßgeblich daran beteiligt war, dass diese überhaupt zustande kam. Silence Dogood war Benjamin Franklin. Ausgerechnet James Franklins jüngerer Bruder und Lehrling in dessen Druckerei.

Die Kunstfigur war dreimal so alt wie er, alleinstehend und weiblich

Nach 14 Briefen gingen Franklin die Ideen aus und er gab sich zu erkennen. Seine Enthüllung überraschte die Redaktion, verärgerte seinen Bruder, verblüffte die Leser. Silence Dogood war Kult, aber nur kurzweilig geheimnisvoll. Rätselhafter ist, warum sich Franklin im unschuldigen Alter von 16 Jahren ausgerechnet eine Figur erdachte, die ungefähr dreimal so alt war wie er, alleinstehend und weiblich - und ob und wie dieses Rollenspiel das Frauenbild des 18. Jahrhunderts in den Kronkolonien entlarvt oder gar widerlegt. Und überhaupt: Was in Gottes Namen bedeutet Silence Dogood?

Benjamin Franklin ging nur wenige Jahre zur Schule und eignete sich sein Wissen autodidaktisch an. Er las Unmengen von Büchern, darunter "Essays to do Good" und "Silentiarius" von Cotton Mather, einem Bostoner Theologen, den Franklin nicht ganz ernst nahm - weil er sehr wahrscheinlich inspiriert von dessen Buchtiteln Silence Dogood erschuf. Mit einem Augenzwinkern. Denn ehrlicherweise provoziert allein dieser Name, zu hinterfragen, welche wahre Identität sich dahinter verbergen mag.

Als Mrs. Dogood schrieb Franklin über eingebildete Harvard-Studenten ("sie lernen kaum mehr, als sich anständig zu benehmen und einen Raum höflich zu betreten - was man sich ebenso gut in einer Tanzschule aneignen könnte"), die exzessive Trinkkultur in Boston ("Welches Vergnügen bereitet es dem Trunkenbold, nur noch auszusehen wie ein Mensch, aber sich zu benehmen wie ein Tier?") und dass die Bildungsarmut unter Frauen ohnehin allein die Schuld der Männer sei. Frauen nicht zu bilden, sei die barbarischste Gepflogenheit der Welt, schrieb Dogood mit Verweis auf ein Zitat des englischen Schriftstellers Daniel Defoe. Die Unwissenheit der Frau läge nicht im Wesen der weiblichen Natur, sondern unterliege einer männlich dominierten Kultur.

Er schrieb auch unter den Namen Anthony Afterwit und Alice Addertongue

Mit diesen Worten im Hinterkopf führt die Spur zu einer Begegnung aus Franklins Jugendzeit, die man in seiner Autobiografie findet. Franklin hatte einen schlagfertigen Freund namens Collins, ein Bücherwurm wie er. Eines Tages gerieten die beiden in einen Streit "über die Zweckmäßigkeit der Erziehung des weiblichen Geschlechts in den Wissenschaften und dessen Befähigung für das Studium". Collins glaubte, höhere Bildung passe nicht zu Frauen, sie seien den intellektuellen Anforderungen nicht gewachsen. Franklin ergriff die Gegenpartei, "vielleicht auch nur aus Lust am Streite". Rhetorisch ließ er sich von Collins einschüchtern, seine Meinung konnte er im Gespräch nicht stark genug vertreten. Also brachte er sie zu Papier. Er schrieb einen Brief, den sein Vater zu lesen bekam. Der analysierte die Argumentation und zeigte seinem Sohn die Schwächen auf.

Unterdessen verfassten James Franklin und seine Kollegen schon fleißig Artikel für den New-England Courant. Benjamin wollte auch. "Ich war aber noch ein Knabe und fürchtete, mein Bruder werde in seinem Blatte keine Arbeit abdrucken wollen, als deren Verfasser er mich kenne", heißt es weiter in seiner Biografie. Kurz darauf lagen die ersten Briefe von Silence Dogood unter James' Tür.

Im 18. Jahrhundert war es nicht unüblich für Autoren, unter Pseudonym zu schreiben. Tarnnamen gaben ihnen Schutz und Freiheit, Kritik an Staat und Kirche zu äußern, eine Meinung zu publizieren, die von dem Weltbild abwich, das sie üblicherweise vertraten. Benjamin Franklin machte mehrmals in seinem Leben Gebrauch davon. Da waren noch Caelia Shortface und Martha Careful, Anthony Afterwit, Alice Addertongue, Polly Baker und Richard Saunders, ein ziemlich abgeklärter Intellektueller, der gelegentlich durchsickern ließ, dass die ideale Rolle einer Frau seiner Ansicht nach in der Ehe und Mutterschaft liegt und darin, großartige Männer großzuziehen.

Die Pseudonyme waren für Franklin ein Spiel, Figuren für einen Dialog mit sich selbst. Silence Dogood war für ihn die erste Stimme einer lebenslangen - und zeitlosen - Debatte.

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