Süddeutsche Zeitung

Architektur:"Nester des schlechten Geschmacks"

Schizo-Häuser, pseudotoskanische Villen, Fake-Fachwerk: Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe sammelt Bausünden deutscher Häuslebauer.

Von Titus Arnu

Ein Doppelhaus mag wirtschaftlich sinnvoll sein. Durch die geteilte Wand zur anderen Hälfte spart man Bau- und Heizkosten. Aus stilistischer Sicht gewinnt man aber nicht wirklich viel. Die direkte Nähe zum Nachbarn drängt Doppelhaushälftenbewohner oft dazu, ihre Individualisierungsbestrebungen zu vervielfachen. Das kann schlimm enden.

Fassaden werden auf der einen Seite mit Holzplatten verkleidet, auf der anderen Seite verklinkert. Wenn ein Nachbar ein Vordach im alpenländischen Jodelromantikstil anbringt, kontert der andere mit einem kubistischen Carport. Setzt der eine auf hölzerne Sprossenfenster im rustikalen Landhausstil, trumpft der andere mit weißen Rundbogenfenstern aus Plastik auf. Man muss sich ja irgendwie abgrenzen und optisch signalisieren, dass man die bessere Hälfte ist.

Individuell verschandelte Doppelhaushälften ergeben, als Gesamtobjekt gesehen, ein verstörend asymmetrisches Ganzes. "Keine andere Baugattung ist so anfällig für Gestaltungsexzesse wie Reihenhäuser und Doppelhaushälften", sagt die Berliner Bauhistorikerin Turit Fröbe, die sich seit 20 Jahren mit Bausünden beschäftigt. Sie hat einen treffenden Namen für die gespaltenen Gebäudepersönlichkeiten gefunden: Schizo-Häuser. Solche gruseligen Bauten mit zwei Gesichtern entdeckt sie immer wieder, wenn sie durch deutsche Vororte streift. Außerdem fotografiert sie oft Pseudovillen, stilisierte Ritterburgen, Fake-Fachwerkhäuser, Nachahmungen von toskanischen Landgütern, Schottergärten und Plastikzäune mit aufgedruckten Fotos von Pflanzen.

Bei ihren Rundgängen bleibt Turit Fröbe oft fassungslos vor verunstalteten Grundstücken stehen, staunt Bauklötze und wundert sich, wie es zu solchen Design-Desastern kommen kann. "Eigenwillige Eigenheime: Die Bausünden der anderen" lautet der Titel ihres neuen Buches, eine groteske Sammlung höchst merkwürdig gestalteter Privathäuser. In Kiel entdeckte sie ein Einfamilienhaus, das aussieht, als hätte es eine Hälfte verloren. Hat nach einer Scheidung einer der Ex-Bewohner seinen Anteil mitgenommen? Turit Fröbe diagnostiziert im Bildtext nur knapp die Krankheit ("Ein Haus wie eine Sehstörung"), analysiert und verurteilt solche möglicherweise unerklärbaren Phänomene aber lieber nicht.

Fröbe macht sich nicht über die Geschmacksverirrungen der kleinen Leute lustig. Sie hat Kunstgeschichte und Archäologie studiert und betrachtet die Auswüchse des deutschen Durchschnittsbauwesens eher aus kulturanthropologischer Sicht. Wenn sie in Frankfurt am Main vor einer gelb angestrichenen Villa mit weißen Säulen steht, die aussieht, als sehne sie sich nach einer Südstaaten-Plantage, fragt sie sich: Wie kommt dieses Gebäude hierher? Wo will es hin? Und warum?

"Solche Häuser sprechen zu einem", sagt die Bauhistorikerin. Viele wünschen sich anscheinend an einen anderen Ort. Das bayerisch inspirierte Haus mit Lüftlmalereien in Berlin stünde lieber im Voralpenland, die stilisierte Burg lieber auf einem Hügel am Mittelrhein anstatt in Bad Saarow. Turit Fröbe hat auf ihren Recherchereisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz festgestellt, dass manche Bausünden regional gehäuft auftreten. In und um Berlin stehen viele Häuser, die im Wald und in den Bergen besser aufgehoben wären. Das Saarland sei ein ganz bausündenstarkes Land, sagt die Urbanistin, dort sind besonders viele bizarre Um- und Anbauten, grelle Fassadenfarben und absurde Deko-Elemente zu beobachten. Baden-Württemberg sei bausündentechnisch dagegen eher enttäuschend.

Obwohl zwei ihrer Bücher das Schlagwort "Bausünden" im Titel tragen, wirbt sie dafür, diesen moralisch aufgeladenen Begriff abzuschaffen. Das wäre eigentlich konsequent, denn es gibt ja auch keinen Baugott, der zehn Baugebote in Sichtbeton gemeißelt hat. Obwohl sich manch ein Geschmackspolizist wünscht, irregeleitete Bauherren und Baufrauen könnten für besonders schlimme Vergehen wie Eternit-Fassaden, komplett lila gestrichene Außenwände und Gabionenzäune tatsächlich in der Hölle schmoren, ist es selbst in Deutschland nicht verboten, hässliche Häuser zu bauen.

Mittlerweile hat Turit Fröbe mehr als 1000 Bausünden publiziert, aber im gleichen Zeitraum nur etwa zehn gelungene Einfamilienhäuser entdeckt, die meisten aus den 1950er-Jahren. Woran liegt das? "Geld ist genug da, aber das baukulturelle Bewusstsein fehlt in der Gesellschaft", sagt sie. In den meisten deutschen Gemeinden gibt es zwar Gestaltungssatzungen, die architektonischen Wildwuchs eindämmen sollen. Da werden Dachneigungen, Traufhöhen, Fenstergrößen und Abstände auf den Millimeter genau vorgegeben. Wieso geraten dann trotzdem so viele Eigenheim-Fantasien zu Karikaturen? "Gestaltungssatzungen machen die Sache nicht unbedingt besser", sagt Turit Fröbe, "persönliche Ausformungen sind ja immer noch möglich."

Den überbordenden Gestaltungswillen der deutschen Häuslebauer findet Fröbe faszinierend. Sie betont, dass auch Eigenheime, die bei ambitionierten Architekten leicht Schwindel, Übelkeit und Augenflackern verursachen, von ihren Bewohnern aus Liebe so geplant und umgesetzt wurden - und nicht aus Böswilligkeit. Viele Bausünden entstehen erst nachträglich, wenn das Haus schon fertig ist, und sie pflanzen sich in der Umgebung fort.

Die Baumärkte bieten alles an, was Bausünder für ihr Hobby, das Verschandeln, benötigen. Wenn ein Hausbesitzer anfängt, eine Anregung aus dem Baumarktprospekt umzusetzen, sagen wir, einen durch Gabionen eingegrenzten Schottergarten mit spärlicher Buchsbaum- und üppiger Gartenzwergpopulation, kann man sich sicher sein, dass die Nachbarn darauf reagieren. Wer sich durch so etwas persönlich beleidigt fühlt und Bausünden als Körperverletzung empfindet, kann nicht viel dagegen unternehmen. Turit Fröbe bietet eine wohltuende Ersatzhandlung an: Ihr hübscher "Abrisskalender" beinhaltet Fotos von 366 Bausünden zum Abreißen.

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