Kolumne La Boum:Dunkle Stellen

Kolumne La Boum: undefined
(Foto: Steffen Mackert)

Unsere Kolumnistin fährt in Paris Karussell und kann nicht vergessen, was früher an demselben Platz gewesen ist.

Von Nadia Pantel

Ich war die Rue Montorgueil bestimmt schon fünf Mal entlanggelaufen, bevor ich das erste Mal aufmerksam auf den Fußboden schaute. Zwischen Falafelbude, überteuertem Obstladen und Burgerrestaurant liegt eine Steinplatte. Dort steht: "Am 4. Januar 1750 wurden in der Rue Montorgueil Bruno Lenoir und Jean Diot festgenommen und verurteilt, weil sie Homosexuelle waren. Sie wurden am 6. Juli 1750 auf der Place de la Grève verbrannt. Es war die letzte Hinrichtung wegen Homosexualität in Frankreich." Der Place de la Grève heißt heute Place de l'Hôtel de Ville und liegt vor dem Pariser Rathaus. Wo früher Scheiterhaufen und Guillotine standen, baut die Stadt heute zu Weihnachten jedes Jahr ein Karussell auf, auf dem alle Kinder umsonst fahren dürfen.

Als ich die Erinnerungstafel für Bruno Lenoir und Jean Diot das erste Mal gesehen hatte, war es Anfang Januar. Das Weihnachts-Karussell stand noch, ich hatte meinem Sohn eine Fahrt versprochen. Er wollte auf ein großes Holzpferd, das Pferd daneben war noch frei, ich setzte mich zu ihm. Während wir uns drehten, drehte sich auch mein Kopf. 272 Jahre. Das ist lang, aber nicht unvorstellbar lang. Wir warteten in der Schlange vorm Zuckerwattestand. Ein paar Schritte entfernt floss die Seine an uns vorbei, so wie sie auch damals an Bruno Lenoir und Jean Diot vorbeigeflossen war.

So wie sie sich auch am 17. Oktober 1961 unbeirrt Richtung Meer bewegt hatte, als französische Polizisten algerische Demonstranten ins Wasser warfen. Manche der unbewaffneten Männer hatte die Polizei schon vorher totgeschlagen, manche ertranken im Fluss. Nur 500 Meter vom Rathaus entfernt erinnert am Pont Saint-Michel eine kleine Metallskulptur an das Massaker vom 17. Oktober. Manchmal legt jemand eine frische Blume auf das Brückengeländer, die Kinder der Ermordeten sind noch am Leben. Von den Blumen aus sieht man den Eiffelturm, Menschen lehnen sich neben sie, ohne sie zu bemerken, und machen Fotos.

Wäre Paris ein Mensch, wäre er voller Narben

Wenn man eine Stadt besser kennenlernt, ist es wie mit einem Menschen, den man zu verstehen beginnt. Man kennt die dunklen Stellen, man weiß, wann die Fröhlichkeit ein Trotzdem ist. Nur wäre Paris ein Mensch, dann einer, der so viel erlebt hat, dass kaum noch eine Stelle der Haut ohne Narbe ist. Ich kann all die Straßen gar nicht zählen, in denen ein knapper Satz an der Hauswand an Franzosen erinnert, die dort von der deutschen Wehrmacht erschossen wurden.

Seit September fahre ich regelmäßig mit dem Fahrrad vom Norden der Stadt zum alten Justizpalast im Zentrum. Dort läuft der Prozess gegen die Terroristen des 13. November 2015. Jedes Mal komme ich auf dem Weg an einem der Tatorte vorbei, am Bataclan. Die Fassade ist frisch renoviert, Menschen trinken Kaffee, das Jetzt behauptet sich laut und selbstbewusst.

Zur SZ-Startseite

Kolumne La Boum
:Jutebeutel und Komposteimer

Nach vier Jahren in Paris ist unsere Kolumnistin Expertin für deutsch-französische Paarbeziehungen geworden.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: