Gleißendes Licht, letzte Nebelschwaden, der See schimmert blaugrau und ist absolut still. Ein paar Enten dümpeln im Wasser, in der Ferne sind die Umrisse eines winterfest gemachten Bootes auszumachen, noch verschwinden die Alpen im Dunst des Morgens und auch die nahe Roseninsel, auf der die spätere Kaiserin Sisi so oft König Ludwig II. traf, ihren Bruder im Geiste. Barbara Vinken liebt diesen Ort, der tatsächlich "Paradies" heißt, Steg 1 in Possenhofen am Starnberger See. Im Sommer, nach langen Tagen an der Uni in München, an der sie seit 2004 Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft ist, fährt sie manchmal hierher und geht baden.
Schwimmen, hatte sie auf der Fahrt von München hierher gesagt, sei für sie eine "Auszeit. Ein Nullzustand des Lebens. Man wird umschmeichelt, verliert die Erdenschwere, wird ganz leicht. Sehr meditativ, sehr schön, sehr ruhig. Und gleichzeitig zärtlich". Zwei, drei Mal die Woche packt sie ihre Badesachen, egal in welchem Land, in welcher Stadt sie ist, egal ob See, Meer oder Schwimmbad, egal ob Juni oder, wie jetzt, Februar.
Barbara Vinken steht an der Treppe des Holzsteges und schaut leicht skeptisch in die Tiefe. Eine echte Erscheinung: Pelzmütze, rot lackierte Fingernägel, schwere Kette um den Hals, dramatisch geschminkte Augen. Die 63-Jährige hat sich mit Büchern wie "Angezogen - das Geheimnis der Mode", oder dem kürzlich erschienenen "Ver-kleiden. Was wir tun, wenn wir uns anziehen" auch einen Namen als Modetheoretikerin gemacht. Keine seziert so schlau die Lustlosigkeit der Deutschen bei Mode und deren ungebrochene Liebe für Funktionskleidung; keine benennt so präzise, dass hier vieles vor allem sinnvoll sein soll und viele wenig Sinn für Sinnlichkeit haben, wenn es um feine Stoffe, kunstvolle Nähte, exquisite Schneiderkunst gehe.
Das Lieblingsbad hat wegen der Energiekrise geschlossen
"Wie viel Grad hat das Wasser, haben Sie gesagt? Wirklich nur fünf?", fragt sie in ihrem hellen Singsang, der ihr etwas Mädchenhaftes verleiht. Fünf Grad - das ist natürlich schon kalt. Normalerweise schwimmt Vinken im Winter im Münchner Dantebad im 50-Meter-Außenbecken bei deutlich angenehmeren Temperaturen, gerne mit einer gelb-golden schimmernden Badekappe und sogenannten Schwimmohrringen, immer Brust, immer mit dem Kopf nach oben, und meist genau 45 Minuten, also exakt eine Unistunde. Aber dieser Winter ist nicht normal, und so hat ihr Lieblingsbad wegen der Energiekrise geschlossen. Die Professorin ist auf das Schwabinger Nordbad unweit ihrer Wohnung ausgewichen, was insofern erwähnenswert ist, als sich nun dort die eingeschworene Dante-Schwimm-Gemeinschaft, zu der Vinken sich zählt, trifft: "Das ist so lustig! Die sind alle da. Sogar die Bademeister!" Zuletzt in einem See geschwommen ist sie im November in Italien, am Comer See, wo sie ein "Türmchen" hat, der hatte aber nach ihrem Gefühl da schon noch "um die 18 Grad".
Immerhin, die Außentemperaturen im "Paradies", gerade noch im Minusbereich, steigen langsam an. An den Kiesstrand werden zwei Liegen geschleppt, und zwar von zwei starnbergblonden Frauen, die eine mit fettem Chanel-Zeichen auf ihren schwarzen Winterboots, die andere mit einem Handy in Louis-Vuitton-Hülle. Ihr weiß-schwarzer Mantel, sagt die Modeexpertin mit Kennerblick, könnte von "den Nähten her auch von Chanel sein". Der Kioskmitarbeiter öffnet beschwingt seine Fensterluken und ruft in die kalte Luft hinein: "Die Sonne kommt raus!", was Barbara Vinken als Signal deutet: "Kinder, wir gehen da jetzt hinein."
Flink schlüpft sie in ihren eierschalenfarbenen und von einer Spange zusammengehaltenen Bikini der französischen Marke Eres; bester Beweis, dass auch Funktionskleidung ziemlich hübsch sein kann. Selbst die Pelzmütze ist nicht einfach eine Extravaganz einer modebewussten Frau, sondern mit Bedacht gewählt: Weil beim Baden in eisigen Temperaturen der Körper viel Wärme über den Kopf verliert, sollte er bedeckt sein. Gibt es da etwas Besseres als diese wuschelige und dicht behaarte Haube, vor Jahren im Second-Hand-Shop des Vertrauens erstanden?
Elf Stufen sind es die Holztreppe hinunter ins Wasser, das jetzt durch den Lichteinfall faszinierend türkisgrün leuchtet, graue Steine liegen am Grund, über deren mögliche Glitschigkeit Vinken vorher laut nachgedacht hatte, Badeschuhe trägt sie nämlich nicht. Da sprach sie auch unvermittelt ein paar Sätze Französisch, was wohl weniger Ausdruck einer gewissen Weltläufigkeit war, die sie, die in New York wie in Paris lehrte, zweifellos hat, sondern mehr der Tatsache geschuldet ist, dass sie, Tochter eines Belgiers, zweisprachig aufgewachsen ist. Sie liebt Frankreich, das Land, die Kultur, hat ein Buch über Flaubert geschrieben.
Behände geht sie hinein, kein Zögern, keine schreckhaften Trippelschritte, "langsam atmen" hatte man ihr vorher noch zugerufen, ein vermutlich vollkommen überflüssiger Rat. Eine hyperventilierende Barbara Vinken ist einfach nicht vorstellbar, dafür ist sie zu elegant. Sie taucht ein, legt sich einmal kurz auf den Rücken, ruft: "Ist das kalt!" Hatte der Kioskmitarbeiter vorhin wirklich erzählt, er schwimme an solchen Tagen manchmal von Steg zu Steg?
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Winterbaden ist, vor allem seit Corona, nicht mehr nur bei verrückten Skandinaviern, sondern auch bei experimentierfreudigen Deutschen beliebt. Blogs sind voller Erfahrungsberichte und Tipps, einer lautet: Langsam anfangen, den Körper gewöhnen, rausgehen, wenn es im Körper nicht mehr nur zu kribbeln, sondern auch zu stechen beginnt. Das Gefühl danach aber: unbezahlbar. Der unmittelbare Kälteschock, bei dem sich alle Gefäße zusammenziehen, "das pusht einen ja richtig!" ruft Vinken begeistert. Sie würde, sagt sie, es sofort wieder machen. Sie trocknet sich ab, genau beobachtet von nun zwei sonnenbebrillten Augenpaaren am Kiesstrand.
Die Zacken der Zugspitze sind jetzt in der Ferne schemenhaft zu erkennen, davor die Umrisse der Roseninsel. Im vergangenen Sommer ist Vinken von hier aus zur Insel geschwommen, Sisi war ja auch eine leidenschaftliche Schwimmerin. Sie wunderte sich noch, wie leicht und schnell das ging - "im Nu war ich da!" - bis sie auf dem Rückweg eine Erklärung dafür fand: eine starke Strömung. Die Freundin, die dabei war, hatte schon die Wasserwacht gerufen, weil Vinken gar nicht mehr auftauchte. Die aber besann sich auf eine wichtige Schwimmweisheit: einatmen, ausatmen, ruhig bleiben. Zug für Zug kam sie dann wieder zurück.
Keine Leidenschaft ohne Zubehör. Diese Gegenstände benötigt Barbara Vinken fürs Schwimmen:
Die Schwimmohrringe
"Die habe ich von einer Freundin geschenkt bekommen, sind die nicht süß? Mit diesem Weiß und zartem Rosa und dem funkelnden Etwas erinnern sie ein wenig an Libellen, mit einem falschen Diamant. Und ja, die heißen wirklich Schwimmohrringe, weil das Wasser ihnen nichts anhaben kann. Ich ziehe sie tatsächlich oft beim Schwimmen an."
Die Pelzmütze
"Die habe ich vor Jahren in einem Second-Hand-Geschäft bei mir um die Ecke gekauft. Die Besitzerin war ganz reizend, sie hat mich oft angerufen und gesagt: 'Frau Vinken, ich glaube, ich habe etwas für Sie, wollen Sie vorbeikommen?' Beim Winterbaden ist es ja wichtig, den Kopf zu bedecken, damit der Körper nicht zu viel Wärme verliert. Also ist sie perfekt dafür."
Das Handtuch
"Ich nehme immer diese dünnen Handtücher aus Stoff, mehr brauche ich nicht. Ich bin ja viel unterwegs, aber meine Badesachen packe ich immer ein, damit ich überall schwimmen kann. Diese Handtücher sind leicht und nehmen wenig Platz weg - und hübsch sind sie natürlich auch."
Surfen mit Maximilian Brückner , Schwimmen mit Ulrike Folkerts , Reiten mit Karen Duve : Weitere Folgen von " Meine Leidenschaft " finden Sie hier .