Bäume in der Stadt:Die Standhaften

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Ein alter Maulbeerbaum, den die Autorin Caroline Ring gezeichnet hat. (Foto: Caroline Ring / Berlin Verlag)

Zittern und Rauschen mitten in der Großstadt: Die Autorin Caroline Ring erzählt in einem Buch die Geschichte besonderer Bäume. Das ist auch eine Schule der Wahrnehmung.

Von Renate Meinhof

Die Bäume der Kindheit? Es waren viele, aber der Afrika-Baum ist der schönste von allen, diese Rotbuche, die im alten Schlosspark steht, Dutzende Meter hoch, ganz nahe unserem Haus und doch weit genug, um in ihrer Krone, je nach Jahreszeit, all das schauen zu können, was ein Kinderkopf mit Afrika verband: Beladene Kamele sah man dort oben, und runde Hütten aus Lehm. Barfußkinder tobten umher, Elefantenstampfer donnerten über aufgerissene Erde, und die höchsten, vom Ostseewind gezausten, auch im Sommer blattlosen Astspitzen waren trocken raschelnde Palmen. Dort oben in der Krone gedieh eine eigene, magische Welt, und noch heute heißt diese Buche in der Familie der Afrika-Baum.

Wie Menschen werden auch Bäume krank und brauchen Hilfe

Die Literatur ist voll von Bäumen, auch von Bäumen der Kindheit, aber man muss nicht Schriftsteller sein, um sich Bäumen zu nähern. Sicher könnte jeder Mensch ein oder zwei Seiten zu frühen Baumerinnerungen aufschreiben, was in diesen Zeiten eine ganz schöne Beschäftigung wäre. Menschen und Bäume - sie sind verbunden miteinander, und von all den Parallelen erzählt ja nicht erst die Bibel. Saft und Harz entsprechen dem Blut; und Krone, Fuß und Arme sind anthropomorphe Metaphern. Bäume stehen in der Baumschule, werden wie Menschen krank und brauchen Hilfe. Auch bei ihnen gibt es Seuchen.

Zum Baum ihrer Kindheit, einem knorrigen Apfelbaum im Brandenburgischen, und zu den Bäumen, die sie jetzt umgeben, kann Caroline Ring eine ganze Reihe von Geschichten aufblättern. Gerade hat sie ein Buch darüber geschrieben, was Bäume in Städten erzählen. "Botschafter des Lebens" heißt es, und Waltraud, die Douglasie im Freiburger Stadtwald, ist nur eine der Riesinnen, zu denen die Autorin gepilgert ist, weil Waltraud der höchste Baum Deutschlands sein soll. Auch bei der ausgemauerten "Reformationslinde" in Rostock-Biestow war sie. An die 500 Jahre alt ist dieser Baum, den sie, wie alle anderen Bäume des Buches auch, gezeichnet hat.

Durch ganz Deutschland ist Caroline Ring gereist, sie, die Biologin und Wissenschaftsjournalistin, geboren 1985 in Ostberlin. Da lebt sie noch heute, und dort, nicht weit vom ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit der DDR, holt man sie ab, um mit ihr einen weiten Spaziergang durch Weißensee und Hohenschönhausen zu machen, drei Seen zu umrunden und Bäumen zu begegnen.

Bäume in Städten - und was sie Menschen bedeuten können - ist also das Thema, und wenn man in diesen abgeschotteten Wintertagen an die letzten heißen Sommerwochen denkt, sind einem viele Bilder vor Augen. Eimer, die über Nacht an alten Pumpen auf den Bürgersteigen hingen, daran ein Zettel: "Gieß mal wieder!" Man sah auch nie gesehene Nachbarn, die Wasserschläuche aus ihren Kellern durch Fenster nach draußen legten, weil sie ganz offensichtlich plötzlich ein Gespür für die Bedürfnisse der Sträucher und Bäume vor ihren Türen bekommen hatten.

Das muss auch mit der Pandemie zu tun haben, denn wie sehr wir gerade in diesen Zeiten der Ansteckungsängste auf die Natur, auf Bänke und Wiesen unter Bäumen angewiesen sind, hat jeder gemerkt, und merkt es noch. Da sitzen Freunde mit Thermoskannen unter den nun kahlen Wipfeln draußen, weil man sich drinnen nicht mehr treffen kann. Abstandsvoll trinken sie Glühwein und sehen durchs Geäder der Zweige dem Sonnenuntergang zu.

Die Bäume haben ihre eigenen Geschichten und mit Caroline Ring eine Erzählerin. (Foto: Ingo Römling)

Caroline Rings Baumrecherche kommt also gerade zur richtigen Zeit, denn ihr geht es darum, das Hinschauen zu lernen - und zwar in allernächster Umgebung und durch alle Jahreszeiten hindurch. "Ich wollte mich nicht auf Superlative festlegen", sagt sie, "der dickste, der älteste, dann sind es immer Eichen und Linden." Auf Rings Baumreise durch Deutschland erfährt man auch viel über Pomeranzen, Tulpenbäume und Graupappeln, von der Weißen Maulbeere liest man, und warum sie für den Preußenkönig Friedrich II. so von Bedeutung war. Der Maulbeerbaum, den sie besucht, steht in einem Hinterhof der Berliner Friedrichstraße und mag an die 300 Jahre alt sein.

Die Bäume wahrzunehmen, an denen man täglich vorbeiläuft, ist ihr wichtig, nicht nur als "Straßenbegleitgrün", wie sie es nennt. "Wenn die Leute den Blick heben und mal schauen, oh, das ist ja nicht nur einfach Grün, dann habe ich mein Ziel schon erreicht", sagt Caroline Ring und läuft über eine Wiese am Obersee, um einem den Amberbaum zu zeigen, der dort steht. Jemand hat eine Axt, ein Messer in seine Rinde geschlagen, einige Jahre muss das her sein, denn der Baum hat versucht, sich diesen Schnitt selbst zu verbinden. Wulstig liegen die Wundränder da. Der Hieb hat dem Amberbaum nichts anhaben können.

"Wie Espenlaub" hat jeder schon mal gezittert

Schon erzählt die Biologin, was genau im "Leitgewebe" des Baumes geschieht. Und dann steht sie unter einer kräftigen Pappel. Es rauscht und zittert hier anders als unter den Linden und Weiden, die ganz in der Nähe stehen. Sie hebt ein paar Blätter auf, und jetzt sieht man, warum die Pappeln so zittern, warum es, wenn man ins Laubgewirr schaut, so wirkt, als hätte jemand jedes einzelne Blatt extra aufgehängt, wie Weihnachtsbaumschmuck, so beweglich sind sie, weshalb auch das Spiel der Farben bei den Pappeln fast flimmerig wirkt.

Der Stiel der Blätter nämlich ist platt, nicht rund, sogar leicht in sich gedreht. Wenn Wind in den Baum fährt, bietet jeder Stiel einen Widerstand, und so muss es hier einfach lauter sein, zittriger und rauschender als beim gleichen Windstoß in einer Linde, zum Beispiel. Espe wird diese Pappelart auch genannt, Zitterpappel. "Wie Espenlaub" hat jeder schon gezittert, gerade jetzt, wo das Sozialleben ins Freie verlagert werden muss.

Die Biologin hat eine Graupappel an einer Straßenkreuzung in Jena besucht und sich auch mit Ian Baldwin getroffen. Er ist einer der Leiter des dortigen Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie. Seit Jahrzehnten, erzählt Ring, erforsche Baldwin, wie Pflanzen ihre Umwelt wahrnähmen und interagierten. Mit seinem Kollegen Jack Schultz veröffentlichte Baldwin 1983 eine Studie, der Experimente mit Sämlingen von Pappeln und Ahornen zugrunde lagen. Sie wollten den Beweis liefern, dass Pflanzen miteinander "kommunizieren", und in gewisser Weise sei das auch so, nur nicht im menschlichen Sinne: reden, um gehört zu werden.

Ian Baldwin hält es heute für einen Fehler, damals von "Kommunikation" gesprochen zu haben. Im Leben eines Baumes gehe es nicht darum, "freundlich oder moralisch gegenüber anderen zu sein", so formuliert es Baldwin. Das Verhalten der Bäume "dient einzig dazu, so lange wie möglich am Leben zu bleiben und den Fortbestand des eigenen Genoms zu sichern, in Form von Keimlingen". Und dann beschreibt Ian Baldwin das "riesige Chemielabor", über das die Bäume verfügten. Ein Labor, in dem auch Abwehr- und Signalstoffe produziert werden. Die Pappeln seien da wahre Spezialisten.

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Außerhalb der Welt der Wissenschaft hat die Vorstellung, Bäume würden miteinander reden, würden sich gegenseitig warnen und helfen, bis heute viel Anklang gefunden, nicht zuletzt durch das Buch "Das geheime Leben der Bäume" des Försters Peter Wohlleben. Caroline Ring mag diese "Vermenschlichung und Romantisierung " nicht. Damit mache man es sich zu einfach, und in gewisser Weise findet sie diese Vermenschlichung der Bäume "respektlos".

Am Faulen See, zu dem man über eine Straße und durch ein kleines Waldstück läuft, kann man sehen, wie sehr "ein jeder Baum in erster Linie für sich selbst" kämpft, nach oben strebt, zum Licht, sich anpasst, den Konkurrenten nebenan hier ein kleines Zugeständnis macht, um da ein wenig mehr Freiheit zu gewinnen.

Der See. Nach den letzten trockenen Sommern sei der Faule See viel kleiner geworden. "So wie jetzt habe ich ihn noch nie gesehen", sagt Caroline Ring. "Gerade wenn man über Klimawandel spricht, werden immer die ganz großen Dinge aufgeworfen", sagt sie, "die Arktis zum Beispiel." Aber um ein Bild davon zu bekommen, "was uns hier umgibt und wie wir es bewahren können, muss erst einmal die Vielfalt wahrgenommen werden".

Douglasie in Freiburg. (Foto: Caroline Ring / Berlin Verlag)

Viele Städte haben übrigens Baumkataster, Karten, auf denen Straßen- und Parkbäume verzeichnet sind, die Art natürlich, manchmal auch ihr geschätztes Alter. Man kann also online einfach einmal nachschauen, was die Robinie vor dem Fenster, was die Weide am Teich, die Platane im Volkspark schon alles gesehen haben, als man selbst noch gar nicht da war.

Nach dem Abschied von Caroline Ring läuft man durch Weißensee an einer Friedhofsmauer entlang, rechts der Straße liegen Nüsse auf dem Bürgersteig. Man hebt sie auf. Hinter der Hecke steht ein Mann und lacht unter seinem Walnussbaum, an dessen knorrigem Stamm eine Katze hochklettert. Und dann erzählt er die Geschichte dieses Ostberliner Baumes, jedenfalls soweit er sie kennt und bewusst erlebt hat.

Im Frühjahr 1989 hätten plötzlich zwei Herren aus Suhl auf seinem Grundstück gestanden, ohne geklingelt zu haben. Sie hätten den Stamm vermessen, Notizen gemacht. Das müsse man sich einmal vorstellen, sagt der Mann. Schließlich hätten sie ihre Notizbücher wieder eingepackt und ihm, dem Besitzer des Baumes, mitgeteilt, dass dieser beschlagnahmt sei.

Der Mann hinter der Hecke erzählt das so erbost, als seien die Herren aus Suhl gerade erst da gewesen. In der DDR wurden in Suhl Waffen hergestellt. VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl "Ernst Thälmann" - das war jedem ein Begriff. Und das Holz des Walnussbaumes muss in Suhl besonders begehrt gewesen sein. Im Herbst 1989 hätte dieser Nussbaum nahe der Friedhofsmauer in Berlin-Weißensee gefällt werden sollen. Stattdessen fällte das Volk die Mauer.

Der Baum steht bis heute.

Wäre also die Mauer nicht gefallen, hätten sie aus diesem Holz fünfzig Schäfte für Jagdgewehre gemacht. 48 Waffen wären gegen harte Devisen in den Westen exportiert worden, die restlichen zwei hatten Erich Honecker und Stasi-Mielke bestellt, um in der Schorfheide Zwölfender zu schießen. Den 48 exportierten Westgewehren wäre es auch nicht besser ergangen, denn großspurige Großwildjäger wären damit durch Afrika gerast, um dort oben, auf meinem Kindheitsbaum, Antilopen, Zebras und Elefanten zu schießen. Das ist das Ende der Geschichte. Reine Fantasie.

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