Geburten in Corona-Zeiten:Nachwehen der Pandemie

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Während im März viele über den nahenden Babyboom witzelten, ist zumindest in Japan jetzt schon klar: In Corona-Zeiten trauen sich weniger Menschen, Kinder zu bekommen.

Von Thomas Hahn

Ai Watanabe hat in diesem Jahr schon elf Kinder zur Welt gebracht. Und auch die nächsten Monate sind in ihrem kleinen Entbindungshaus im Tokioter Bezirk Nerima gut gebucht. Vom japanischen Geburtenrückgang hat die Hebamme in der Hauptstadt noch nie viel gespürt. Und in der Pandemie hat sie besonders viel Arbeit. Wer Kinder kriegen will, neigt gerade wieder mehr zur alternativen Niederkunft, mit Tendenz zur Geburt in den eigenen vier Wänden. "Im Krankenhaus können die Mütter ihre Familie nicht mehr sehen", sagt Ai Watanabe. Um der Ausbreitung des Coronavirus vorzubeugen, lassen die Krankenhäuser zurzeit nur Leute rein, die unbedingt reinmüssen. Ai Watanabe kann es recht sein. Wobei ihr egal ist, wo Japanerinnen Kinder zur Welt bringen. Hauptsache sie tun es.

Denn auch ihre Erfahrung kann nicht davon ablenken, dass in Japan viel zu wenige Babys geboren werden. In Japan lag die Fertilitätsrate 2018 bei 1,42 (Vergleich Deutschland im selben Jahr: 1,57); die Fertilitätsrate gibt - vereinfacht gesagt - an, wie viele Kinder eine Frau im Durchschnitt in ihrem ganzen Leben bekommt. Im vergangenen Jahr verzeichnete die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt dann noch einmal knapp sechs Prozent weniger Geburten als im Vorjahr. Nationaler Minusrekord. Dabei hat Japan schon jetzt die älteste Gesellschaft auf Erden mit einem Anteil der Über-65-Jährigen, der stramm auf die 30-Prozent-Marke zusteuert. Zum Vergleich: In Deutschland sind knapp 22 Prozent der Bevölkerung 65 oder älter.

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Wegen der Pandemie steigt der Altersdurchschnitt der japanischen Gesellschaft jetzt wohl noch schneller. Nach Zahlen der Staatsregierung gab es im Mai, Juni und Juli 11,4 Prozent weniger Schwangerschaften als im gleichen Zeitraum des Vorjahres - und gleichzeitig mehr als ein Drittel weniger Trauungen. In Japan werden vor allem eheliche Kinder geboren, deshalb deuten Experten auch das als Vorzeichen für noch geburtenschwächere Jahrgänge. Deprimierende Zahlen.

In Tokio ist die Geburtenrate schon lange stabil

Die Coronavirus-Krise könnte eigentlich eine Chance für mehr Nachwuchs sein. Man soll daheimbleiben, man kann sich näherkommen. Stromausfälle sollen in dieser Hinsicht immer sehr wirksam gewesen sein mit örtlichen Babybooms neun Monate später. Aber eine Pandemie ist eben kein Stromausfall, sondern eine langwierige Ausnahmesituation mit ungewissem Ende und wirtschaftlichen Einbrüchen. Das deutsche Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie hat erst kürzlich gemeldet, die Corona-Krise werde "Narben im demografischen Antlitz der westlichen Nationen hinterlassen". Bei Rezession und steigender Arbeitslosigkeit können sich viele Paare Kinder schlicht nicht mehr leisten. Auch in Deutschland bleibt der anfangs erwartete Babyboom durch die Ausgangsbeschränkungen wohl aus.

In Japan ist es genauso. Takumi Fujinami vom privaten Forschungsunternehmen Japan Research Institute sagt in der Zeitung Asahi Shimbun: Finanzielle Unsicherheit in der jungen Generation sei ein wichtiger Faktor für die fallende Geburtenrate. Die Pandemie bringt eine Zukunftsangst, die Japan dringend vermeiden müsste, um nicht noch schneller zu schrumpfen. Fujinami ist beunruhigt.

Die Hebamme Ai Watanabe wirkt nicht beunruhigt. Sie ist 56, agil, optimistisch, hat selbst drei Kinder geboren. In Tokios ruhigem Bezirk Nerima sieht sie viele junge Familien. Die Geburtenzahlen hier sind seit Jahren stabil. Der Einbruch bei den Schwangerschaften? Nur vorübergehend, hofft sie. "Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Therapien zur künstlichen Befruchtung ausgesetzt wurden." Anfang April empfahl die Japan-Gesellschaft für Reproduktionsmedizin, besagte Therapien aufzuschieben, weil noch nicht geklärt sei, wie das Coronavirus eine Schwangerschaft beeinträchtigen könne.

Zu viel Nähe, zu wenig Sicherheit

Andere Frauen verschoben ihren Kinderwunsch, weil sie Angst hatten, im Krankenhaus Covid-19 zu bekommen. Wieder andere dachten, sich wegen der Stay-Home-Empfehlung nach der Geburt nicht in die Obhut ihres Elternhauses begeben zu können, wie das viele junge Mütter in Japan tun. Ehe man einen Fehler riskiert, macht man lieber nichts - das ist die japanische Schule der Vorbeugung. Wenn die Sicherheit zurückkehrt, gibt es auch wieder mehr Schwangerschaften. Das glaubt Ai Watanabe. Nur wann wird das sein?

Ai Watanabe beobachtet, dass die Pandemie bei glücklichen Paaren durchaus ihr romantisches Potential entfaltete. Bei anderen passierte das Gegenteil. In sozialen Medien beschwerten sich Ehefrauen, weil der Gatte plötzlich den ganzen Tag in der engen Wohnung war. Ein Unternehmen vermarktete Zimmer ausdrücklich als Zuflucht für pandemiegeschädigte Eheleute. In der Krise schienen sich manche eher voneinander zu entfernen als näher zusammenzurücken.

Ai Watanabe will nichts kleinreden. Der ländliche Raum stirbt aus. Fast alle zieht es in die Ballungsräume. Deshalb fällt der Geburtenrückgang in Tokio nicht auf. Ai Watanabe weiß das. Sie stammt aus Asahikawa im fernen Nordjapan. Dort hat sie mal ein Entbindungshaus besucht. "Die hatten wenige Geburten." Sie spricht mit Kolleginnen über das Problem. Aber sie fragt sich auch: "Sollen wir uns wirklich Sorgen machen?" Egal, was die Statistik sagt, sie hat keine Zeit, sich mit Geburten zu befassen, die es nicht gibt. Gut 300 Frauen brauchen ihre Hilfe. "Wir arbeiten für die Mütter und die Kinder, die vor uns stehen", sagt Ai Watanabe. An ihr soll es nicht liegen, dass Japan zu wenig Nachwuchs hat.

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