Technik:Das zugeknopfte Auto

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Überall Knöpfe, Hebel und smarte Kommunikationssysteme: In modernen Auto-Cockpits läuft man Gefahr, sich zu verirren. Ein Hilferuf.

Von Martin Zips

Reden ist wichtig während der Autofahrt, hat Tante Anni immer erklärt. "Das hat mir schon mein Fahrlehrer gesagt." Tante Anni war eine rasante, leidenschaftliche Autofahrerin. Zwischen Noordwijk aan Zee und Bayrischzell war in den 1970er-Jahren keine Straße vor ihr sicher. Und Tante Anni redete viel und gern, während sie am Steuer saß. "Ich muss das trainieren", sagte sie, "gut fürs Gehirn." Tante Anni lebt nicht mehr. Auch ihr orangener VW 1600 dürfte längst verschrottet sein. Pedale, Blinker, Scheibenwischer - Tante Anni war das alles schon in den 1970er-Jahren zu viel. Sie musste ja auf die Straße schauen, während sie fortwährend erzählte.

Was hätte Tante Anni wohl gesagt, wenn ihr Lenkrad noch zusätzlich zehn Knöpfe gehabt hätte? Wenn neben ihrem Tachometer und dem Drehzahlmesser auch noch ein Display aufgeleuchtet wäre, auf dem sie Durchschnittsverbrauch, Reifendruck und entgangene Anrufe hätte abrufen können? Wenn sie, während sie so fröhlich erzählte, in ihrer Mittelkonsole auch noch Navigationssystem und Spotify hätte bedienen können/müssen oder sich während der Reise eine Whatsapp-Nachricht vorlesen lassen?

Dabei, das muss man jetzt gar nicht beschönigen, war der Kampf gegen Ablenkung im Auto schon immer eine Herausforderung. Dieser Tage zum Beispiel legt die englische Nobelfirma Bentley ihren 4,5-Liter-Blower aus dem Jahr 1929 noch einmal auf. Als Sammlerstück für Millionäre, mit nur zwölf Exemplaren; James Bond fuhr so einen, aber nur im Buch. Schaut man sich das Armaturenbrett dieses 90 Jahre alten Gefährts einmal genauer an, blickt man auch da nicht durch. Bald ein Dutzend Messgeräte für Magnetzünder, Öl, Wasser, Benzin, Kompressor, Kühler, Vergaser und fast ebenso viele Knöpfe für was auch immer. Eigentlich gar kein so großer Unterschied zum aktuellen Ledercockpit des Bentley Bentayga, einem schön designten britischen Grabbeltisch mit Kipp- und Wipp-Schaltern, Hebeln und Monitoren. (So ein Bentley hätte Tante Anni übrigens überhaupt nicht interessiert. Sie war überzeugte Kompaktklassefahrerin.)

Der alte Bentley verstand sich auch in dieser Hinsicht als Statement - er war schon damals ein Gefährt für Freunde des Überflusses. Heute allerdings wird selbst, wer sich ganz bewusst ein eher kleines und günstiges Auto kauft, mit allem konfrontiert, was man in so ein Auto einbauen kann, wirklich mit allem. Im Fiat 500 oder dem Mini zum Beispiel gab es einst nicht mehr als zwei Hebel und ein großes Lenkrad. In den aktuellen Modellen läuft der Fahrer permanent Gefahr, Tempomat und Lautstärkeregler, Titelswitcher und Lichthupe zu verwechseln. Ist das jetzt der Knopf für das Gebläse oder doch die Servolenkung? Und wieso schaltet sich der Scheibenwischer eigentlich dauernd an und aus?

Selbst Kleinwagen sind zu aufdringlichen Selbstdarstellern geworden. Natürlich: Trotz steigender Unfallzahlen gibt es immer weniger Tote im Straßenverkehr. 1980 wurden 1,6 Millionen Verkehrsunfälle gezählt, 2018 waren es 2,6 Millionen; 1980 starben 13 041 Menschen bei Unfällen, 2018 noch 3275. Das spricht womöglich nicht nur für Promillegrenze, Tempolimits, Airbags und Gurtpflicht, sondern auch für die Vorteile der Technik. Systeme wie die von einem US-Elektronikkonzern jüngst entwickelte Augenerkennung können der Unfallvermeidung dienlich sein: Entdeckt der Bord-Computer Stress in der Fahrer-Pupille, stellt er die Musik leiser und blockiert eingehende Anrufe.

Es könnte aber auch sein, dass die ganze Elektronik im Innenraum den Stress erst verursacht. Warum, bitteschön, wird jetzt plötzlich die Musik leiser? Welches Icon bei "Carplay" war noch mal für was? Wie beendet man die Nordausrichtung des Navigationssystems? Und wo, verdammt noch mal, ist meine Lieblingsplaylist? Beißt sich da nicht das Smartphone ins eigene Kabel?

Vor Kurzem hat ein großer Versicherungskonzern eine Studie in Auftrag gegeben, die ein Ergebnis erbrachte, über das es nachzudenken lohnt: Die "Ablenkung durch technische Systeme" hat den Alkohol als Unfallgrund überholt.

Sicher, auch Tante Anni war auf dem Weg zum Strand oft abgelenkt. Zum Beispiel vom sehr lauten, sich auf ihrer Plastikrückbank in unfassbarer Hitze prügelnden Familiennachwuchs. Und natürlich kommt es ein bisschen gestrig daher, sich über die ach so schlimme Überflutung durch Technik zu beklagen - nicht wenige Autofahrer schätzen die technischen Systeme, die ihnen ihr Fahrzeug bietet. Die Frage aber, wann es zu viel wird, und ob man beispielsweise "Gestensteuerung", "Holoactive Touch" und "Dashcam" braucht, wenn man am Steuer sitzt, die kommt nicht aus dem Universum der Technik-Skeptiker. Sie ist halt da, wenn man einsteigt, ob man will oder nicht.

Das Armaturenbrett übrigens heißt im englischsprachigen Raum "Dashboard", wie das Brett, das für den Kutscher in der Zeit lange vor Tante Annis Geburt noch eine ganz andere Funktion hatte. Genau genommen nur eine. Es schützte ihn vor dem Mist seiner Pferde.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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