Ausstieg aus der Prostitution:Wenn das Rotlicht erlischt

"Welthurentag": Etwa 400.000 Frauen sollen in Deutschland anschaffen gehen und träumen vom großen Geld. An später denken die wenigsten, doch mit dem Alter kommt oft die Armut. Da hilft auch kein Gesetz.

Johann Osel

Wann genau der Abstieg begann, kann Ingrid nicht mehr sagen. Es war ein schleichender Prozess. Mit Mitte 20 hatte sie, die in Wirklichkeit anders heißt, damit begonnen, ihren Körper zu verkaufen - angelockt durch die vermeintlichen Reichtümer, die eine Bekannte auf dem Strich verdiente. Von Jahr zu Jahr wurden die Einnahmen weniger. Die Gesetze des Strichs sind simpel: Je jünger desto lukrativer. Und umgekehrt. Vor wenigen Jahren war dann für die heute 56-Jährige endgültig Schluss: "Da war nichts mehr los", sagt Ingrid in breitem Bairisch, "auch nervlich ging gar nichts mehr, die Depressionen halt."

prostituierte warten auf freier

Mit Prostitution lässt sich zuweilen gutes Geld verdienen. Wer denkt da an Altersvorsorge?

(Foto: Foto: Reuters)

Ihre Lebensgeschichte erzählt die Frau mit der blonden Lockenmähne und der abgewetzten Lederjacke langsam und leise, sie flüstert beinahe: wie sie zweimal mit einem Messer bedroht wurde und nur knapp dem Tod entging - "sowas bleibt hängen". Wie sie ihren Bekannten und Nachbarn immer wieder vorgaukelte, sie arbeite in einer Gaststätte. Nach dem Ausstieg aus der Szene stand Ingrid vor dem Nichts: keine Rentenversicherung, keine Ersparnisse, keine Perspektive. Sehr vielen Huren geht es im Alter so.

Vor etwa sieben Jahren hat der Bundestag das Prostitutionsgesetz verabschiedet, damals ein Prestigeprojekt der rot-grünen Koalition. Es sollte die rechtliche Stellung von Prostitution als Dienstleistung regeln und den Ruch der Sittenwidrigkeit beseitigen. Das Kernanliegen des Gesetzes aber ist de facto gescheitert: Prostituierten den Zugang zu Sozial- und Rentenversicherungen zu schaffen, im besten Falle gar feste Arbeitsverhältnisse mit einklagbarem Lohn und allen Rechten und Pflichten eines Arbeitnehmers. Statistische Angaben über die Zahl der Prostituierten, die als versicherungspflichtig beschäftigt gemeldet sind, gibt es nicht - die Sozialversicherungsträger führen keine Dateien unter der Kategorie Huren, sondern dokumentieren sie unter einer Sammelbezeichnung.

Eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums stellt allerdings fest, dass nur 0,9 Prozent der befragten Prostituierten einen Arbeitsvertrag haben. Gerade einmal 43,3 Prozent der Befragten, die hauptberuflich anschaffen, verfügen über eine Rentenversicherung oder eine andere Vorsorge. Ob sich die Angaben der Studie auf den gesamten Berufsstand hochrechnen lassen, ist fraglich. Denn wie viele Huren es in Deutschland gibt, weiß niemand so genau, zumal viele Frauen vorübergehend oder gelegentlich anschaffen. Gewagte Schätzungen gehen von bis zu 400.000 Prostituierten bundesweit aus.

Das Geld zerrinnt in den Fingern

Ingrid, die in München fast 30 Jahre "mal hier, mal dort" anschaffen war, hat sich um ihre Altersvorsorge nie Gedanken gemacht. Das Prostitutionsgesetz war zwar noch ganz neu, als sie dem Strich den Rücken gekehrt hat. Eine private Versicherung oder Sparen fürs Alter war aber auch nie ein Thema - "bei uns Mädels auf der Straße hat das keine gemacht". Und das Geld zerrinne einem in den Fingern, Schulden waren abzustottern. Seit dem Absprung aus dem Milieu lebt sie von Hartz IV. Einen Job, sagt Ingrid, könne sie nicht mehr annehmen mit den Depressionen und wenn - sie macht eine kurze Pause, räuspert sich - "würde mir ja sowieso keiner einen geben". In der Zeit vor dem Strich hat sie gekellnert, eine Ausbildung hat sie nicht.

Jeden Dienstag um die Mittagszeit ist Ingrid zu Besuch bei Mimikry, einer sozialen Stelle für aktive und ehemalige Huren in München. Die Beratung der Einrichtung, die in evangelischer Trägerschaft ist und von der Stadt München bezuschusst wird, läuft zwar anonym ab, aber die Frauen legen meist alle Karten auf den Tisch. "Wir wissen über die Vergangenheit der Frauen Bescheid. Sie können uns vertrauen", sagen Carmen Jörg, die Leiterin der Einrichtung, und Ingrids Betreuerin Sabine Skutella. Mimikry bietet nicht nur Beratung bei der Lebensplanung, sondern auch Hilfe bei Behörden sowie Lebensmittelspenden der Tafel. Ingrid ist auf die wöchentlichen Essenspakete angewiesen. "Das Hartz IV reicht hinten und vorne nicht", sagt sie und nimmt gerne mit, was da ist. An diesem Tag sind es unter anderem Brot, Würstchen, Suppe und Blumenkohl.

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Fehlendes Denken an die Zukunft

Knapp 900 Beratungskontakte im Jahr registriert die Einrichtung, manchmal nur eine Frage, schüchtern am Telefon gestellt. Da sind Migrantinnen, die sich kaum verständigen können. Es sind Frauen mit psychischen Erkrankungen darunter, es geht um HIV-Infektionen, Alkoholismus und Obdachlosigkeit. Und immer wieder um das gleiche Problem: fehlendes Denken an die Zukunft. Es gibt durchaus Prostituierte, die etwa durch eine Eigentumswohnung oder eine Lebensversicherung vorsorgen. Meist sind das Edelhuren oder Dominas, die "empfohlen" werden und sich die Freier quasi selbst aussuchen. "Je professioneller die Berufsausübung, desto gezielter wird vorgesorgt", sagt Carmen Jörg.

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Dirnen, Drogen, Dreharbeiten: Retrospektive auf das älteste Gewerbe und ihre Gesichter.

(Foto: Foto: dpa)

Der Regelfall sei das nicht. Viele junge Frauen würden, wenn das Geschäft gut läuft, "sehr konsumorientiert leben". Die Arbeit auf dem Strich geht körperlich und seelisch an die Substanz, als Entschädigung dafür wollten viele zumindest ein gutes Leben führen. "Teurer Schmuck, Kleidung, Autos, Urlaube", zählt Jörg auf. Wenn die goldenen Zeiten vorbei sind, ist meist nichts mehr übrig - außer die tiefen Spuren des Jobs, Armut oder Krankheiten.

Jörg und Skutella halten die Intention des Prostituiertengesetzes für gelungen, es habe den Strich aus der Sittenwidrigkeit und damit aus der Tabuisierung herausgeholt. Die Erwartungen der Politik seien aber zu hoch gewesen. "Da gibt es kein Hopp oder Topp von heute auf morgen", meint Jörg. Viele Huren wollten für ihre Arbeit gar keinen offiziellen Charakter, sie befürchteten weniger Selbständigkeit und den Verlust der Anonymität. Und kaum ein Bordellbetreiber wünsche sich wohl eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wenn die Sexarbeiterinnen nichts für ihn einbringen. Arbeitsverträge bedeuten mehr Kosten und Pflichten. Das sind auch Gründe, warum das Gesetz kein Renner wurde.

Hilfe für den Ausstieg

Auch bei der Bundesregierung weiß man nicht so recht Rat. "Hinsichtlich des Zugangs zur gesetzlichen Sozialversicherung und der Möglichkeiten der freiwilligen Absicherung sind Prostituierte rechtlich gegenüber anderen Arbeitnehmerinnen nicht mehr benachteiligt", heißt es in der Studie des Familienministeriums. Insoweit bestehe "kein weiterer gesetzgeberischer Handlungsbedarf", wohl aber für Verbesserungen. Zunächst müsse die Regierung, so heißt es, "politischen Willen" zeigen, ob man die Ziele überhaupt weiter realisieren wolle.

Zumindest ein Anfang ist in Sicht: Im Familienministerium wird derzeit an einem Modellprojekt gebastelt, das Huren beim Ausstieg unterstützen und dann in den Arbeitsmarkt bringen soll. An drei bis vier Standorten bundesweit sollen Programme zur Qualifizierung angeboten werden. Bis jetzt existiert das alles nur auf dem Papier, Ende März war Schluss mit der ersten Bewerbungsphase, in der Projektskizzen dafür beim Ministerium eingereicht werden konnten.

Für die Münchnerin Ingrid dürfte dies alles ohnehin zu spät sein. "Na klar", sagt sie, "würde ich die Zeit gerne zurückdrehen." Ihr fallen viele Fehler ein, wenn sie über ihre Zeit auf dem Strich nachdenkt. "Ich hab da halt als junges Mädel falsch gedacht." Von ihrer Betreuerin Sabine Skutella verabschiedet sie sich am Ende mit einer Umarmung. Man müsse die Schicksale der Frauen "stets professionell behandeln", hatte Skutella zuvor gesagt, und dennoch sieht die Szene ein wenig so aus, als würden sich zwei Freundinnen nach einem Plausch verabschieden. Mit Brot und Blumenkohl im Gepäck macht sich Ingrid auf den Nachhauseweg. Nächsten Dienstag um die Mittagszeit wird sie wiederkommen.

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