Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Kindesmisshandlung mit Pommes

Eltern, die ihre Kinder verfetten lassen, sind nicht besser als Eltern, die ihre Kinder hungern lassen.

Edmund Fröhlich

Mit einem nationalen Aktionsplan will die Bundesregierung gegen die Fettsucht in Deutschland vorgehen. Mit Appellen sollen die Bürger zur gesünderen Ernährung und mehr Bewegung ermuntert werden. Die Lebensmittelkennzeichnung soll verständlicher und das Essen in Kantinen soll ausgewogener werden.

Dies alles ist gut und schön, greift aber viel zu kurz: Information und Aufklärung sowie eine bessere Vorsorge können allenfalls ein Anfang sein. Sie reichen aber nicht aus, um die Fettsucht-Epidemie in den Griff zu bekommen. Bereits heute haben zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland Übergewicht. 800000 von ihnen müssen als fettleibig bezeichnet werden.

Also sollten die Politiker keine Appelle, sondern Vorschriften erlassen. Auf anderen Gebieten tun sie das ja auch. In den Kindergärten gibt es bereits die musikalische Früherziehung; nun ist es an der Zeit, dass auch die gesundheitliche Früherziehung hinzukommt.

Gesundheitskunde als Pflichtfach

In der Schule muss Gesundheitskunde ein Pflichtfach werden, und alle zwei Jahre muss jedes Kind vom Schularzt untersucht werden. Und wenn man eine Mathematikstunde zugunsten einer Sportstunde streichen würde, wären die Kinder auf Dauer wahrscheinlich nicht nur fitter, sondern auch schlauer.

Weil die heutigen Jugendlichen zu viel Zeit vor dem Fernseher, dem Computer und der Spielekonsole verbringen, bewegen sie sich immer weniger. Gleichzeitig ernähren sich viele ungesund und einseitig: von Cola und Hamburgern anstatt von Gemüse und Obst.

Wir erleben in unserer Klinik Kinder, die, wenn man sie mit verbundenen Augen an einen aufgeschnittenen Apfel riechen lässt, eher an Apfelshampoo denken als an das Obst. Die wenigsten haben schon mal einen leckeren Salat oder eine fettarme Pizza selbst gemacht.

Es wächst in unseren westlichen Gesellschaften mittlerweile eine Generation heran, in der viele Menschen wieder eher sterben werden als Angehörige früherer Generationen - aber nicht an Hunger (wie früher oder in anderen Teilen der Welt), sondern an jenen Krankheiten, die sie sich mit Pommes und Chips vor dem Computer heranzüchten.

Wir leben in einer Zeit, in der schon Kinder und Jugendliche unter Alterszucker leiden. Mit dem erhobenen Zeigefinger oder mit Drohungen wie: ,,Wenn du jetzt nicht gesund isst, wirst du in dreißig Jahren krank werden'', kommt man aber erfahrungsgemäß bei jungen Leuten nicht weit.

Und einem Mädchen, das mit 16 Jahren 100 Kilogramm wiegt, ist mit dem Tipp ,,mach' doch ein wenig Sport'' auch überhaupt nicht geholfen. Sie braucht Hilfe von Fachärzten und Therapeuten - nicht nur, um wieder gesund zu werden, sondern auch, um sich nicht aller Lebenschancen zu berauben: Jugendliche wie sie haben fast keine Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Kein Wunder - wer stellt schon jemanden ein, von dem man annehmen muss, dass er häufiger krank sein wird.

Die Fettsucht wird epidemische Ausmaße annehmen

Es handelt sich um ein Problem der gesamten Gesellschaft. Wenn bereits heute mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland Übergewicht haben, dann sind dies ja zu einem beträchtlichen Teil Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend noch Normalgewicht hatten.

Wie viel Prozent aller Erwachsenen werden also übergewichtig sein, wenn die dicken Kinder von heute erst einmal 40 oder 50 Jahre alt sind? Leider sind Kinder aus sozial schwachen Familien von Fettsucht besonders stark betroffen.

Unsere langjährigen Erfahrungen aus der Klinik führen mich zu der Schlussfolgerung: Dieses Krankheitsphänomen wird epidemische Ausmaße annehmen - wenn nicht massiv dagegen vorgegangen wird. ,,Als Letzter gewählt, als Erster ausgeschieden und dann auch noch ausgelacht und verspottet'', so fasste unser Sporttherapeut einmal den Alltag dicker Schüler beim Sport in der Schule zusammen. Diese Kinder leiden unendlich.

Der Punkt, an dem das Strafrecht ins Spiel kommt

Es muss die Frage gestellt werden, ob Eltern, die ihre Kinder in eine solche Lage bringen, sich nicht der unterlassenen Hilfestellung, der Vernachlässigung oder gar der Kindesmisshandlung schuldig machen. Es wäre dies tatsächlich der Punkt, an dem das Strafrecht ins Spiel käme.

Diesen Gedanken mag man mit Empörung zurückweisen. Denn wer wünscht schon eine Einmischung ins Privatleben? Gurtpflicht, Rauchverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen - alles bereits staatliche Verfügungen, die schwer durchsetzbar sind. Ob das gerade im Fall von Kindern und Jugendlichen anders sein wird?

Wenn ein Jugendlicher einen Amoklauf begeht oder wenn ein Fall enthüllt wird, in dem Eltern ihre Kinder an die Heizung binden, schlagen, verhungern lassen oder töten, wird jeweils schnell recherchiert, ob das Jugendamt nicht doch schon einen Hinweis von Nachbarn oder der Schule bekommen hatte, rasch wünscht man sich dann den ,,Eingreifer-Staat''.

Vernachlässigung und unterlassene Hilfeleistung sind Straftatsbestände

Umso mehr, wenn seitens des Amts schon erwogen worden war, das Sorgerecht zu entziehen, das Kind dann aber doch bei der gewalttätigen Mutter verblieb. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, in denen hätte man das Kind vielleicht doch lieber bei den Eltern belassen sollen.

Ein fürchterlich komplexes Gebiet - und trotzdem: Wenn Eltern ihr fettsüchtiges Kind trotz kinderärztlicher Hinweise oder Ansprache von Lehrern und Ärzten des schulmedizinischen Dienstes nicht kompetent behandeln lassen, ist dies - je nach Schweregrad und Uneinsichtigkeit - eine Form von ,,Vernachlässigung'' oder ,,unterlassener Hilfeleistung''. Und damit ein Straftatbestand.

,,Nicht kompetent behandeln lassen'' heißt, dass die Hinzuziehung weiterer Therapeuten abgelehnt oder eine Rehabilitation verweigert wird. Der Kinderarzt muss in diesem Fall die Möglichkeit haben, Strafanzeige zu stellen.

Die Verletzungen sind äußerlich nicht zu erkennen

Als Kindesmisshandlung sollte das Verhalten der Eltern dann definiert werden, wenn sie mehr als untätig zuschauen. Wenn zu Hause bewusst fett gekocht wird, weil man sich ,,von einem Arzt keine Vorschriften machen lassen will'', ,,weil wir besser wissen, was gut für das Kind ist''.

Die Verletzungen, die solche Eltern ihren Kindern zufügen, sind nicht durch Blutergüsse ersichtlich, auch nicht durch gebrochene Knochen. Aber die Schädigung der Gesundheit kann so nachhaltig sein, dass sie zu einem früheren Tod führt, auf jeden Fall aber zu einer Reihe von Krankheiten.

Sagen wir es so, wie es ist: Es handelt sich dabei um eine besonders perfide Art der Misshandlung. Von Eltern, die ihre Kinder grün und blau schlagen, unterscheiden sich diese Eltern nur in einem: Sie sind sich ihrer Untaten gar nicht bewusst.

(SZ vom 12.5.07)

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Edmund Fröhlich ist Geschäftsführer der Spessart-Klinik in Bad Orb, zu deren Schwerpunkt die Behandlung von Übergewicht und Fettsucht gehört.
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