Auschwitz-Zeichnungen:Mengeles Malerin

Im KZ musste die Jüdin Dina Babbitt für den SS-Arzt Todgeweihte portraitieren - sie malte in der Hölle und streitet nun mit dem Museum um die Rückgabe der Werke.

Reymer Klüver

Santa Cruz, im Januar - Der Teufel hat ihr das Leben geschenkt. Kekse hat er ihr gebracht und ein paar Tanzschritte getänzelt. Er hat sie geradezu umschmeichelt, umworben, ihr, der Künstlerin, Farben, Pinsel und Staffelei beschafft, auf dass sie Todgeweihte male und die Bilder sogar signiere. Mit ihrer Nummer, hatte sie gefragt. Nein, nein, sagte des Todes Meister da, ruhig mit ihrem Namen solle sie zeichnen.

Auschwitz-Zeichnungen: Dina Babbitt  mit Reproduktionen der Porträts, die sie in Auschwitz anfertige.

Dina Babbitt mit Reproduktionen der Porträts, die sie in Auschwitz anfertige.

(Foto: Foto: Reymer Klüver)

Und so kam es, dass Häftling 61016 neun Portraits von stiller Größe tuschte und mit "Dina" signierte. Bilder von Sinti und Roma, die aus ganz Europa verschleppt worden waren und in Auschwitz-Birkenau sterben sollten. Das war 1944, und ihr Auftraggeber war niemand anderes als der gefürchtete Mordarzt Josef Mengele.

Dina Gottliebova, selbst jüdischer Herkunft aus Brünn, malte um ihr Leben. Die anderen ihres Transports starben in der Gaskammer. Sie aber kam davon dank ihrer Kunst. Heute ist sie 83 Jahre alt, heißt Dina Babbitt, lebt in den Bergen Kaliforniens und hat nur noch einen Wunsch: Sie will diese Bilder zurück. Ihre Bilder.

Denn sieben der neun Tuschzeichnungen haben die Zeiten überdauert. Sie befinden sich im Besitz des Museums Auschwitz, sechs davon sind ständig in den Ausstellungsräumen zu sehen. Und das macht aus dem simplen, verständlichen Wunsch einer Künstlerin, Bilder zurückzuerhalten, die man ihr einst abpresste, eine internationale Prinzipienfrage, in die außer dem Museum in Auschwitz mittlerweile das Außenministerium und der Kongress in Washington verwickelt sind und Polens Regierung, der Internationale Auschwitzrat, das American Jewish Committee und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie Hunderte von Künstlern und Graphikern in ganz Amerika.

Schneewittchen in Block B

Es ist eine einfache, allerdings nicht ganz einfach zu beantwortende Frage: Können die Bilder, an denen Dina Babbitt unzweifelhaft die Urheberrechte hat, gleichwohl auf alle Zeiten ihrem Zugriff entzogen sein, einfach, weil sie Erbe der Menschheit geworden sind?

Das Museum in Auschwitz jedenfalls weigert sich, sie herzugeben. Mit dem Hinweis, dass, wenn es einen Ort gebe, an dem sie am richtigen Platz seien, dann an der Stätte des Massenmords. Der Sache haftet tatsächlich eine feine, traurige Ironie an. Mengele gab diese kleinen Portraits einst in Auftrag, um die angebliche rassische Minderwertigkeit ihrer Sujets zu beweisen. Heute verleihen gerade sie den Ermordeten eine eigene Würde. Und die könnte ihnen nur ein Umstand nehmen: Wenn niemand die Bilder mehr betrachten dürfte.

Man kann die Angelegenheit aber auch anders sehen, aus der Sicht der Künstlerin: Setzt das Auschwitzmuseum im Namen eines höheren Rechts nicht das Unrecht fort, das Dina Babbitt einst in Zeiten der Rechtlosigkeit widerfahren ist? Dass nämlich nicht sie über ihre Bilder verfügen kann, sondern andere darüber bestimmen?

Eine einspurige Serpentinenstraße führt zu Dina Babbitts Holzhaus in den Redwoods empor, den regenfeuchten Wäldern in den Bergen von Santa Cruz, zwei Autostunden südlich von San Francisco. Seit 20 Jahren lebt sie hier, ein Bach, der Zayante Creek, rauscht unter dem Dach der Mammutbäume direkt am Haus vorbei. Nur Penelope, ein Kurzhaar-Dackel, ist immer bei ihr.

Mit dem Auto fährt sie regelmäßig hinunter in die Stadt, 20 Minuten. Seit einem Jahr sagt sie sich, dass sie eigentlich umziehen sollte, weil der Rettungswagen so lange brauchte. Damals hatte sie einen Herzinfarkt. Aber sie hat sich erholt. Mit einem großen Schwung öffnet sie die weiße Holztür. Sorgfältig frisiert sind die rot-blonden Haare, eindrucksvoll die schweren Messing-Ohrclips und kräftig der Lippenstift. Am auffälligsten aber an der kleinen Frau im schwarzen Rollkragenpulli sind die Augen: große, stahlblaue Augen, mit denen sie noch in der Tür den Besucher prüft.

Mengeles Malerin

Bald erzählt sie. Aus ihrem langen Leben und von ihren Bildern. Und auf einmal ist Auschwitz präsent im kalifornischen Bergidyll, ein Zeitalter danach und eine Welt entfernt. Die Namen. Die Angst, die Todesangst. Das Groteske, das Komische im Grauen.

Sie spricht Englisch, aber deklamiert ein traurig-schönes Gedicht eines Mithäftlings in makellosem Deutsch, mit leicht böhmischem Akzent. Von Fredy Hirsch erzählt sie, einem deutschen Juden, der die Kinderbaracke im Block BIIb leitete und sich später umbrachte, um nicht zu erleben, wie die Kinder in die Gaskammer getrieben wurden. Er wusste, dass sie Kunst studiert hatte, und bat sie, ein Bild für die Kinderbaracke zu malen.

Und so zauberte sie einen weißen Berg an die graue Wand und eine grüne Wiese und ein wunderschönes Schneewittchen und sieben bunte Zwerge, so wie sie es vor dem Krieg gesehen hatte in Brünn, im Kino, als Disneys "Snow White" in Farbe gezeigt wurde und sie fasziniert mehrmals hintereinander die bewegten Bilder bestaunte. So wurde im Lager bekannt, dass sie malen konnte.

Vom gefürchtet sadistischen SS-Mann Fritz Buntrock erzählt Dina Babbitt, der später gehenkt wurde. Er wollte von ihr die Vergrößerung des Miniaturaktes einer Schönheit mit roten Schamhaaren. Gegen Zigaretten. Die tauschte sie wiederum gegen Brot. Buntrock kam später noch mal, weil das Bild ein Loch hatte - an der Stelle der Schamhaare.

Und Franz Lucas schildert sie, der als Lagerarzt auf der Rampe stand und doch später bis in die achtziger Jahre hinein als Landarzt in Holstein praktizieren durfte. Er brachte sie damals zu Mengele ins E-Lager, ins sogenannte Zigeunerlager, hielt ihr sogar den Wagenschlag auf: "Ich dachte, er macht sich über mich lustig und ich würde nie wieder zurückkommen."

Der Mörder sitzt Modell

Und dann Mengele. "Von allen Menschen in Auschwitz", sagt Dina Babbitt, "war er der am wenigsten bemerkenswerte." Da ist nicht einmal Verachtung zu spüren, sie stellt es einfach fest. Er machte gerade Fotos von Sinti und Roma und fragte sie, ob sie in gemalten Portraits den Farbton ihrer Haut "sehr akkurat" treffen könne. Das war seine Wortwahl, Dina Babbitt erinnert es genau.

Den Haaransatz der Portraitierten müsse sie präzise wiedergeben, die Kontur der Ohren, des Mundes, alles vorgebliche Kennzeichen einer nicht-arischen Herkunft.

Der Todesarzt war zufrieden mit seiner Künstlerin. Sie durfte leben, und weil sie den Mut hatte zu sagen, dass sie nicht ohne ihre Mutter bleiben wolle, setzte er auch die auf die Liste. Mengele saß Dina Babbitt sogar selbst Modell für eine Portraitzeichnung. Das Bild ist nicht wieder aufgetaucht. "Ich habe nie mehr so tote Augen gesehen", sagt sie am Küchentisch in Santa Cruz.

Es war bei dieser Gelegenheit, dass Mengele ihr Gebäck mitbrachte und einen Freudentanz aufführte in der Todesfabrik, weil sein Sohn Rolf geboren worden war. Mengele ist ihr geblieben, in ihren Träumen. Auf den Treppen ihrer alten Schule in Brünn tritt er ihr regelmäßig in den Weg und feixt, dass sie ihm nicht entkommen werde, diesmal nicht.

Doch Dina Babbitt hat ihr Leben gelebt. Nicht eine Sekunde werde sie mehr verlieren, das hatte sie sich geschworen, als sie am 5. Mai 1945 in Neustadt-Glewe im Mecklenburgischen freikam. Sie ging nach Paris, um Kunst zu studieren, und nahm, damit sie und ihr Cockerspaniel Remus nicht verhungerten, eine Stellung als Assistentin bei einem Trickfilmzeichner namens Art Babbitt an, einem Amerikaner aus Hollywood. Das war ausgerechnet der Mann, der als Filmanimateur Disneys Schneewittchen (und die sieben Zwerge) zum Leben erweckt hatte.

"Glauben Sie an Zufälle?", fragt Dina Babbitt nun unvermittelt im Erzählen und richtet ihre Augen auf ihr Gegenüber, als könne sie bis in dessen Gedanken schauen. Eine Antwort erwartet sie nicht. "Das war Bestimmung."

Nun ja, sie hat ein bisschen nachgeholfen. Ob sie so etwas schon mal gemacht habe, Trickfilmzeichnung, hatte er die attraktive junge Frau gefragt. Und sie hatte glatt ja gesagt, ohne allerdings zu erwähnen, dass das nur an der Wand der Kinderbaracke in Auschwitz war.

Erst vor ein paar Wochen hat sie die Szene nachgemalt, an der Staffelei in ihrem Häuschen am Zayante Creek. Schneewittchen auf der grünen Wiese, so wie sie es erinnert. Damals hatte sie zunächst nur den Blick aus dem Fenster eines Chalets in den Bergen gemalt, mit der Balustrade vorne und dem Schneegipfel hinten und der Tanne und den bunten Blumen dazwischen und dem strahlend blauen Himmel darüber. Sie fragte die Kinder, ob ihnen noch etwas fehle. Und da hatten sie Schneewittchen gesagt. Die sterben sollte und doch leben durfte.

Mengeles Malerin

Mit Babbitt ging sie nach Amerika. Die beiden Töchter kamen, sie arbeitete als Trickfilmanimateurin. Cap"n Crunch, Wile E. Coyote und Speedy Gonzalez zeichnete sie für die Trickfilmstudios, sie, die im Auftrag Mengeles das in Formaldehyd eingelegte Herz eines Häftlings hatte malen müssen, den sie noch am Morgen lebend gesehen hatte. Wohnte in einem Haus mit Swimming Pool direkt über dem Hollywood Bowl, auf dessen Bühne sie von ihrer Terrasse aus schauen konnte und einen Auftritt der Beatles erlebte.

Viel später, nach der Trennung von Babbitt, zog sie in das Holzhäuschen am Zayante Creek, das ein bisschen an Schneewittchens Chalet erinnert mit dem Blick auf die mächtigen Redwoods und die Gipfel der Santa Cruz Mountains. Und wenn ihr danach ist, geht sie in den Wald hinter ihrem Haus, an einen der Jahrhunderte alten Baumriesen und fühlt sich mit all denen verbunden, die ihr einmal nahe waren, in Auschwitz und in den Jahren, die ihr danach vergönnt waren.

Wie viele Überlebende hatte sie versucht, Auschwitz aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Den Töchtern, Teenager damals, hatte sie nie etwas erzählt. Dann kam 1973 der Brief. Ein Brief aus Auschwitz. Darin unterrichtete sie das Museum, dass man ihre Bilder habe. "Ich fuhr hin, um sie zu holen", erzählt sie "und als ich meine Bilder einstecken wollte, sagten sie nein." Überwacht worden sei sie damals in Polen. "Ich habe nicht gewagt, eine Szene zu machen." Es war schließlich Auschwitz.

Sie wollte einen Anwalt einschalten. Doch der verlangte für den Anfang 5000 Dollar. Die hatte sie nicht. Der damalige Museumskustos schrieb ihr in einem bösen Brief, dass nicht sie, allenfalls Mengele als Auftraggeber Eigentumsrechte für die Bilder geltend machen könne. Es waren die Jahre des Kalten Kriegs. Später, 1997, nach der Wende, fuhr sie noch einmal nach Auschwitz, mit einem Fernsehteam von NBC. Aber wieder verweigerte man ihr die Bilder.

Sie fand viel Unterstützung. Angesehene Senatoren verwendeten sich ebenso für sie wie der spätere US-Botschafter in Berlin, Dan Coats, und der damalige amerikanische UN-Botschafter Bill Richardson. Der Kongress verabschiedete Resolutionen zu ihren Gunsten. 450 Künstler, unter ihnen der berühmte Cartoonist Art Spiegelman, selbst Sohn von Auschwitz-Überlebenden, unterzeichneten erst im September eine Petition ans Auschwitzmuseum, in der sie die Herausgabe der Originale forderten. Und im Oktober hat der Holocaust-Beauftragte des State Department ihre Sache in Warschau erneut zur Sprache gebracht. Ohne Erfolg. Bislang.

Ein Erbe der Menschheit?

Es ist eine verfahrene Situation. Denn das Museum, das sechs der Bilder einer polnisch-ungarischen Überlebenden abkaufte und auch für das siebte bezahlte, pocht aufs Prinzip. "Bei Licht betrachtet", heißt es in einer offiziellen Erklärung des Museums vom Oktober, "ist das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau rechtmäßiger Besitzer der sieben Zigeuner-Portraits."

Und dann wird eine "theoretische Frage" gestellt. Was würde passieren, wenn auf einmal die Nachfahren von Jan Liwacz Rechte geltend machen würden, der das Eingangstor nach Auschwitz mit dem höhnischen "Arbeit macht frei" schmieden musste?

So ganz theoretisch ist die Frage nicht. In Frankreich meldete ein Mann Eigentumsrechte an, nachdem er den Koffer seines Vaters in einer Holocaust-Ausstellung entdeckt hatte. "Der Verlust eines einzigen Teils aus diesem tragischen Erbe der Menschheit wäre ein fürchterlicher Verlust für all diejenigen, die hierher kommen, um der Opfer zu gedenken", heißt es im Schreiben des Museums.

Es findet dafür Unterstützung, etwa vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Dessen Vorsitzender Romani Rose warnt vor dem Präzedenzfall. "Da würden wir Geschichte auflösen. Diese Bilder gehören an den Ort, wo die Barbarei geschehen ist", sagt er. "Die Opfer haben größere Rechte an den Bildern als Frau Gottliebova."

Ähnlich formuliert der Vorsitzende des Internationalen Auschwitzrates, Polens ehemaliger Außenminister Wladyslaw Bartoszewski: "Wir werden in keiner Weise zulassen, dass das Erbe der Menschheit in aller Welt verstreut wird." Doch deutet der alte Mann einen Kompromiss an. Er könne nicht für den polnischen Staat sprechen, sagt er, aber vielleicht wäre es akzeptabel, einen Teil der Bilder zurückzugeben. "Wir würden die Dame gerne einladen."

Auch Rabbi Andrew Baker vom American Jewish Committee, seit Jahren in der Sache engagiert und ebenfalls Mitglied im Auschwitzrat, glaubt nicht, dass es einen Präzedenzfall schaffen würde, wenn das Museum "wenigstens ein Bild" zurückgäbe - und die anderen Bilder mit einer Videoaufzeichnung von Babbitts Lebensbericht präsentierte.

Dina Babbitt weiß von all dem nichts. Vielleicht will sie auch nur nichts davon wissen. "Wenn es diese Bilder nicht gäbe, wäre ich nicht am Leben", sagt sie, "meine Mutter wäre nicht 82 Jahre alt geworden, und es gäbe meine beiden Töchter nicht und meine drei Enkelkinder." Dass das Museum sich ihren Forderungen überhaupt verweigern kann, will ihr nicht in den Sinn. "Wenn Sie etwas finden und Sie wissen, wem es gehört, geben Sie die Sache doch zurück, oder?", fragt sie. Und schaut einen mit funkelnden, blauen Augen an, sieht nach, ob ihre Worte auch tief genug eindringen.

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