#Aufschrei:Wie ein Hashtag die Sexismus-Debatte verändern kann

Lesezeit: 3 Min.

Sexismus in der Piratenpartei, Sexismus in der FDP: Die Debatte der vergangenen Tage beschränkte sich vor allem auf zwei Einzelfälle. Das könnte sich jetzt ändern, auch dank Anne Wizorek und ihrem Hashtag #aufschrei.

Von Lena Jakat

Er verfolgte mich auf dem Heimweg. Er griff mir zwischen die Beine. Er setzte sich im leeren Bus ausgerechnet neben mich. Zu Tausenden sind solche Erlebnisse seit vergangener Nacht auf Twitter zu lesen. Unter dem Hashtag #aufschrei rauschen diese Sexismus-Zeugnisse nur so durch die Timeline.

Auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, tagsüber im Büro und abends im Club: Überall in Deutschland werden Menschen Tag für Tag Opfer von sexuellen Übergriffen. #aufschrei bietet ihnen eine gemeinsame Öffentlichkeit. Die Aktion schließt um all die Episoden eine gemeinsame Klammer, sorgt für Aufmerksamkeit, die jedem einzelnen dieser Opfer - außer sie stehen selbst in der Öffentlichkeit und verfügen über einen privilegierten Zugang zu den Medien - sonst wohl verwehrt geblieben wäre.

Die Aktion geht auf den Blog Kleinerdrei zurück. Dort erschien am Donnerstagmorgen ein Post über die Kampage Everyday Sexism, die als Folge verbaler und tätlicher Übergriffe in der Silvesternacht entstand und seit Anfang Januar Berichte und Erfahrungen zu alltäglichem Sexismus in Großbritannien sammelt. Der Hashtag der Aktivisten auf der Insel: #shoutingback. Binnen fünf Tagen teilten mehr als 3500 Menschen so auf Twitter ihre Erlebnisse.

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Die Initiatorin Laura Bates berichtet im Frauenblog des Guardian von einer 26-jährigen Marketingangestellten, die in der Nacht zum 1. Januar von einem Mann bedrängt wurde. Er ignorierte ihre Gegenwehr, zwang sie mit einem Messer gegen die Wand - und befriedigte sich selbst in ihrem Rücken. Als die Frau zur Polizei ging, lautete der Kommentar des Beamten: "Eigentlich würde ich dir raten, nachts nicht alleine herumzulaufen, aber naja, es ist Silvester. Du musst ja irgendwie nach Hause kommen."

"Was hält uns davon ab, dort mitzumachen?", heißt es im Kleinerdrei-Post. "Ebenso denkbar wäre es, einen deutschen Hashtag ins Leben zu rufen." Am frühen Freitagmorgen das Update: "Mittlerweile gibt es einen deutschen Hashtag!". #aufschrei ist geboren.

"Wir haben an den Diskussionen über den Blogpost gemerkt, dass Redebedarf da ist", sagt Anne Wizorek zu Süddeutsche.de. Die Social-Media-Beraterin und Mitbegründerin von Kleinerdrei war es, die #aufschrei als Sammelbegriff vorschlug. Sie orientierte sich dabei an dem englischen Vorbild und an ähnlichen Aktionen in Skandinavien. Als sie an diesem Freitag aufstand, sei "die Sache förmlich explodiert", so Wizorek. "Das ist toll, denn diese Debatte ist in Deutschland längst überfällig." Die Aktion, sagt die 31-jährige Berlinerin, sei "ein starkes Mittel, auch um Männer zu sensibilisieren. Damit sie selbst nicht übergriffig werden oder eingreifen, wenn sie etwas mitbekommen."

In den USA nutzen Frauen (Denn obwohl es auch Männer gibt, die Opfer von Sexismus werden, sind es überwiegend Frauen, die sich Übergriffen ausgesetzt sehen) die Möglichkeit, dank Social Media mit einer Stimme zu sprechen, schon seit 2008. Seitdem gibt es die Seite Stop Street Harassment. Dort werden auch Tipps gesammelt, wie man in Situationen sexueller Zudringlichkeit reagieren soll.

Eine Partnerorganisation gegen sexuelle Belästigung aus dem kanadischen Toronto hat sogar eine Smartphone-App entwickelt. " Not your Babe!" generiert je nachdem an welchem Ort und von welcher Person man sich bedrängt sieht, Ratschläge und hat so angeblich immer die passende Antwort parat. Auch auf der Berliner Seite hollaback! wehren sich Opfer von Alltagssexismus und geben sich gegenseitig Tipps.

Dass in Deutschland einer Anti-Sexismus-Initiative genau jetzt so große Aufmerksamkeit zuteil wird, liegt auch an zwei aufsehenerregenden Artikeln: An dem Essay, mit dem sich Spiegel-Online-Autorin Annett Meiritz gegen sexistische Gerüchte aus der Piratenpartei wehrte, und an dem im Stern erschienen Porträt des FDP-Fraktionschefs Rainer Brüderle von der Journalistin Laura Himmelreich.

"Solche Menschen, die den Mut haben, den Mund aufzumachen, sind wichtig, um die Debatte loszutreten, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren", sagt #aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek. "Ich hoffe sehr, dass daraus nun eine gesellschaftsweite Diskussion wird. Alltagssexismus ist schließlich etwas, das jeder erfährt, das wir alle jeden Tag erdulden müssen und das jeden Tag heruntergespielt wird."

Mit Aktionen wie #aufschrei kann es gelingen, für diese alltäglichen Vorfälle eine Öffentlichkeit zu schaffen. Denn eines der größten Probleme sexueller Belästigung, so Holly Kearl, Gründerin der US-Organisation Stop Street Harrassment, ist, "dass sie oft ein unsichtbares Problem ist oder dass sie als Witz, Kompliment oder als Schuld der belästigten Person dargestellt wird."

Genau diesen Argumenten sieht sich in der Diskussion über ihren Text auch Laura Himmelreich ausgesetzt. Das Blog Frau Dingens hat die Reaktionen auf ihren Text in drei Gruppen klassifiziert: "Das Opfer beschuldigen", "Ablenkung", und "der Täter als Opfer". Nicht nur die Kritik an dem Stern-Text, auch die ablehnenden oder zumindest relativierenden Reaktionen auf #aufschrei lassen sich in die Typologie einordnen. Denn während die überwiegende Mehrheit der Männer auf Twitter schockiert oder sogar beschämt reagiert und die Aktion begrüßt, sind dort auch andere Reaktionen zu finden:

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Vergewaltigungsopfer haben bereits im Sommer unter dem Hashtag #ichhabenichtangezeigt ihre Erlebnisse geschildert. In sechs Wochen sammelten die Initiatorinnen mehr als 1000 Statements. Die inzwischen vorliegende wissenschaftliche Auswertung dieser Berichte liefert wertvolle Einblicke in die Hintergründe sexueller Gewalt.

Wie dieser Initiative kann es auch #aufschrei gelingen, aus der Medien- und Politikdebatte eine gesamtgesellschaftliche zu machen, die weit über 140 Zeichen hinaus reicht.

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