Aufklärung heute:Wenn man Liebe nicht lernt

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Porno-Filme statt Aufklärungsunterricht: Die Jugend wird in die Welt des Sex katapultiert und nicht mehr behutsam an sie herangeführt.

Cathrin Kahlweit

Es ist ein tröstlicher, ein schöner Satz, den Volkmar Sigusch da sagt: "Liebe ist der Wert, der alles bestimmt." Außerordentlich gesittet gehe es im Sexualleben der meisten deutschen Jugendlichen zu, betont der renommierte Sexualforscher aus Frankfurt, Treue stehe hoch im Kurs. Sigusch reagiert damit auf Schlagzeilen der vergangenen Tage, die ein anderes Bild des Sexuallebens von Jugendlichen zeichnen: "Der gefühllose Sex unserer Kinder: immer jünger, immer wilder, immer heftiger", titelte die Münchner Boulevardzeitung tz. Und Bild: "Sexalarm- viele Kinder sind total verroht".

Lady Gaga hat sich gegen zu frühen Sex unter Jugendlichen ausgesprochen. Sie selbst gibt sich gerne freizügig. (Foto: dpa)

Auslöser war ein Buch, das Pastor Bernd Siggelkow und Autor Wolfgang Büscher in dieser Woche herausgegeben haben. Titel: "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist". Siggelkow, Gründer des Berliner Jugendwerks "Arche", und dessen Sprecher Büscher hatten in Berlin-Hellersdorf mit Jugendlichen über Sex geredet.

Das Ergebnis: Porno-Filme statt Aufklärungsunterricht, Gruppensex statt Zweierbeziehung, ständig wechselnde Geschlechtspartner - und Brutalsex statt Zärtlichkeiten. Siggelkow betont selbst, dass es sich um Einzelbeispiele sexueller Verwahrlosung handele und dass es keine verlässlichen Studien darüber gebe, ob die Beobachtungen repräsentativ seien. Aber das Echo war gewaltig.

Dabei sind sich alle Experten einig: Ja, es gibt Fälle sozialer Verwahrlosung, in denen neben Alkoholmissbrauch, Drogen und kaputten Familien auch sexuelle Verwahrlosung zu beobachten ist; aber, wie Sigusch sehr professoral feststellt: "Das hat mit der Gesamtheit der Jugendlichen nur sehr randständig zu tun."

Die Zahlen belegen eher das Gegenteil, wie Marita Völker-Albert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sagt: Ungeachtet aller Meldungen, dass Teenager immer früher Sex hätten, gäben nur zehn Prozent der 14-Jährigen an, schon Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, und ein Drittel der 18-Jährigen habe noch keine sexuellen Erfahrungen.

Die meisten verhüteten brav, und auch Teenager-Schwangerschaften seien leicht rückläufig. Gleichwohl, räumt Völker-Albert ein, seien die Beobachtungen von Siggelkow und Büscher sicher nicht anzuzweifeln: "Es gibt eine soziale Verwahrlosung, die wir mit unseren Studien nicht messen können."

Prahlen und Herumzeigen

Hertha Richter-Appelt, Sexualforscherin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, stellt denn auch fest, dass sich durchaus etwas verändert habe: Immer mehr Jugendliche hätten serielle Partnerschaften, also einen Freund, eine Freundin nach der anderen - aber in diesen Beziehungen, da ist sie mit Sigusch völlig einig, sei die Treue oberstes Gebot. "Die sind nicht alle plötzlich ganz wild geworden."

Der Zugang zu Pornos, zu Nacktfotos oder Filmchen auf dem Handy jedoch werde immer leichter - so etwas zeige man herum, prahle damit. Kinderpsychiater Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher Klinik in München, nimmt den Faden auf: "Jugendliche geben gern an, übertreiben mit ihren Erfahrungen. Einzelfälle von sexuell abweichenden Jugendlichen gibt es immer, aber es sind eben Einzelfälle. Wer die Jugend als Sexmonster abstempelt, der tut ihr unrecht."

Also alles übertrieben? Keineswegs. Keiner der Forscher bestreitet, dass das mediale Bild vom leichten, schnellen Sex, von willigen Frauen und harten Männern, von allgegenwärtiger Promiskuität einen Einfluss auf das Sexualverhalten Jugendlicher hat. Studien belegen, dass sich gerade Jüngere unter Druck gesetzt fühlen, wenn es für sie noch kein "erstes Mal" gegeben hat, sie fühlen sich als Außenseiter.

Das wird auch als ein Grund für happy slapping angesehen: für Jungen beispielsweise, die ihren Kumpels beweisen wollen, was für tolle Kerle sie sind. Sie filmen mit dem Handy den Sex mit ihrer Freundin und zeigen das herum. Auch Sigusch betont schließlich, dass die traurigen Beobachtungen der Arche-Autoren unbedingt ernst zu nehmen seien - vor allem, weil niemand diesen Kindern helfe. "Fürsorgeeinrichtungen sind überfordert, und die verwahrlosten Eltern sind im Zweifel nur ein schreckliches Vorbild für die Jugendlichen. "

© SZ vom 13.09.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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