Knapp zwei Jahre nach dem Tod von Oswalt Kolle hat Deutschland einen weiteren Aufklärer der Nation verloren: Martin Goldstein, der Mann, der "Dr. Sommer" war, ist tot. Er starb nach langer schwerer Krankheit im Alter von 85 Jahren in einem Hospiz in Düsseldorf. Dem Sexualaufklärer, Autor und Psychotherapeuten vertrauten sich Tausende Teenager an: 15 Jahre lang beantwortete er Fragen der jungen Bravo-Leser zum Thema Liebe und Sex, wie zum Beispiel: Macht Küssen schwanger? Wachse ich nach dem Sex nicht mehr? Sind zwei Kondome sicherer?
Bis 1984 arbeitete Goldstein für Bravo als "Dr. Sommer". Von 1975 an war er ärztlicher Psychotherapeut in der eigenen Praxis in Düsseldorf. Zuletzt arbeitete er fast nur noch mit männlichen Klienten, bevor er 2000 in den Ruhestand ging. Sein letztes Buch "Teenagerliebe" erschien 2009. Goldstein lebte zuletzt mit seiner Lebensgefährtin in einer Wohngemeinschaft in Kaarst bei Düsseldorf.
Es war 1969, als der damalige Chefredakteur von Deutschlands größter Jugendzeitschrift anrief, weil er Goldsteins Aufklärungsbuch "Anders als bei Schmetterlingen" gelesen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war Bravo sexuelle Aufklärung noch fremd; in dem Heft wurde kaltes Duschen gegen Onanie empfohlen. Goldstein sollte diese Rubrik übernehmen und modernisieren. Er willigte ein: "Ich wollte die Jugendlichen direkt erreichen." Sexualität war damals noch stark tabuisiert und die Teenager blieben mit ihren praktischen Fragen zur Sexualität oft allein.
Schnell gingen Tausende Briefe wöchentlich in der Redaktion ein und ein ganzes Team musste eingestellt werden, um sie nach Goldsteins Vorgaben unverklemmt zu beantworten. Dabei hielt der professionelle Aufklärer selbst nicht einmal viel von sexueller Aufklärung, im Gegenteil: " Ich bin der Meinung, dass sexuelle Aufklärung Quatsch ist", erklärte er in einem Interview mit der Online-Redaktion der Bundeszentrale für Politische Bildung. Goldstein fand, dass sie zu wenig auf die Menschen eingehe. Bei der Aufklärung sollte weniger die Technik der einzelnen Körperteile als vielmehr die zwischenmenschliche Beziehung im Vordergrund stehen.
Eine echte Revolution wäre für den Psychotherapeuten eine Art "sexuelle Einweihung" gewesen: "Sexuelle Aufklärung sollte durch das Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen geschehen - vor allem indem man darüber spricht." In unserer Gesellschaft werde über Sexualität aber nicht gesprochen, kritisierte Goldstein. Dagegen habe er als "Dr. Sommer" gekämpft.
Zweimal stand die Bravo 1972 wegen "Dr. Sommer" auf dem Index, weil er darin die Selbstbefriedigung thematisierte - und enttabuisierte. Goldstein erklärte, dass Masturbation kein Phänomen der Jugend sei, sondern dass es Erwachsene ebenso täten. "Das hat mir Vater Staat übel genommen und mir die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Hals gehetzt", wird Goldmann in dem Interview zitiert. In ihrer unnachahmlichen Art argumentierten die staatlichen Jugendschützer damals: "Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane."
Nach Ansicht Goldsteins hat sich daran bis heute wenig geändert: Nach wie vor gebe es keine Ermutigung zum Erleben der Sexualität, sondern allenfalls eine Duldung. Die Jugendlichen von heute wüssten vielleicht mehr, aber sie seien noch genauso unsicher, sagte Goldstein einmal. "Kann ich schwanger werden, wenn ich Sperma schlucke?", hätten Mädchen damals, in seinen ersten Berufsjahren, gefragt. Heute heiße es eher: "Wie viele Kalorien hat Sperma? Werde ich davon dick?"
Der Junge, der später als "Dr. Sommer" die Jugend beraten sollte, hatte selbst keine richtige Jugend. Wegen seines jüdischen Vaters wurde er von den Nationalsozialisten verfolgt, in einem Waldversteck bei Bielefeld überlebte er das Dritte Reich. "Ich hatte Angst vor der Gestapo, nicht vor dem Geschlechtsverkehr", sagte Goldstein 50 Jahre später.
Der Aufklärer der Jugend war selbst nie aufgeklärt worden: "Mit 23 Jahren hatte ich das erste Mal näheren Kontakt zu einer Frau", erzählte er - im Präparierkurs an der Universität. "Sie hatte keinen Kopf und schwamm in einer giftigen Lauge." Goldstein studierte damals Medizin. Danach wurde Goldstein aber nicht Arzt, sondern Leiter einer evangelischen Anlaufstelle für Jugendliche in Düsseldorf. Die Tabus, die seine eigene Pubertät zur Qual gemacht hatten, waren dort allgegenwärtig. Goldstein hatte das Thema seines Lebens gefunden.
Über das Verhältnis der Jugend zum Sex sagte Goldstein einmal: "Früher ist man mit dem Zwang aufgewachsen, alles Sexuelle wegzulassen. Und die jungen Menschen heute wachsen mit dem Zwang auf, alles Sexuelle auszuprobieren und das möglichst sofort." Dass immer mehr Jugendliche sich mittlerweile für die Ehe aufheben wollen, davon hielt Goldstein jedoch nichts. "Ich kann die Sexualität ja nicht wie einen Apparat abschalten und dann einfach, wenn ich verheiratet bin, schalt ich ihn an", sagte er. Das sei keine vernünftige Einstellung.