Attentat auf Rudi Dutschke:Schüsse auf die Revolution

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Der charismatische Redner Rudi Dutschke musste nach dem Attentat mit der ABC-Fibel seines Sohnes mühsam wieder das Sprechen lernen. (Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos/Agentur Focus)
  • Kaum ein Name steht in Deutschland so für "1968" wie Rudi Dutschke.
  • Vor 50 Jahren, am 11. April 1968, wird der Studentenführer auf dem Berliner Ku'damm niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt.
  • Dutschke lernt mühsam wieder reden und schreiben und stirbt Heiligabend '79 mit 39 Jahren nach einem epileptischen Anfall im dänischen Exil.

Von Lars Langenau

"Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen", steht auf der riesigen Fahne in den Farben des Vietcongs, die im Audimax der TU Berlin hängt. Ein Soziologiestudent aus dem brandenburgischen Luckenwalde läuft zum Pult, strahlt und ruft: "Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen." Die Revolution liegt in der Luft. Berlin, Deutschland, Vietnam, die ganze Welt ist in Aufruhr. Die Rede des 27-Jährigen ist einer der Höhepunkte des "Internationalen Vietnamkongresses" am 17./18. Februar 1968, zu dem der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) geladen hat.

Rudolf "Rudi" Willi Alfred Dutschke trägt Linksscheitel, ist wortgewaltig, blitzgescheit und elektrisiert die Menge mit seiner heiseren Stimme. Ein Ideologe im Ringelpullover, der irgendwie für einen menschenfreundlichen Sozialismus steht, mit der Betonung auf irgendwie. Antiautoritär soll die neue Gesellschaft sein, der neue Mensch. Der Mann am Mikrofon ist ein Idealist, der weder Kapitalismus will, noch den real existierenden Sozialismus des Ostblocks, aus dem er geflüchtet ist.

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Später schelten Renegaten seine Rhetorik ("Revolution ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht, und dann ist alles anders. Revolution ist ein langer, komplizierter Prozess, wo der Mensch anders werden muss") als hohle Phrasendrescherei. Zu dieser Zeit aber ist er, trotz fehlender Ämter, der prominenteste der rebellischen Studenten, Blätter wie Capital und Spiegel zeigen ihn als Gesicht der Revolte auf dem Titel - und für Bild ist er der Hauptgegner.

Es ist die Zeit der hochemotionalen Debatten, der Konfrontation, ein Riss geht durch die Gesellschaft. Es drohen die Notstandsgesetze der großen Koalition, welche die außerparlamentarische Opposition (APO) als neues Ermächtigungsgesetz verdammt. Als der tödliche Schuss des Berliner Kriminalobermeister (und später enttarnten Stasispitzels) Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg trifft, ist eine ganze Generation längst politisiert und radikalisiert. Am Ende des Vietnam-Kongresses versammeln sich 10 000 Teilnehmer (anderen Schätzungen zufolge 40 000) zur größten antiamerikanischen Kundgebung, die es in der Frontstadt des Kalten Krieges gegeben hat.

Drei Tage nach der linken Heerschau mit roten Fahnen und Konterfeis von Rosa Luxemburg, Che Guevara, Ho Chi Minh und Mao Zedong ruft der Berliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) gemeinsam mit DGB und Springer-Presse, zur Unterstützung für die Schutzmacht der seit sieben Jahren geteilten Stadt. Motto: "Berlin darf nicht Saigon werden". Diese Demo will ein Aufstand der "normalen Bürger gegen die linken Studenten" sein und mobilisiert 80 000 (die Polizei schätzt freundlicherweise 150 000). Die "anständigen Deutschen" tragen Plakate, auf denen fast wörtlich steht, was sich täglich in der Springerpresse findet: "Berlin unterstützt Amerika", aber auch "Dutschke raus aus Westberlin!" und "Volksfeind Nr. 1 Rudi Dutschke".

"Der hat ihm das halbe Hirn rausgeschossen", sagt Gretchen Dutschke-Klotz entgeistert

Die Demo in Berlin zielt frontal gegen die aufsässigen Studenten, die für die Wutbürger die fünfte Kolonne Moskaus sind, für manche auch nur ein Mob von Gammlern und Parasiten. Und für einen wie Franz Josef Strauß "dreckige Vietcong-Anhänger, die öffentlich Geschlechtsverkehr treiben". Plötzlich erhebt sich ein Schrei aus der Menge vor dem Schöneberger Rathaus: "Da ist Rudi Dutschke." Der Mann ruft verzweifelt: "Ich bin ein Arbeiter wie ihr." Er flieht zu einem Polizisten und bittet verzweifelt um Hilfe: "Um Gottes Willen, schützen Sie mich, die wollen mich totschlagen." Die beiden werden zu Boden geworfen. "Die Menge war außer sich. Wir haben uns die letzten Meter bis zum Wagen irgendwie hingeschleppt. Ich konnte gerade noch die Tür aufreißen und den jungen Mann hineinstoßen." Draußen riefen sie, sagt der Polizist: "Lyncht die Sau! Schlagt ihn tot! Kastriert das Judenschwein!"

Studentenrevolte
:Was von 1968 bleibt

Gretchen Dutschke, die Frau des legendären Studentenführers Rudi, hat ein erhellendes Buch geschrieben. Es ist eine Mischung aus ihrer eigenen Biografie und dem Versuch, zu erklären, auf was die 68er "stolz sein dürfen".

Rezension von Lars Langenau

Der richtige Dutschke ist gerade in Amsterdam, wo ihn seine Frau am Telefon warnt. Doch der Vater eines kleines Sohnes lacht nur. "Das war typisch für ihn", erinnert sich Gretchen Dutschke-Klotz 50 Jahre später. "Er war ein sehr angstfreier Mensch, furchtlos wie kaum jemand sonst." Aus Ostberlin mahnt ihn sein Freund, der Liedermacher Wolf Biermann, zur Vorsicht, doch Dutschke schreibt in sein Tagebuch: "Scheint mir übertrieben zu sein. Bisher konnte ich mich auf meine Beine und Fäuste, vom Maul ganz zu schweigen, verlassen."

Zu dieser Zeit hat der ehemalige Zehnkämpfer längst die Nase voll von den Eifersüchteleien seiner Genossen. Es stört ihn, von den Medien als "Führer" dargestellt zu werden. "Rudi", sagt seine Witwe heute, "wollte sich dem Personenkult entziehen: Wir wollten weg zu Herbert Marcuse ins kalifornische Berkeley, dann eine Zeit lang nach Afrika oder Südamerika."

Es kam anders. In Frankfurt legen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein in der Nacht auf den 3. April Brandsätze bei Kaufhof und M. Schneider ("Wir zünden Kaufhäuser an, bis ihr aufhört zu kaufen"). Einen Tag später erschießt ein Rassist in Memphis den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King, es folgen Unruhen mit Dutzenden Toten und Tausenden Verletzten.

Bild titelt: "Stoppt den Terror der Jungroten jetzt!"

Rudi Dutschkes Schuhe nach dem Attentat am 11. April 1968, verübt von Josef Bachmann aus München auf dem Berliner Ku’damm. (Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Im Westen Deutschlands titelt Bild: "Stoppt den Terror der Jungroten jetzt!" Man dürfe "auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen". Das Boulevardblatt hat eine Auflage von vier Millionen Exemplaren, die höchste auf dem europäischen Kontinent. Die Publikationen des Verlegers Axel Springer sind publizistisch eine Macht, stramm antikommunistisch, amerikafreundlich und studentenfeindlich.

An Ostern vor fünfzig Jahren nimmt das Drama seinen Lauf. Gründonnerstag, vormittags: Ob er sich bedroht fühle, Angst habe? fragt ein TV-Reporter den gehetzten Rebellen. Der lächelt, verneint, sagt, er sei meist nicht alleine und: "Es kann natürlich irgendein Neurotiker oder Wahnsinniger mal ne Kurzschlusshandlung durchführen". Nachmittag, 16.30 Uhr: Sein Sohn Hosea Che ist drei Monate alt und nach einem Trip mit seinen Eltern und dem Konkret-Journalisten Stefan Aust in die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings erkältet. Sein Vater fährt mit dem Fahrrad, um ihm in einer Apotheke am Ku'damm Nasentropfen zu besorgen.

Josef Bachmann (Mi.) im März 1969 mit seinen Verteidigern kurz vor der Urteilsverkündung. (Foto: dpa)

Ein kleiner, schmächtiger Mann nähert sich und fragt: "Sind Sie Rudi Dutschke?". Er bejaht arglos. Blitzartig reißt sein Gegenüber einen Revolver hervor, schreit "Du dreckiges Kommunistenschwein!" - und drückt ab. Drei Schüsse treffen in Kopf, Brust, Wange. Nach kurzer Flucht und Schießerei mit der Polizei wird der Täter verletzt festgenommen. Dutschke hat seine Schuhe verloren, taumelt blutüberströmt, ruft nach Mutter und Vater und stammelt "Soldaten, Soldaten".

Nach zehn Minuten trifft ein Krankenwagen ein und bringt ihn ins Westend-Krankenhaus. Fünfstündige Operation. Entfernung der Kugeln. Koma. Es ist unklar, ob Dutschke diesen Mordanschlag überleben wird. Als seine Frau von der Tragödie erfährt, schreit sie minutenlang. "Der hat ihm das halbe Hirn rausgeschossen", erzählt sie noch heute entgeistert. Sie verbringt die Stunden danach abwechselnd mit Beten, Hoffen, Bangen, Stillen. Als ein Telegramm von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger kommt, will sie es nicht öffnen. Längst wird öffentlich verlesen, dass Kiesinger "von Herzen" hofft, "dass ihr Mann von seinen Verletzungen völlig genesen wird". Ein Begleiter zerreißt es, ungelesen.

Das Attentat auf Rudi Dutschke löste eine Welle von Protesten aus, wie hier am Ostersonntag 1968 auf dem Kurfürstendamm. (Foto: dpa)

Krankenhausbesuch am übernächsten Tag: Dutschkes Kopf ist verbunden wie bei einer Mumie, erstmals aber ist er bei Bewusstsein. Er setzt sich auf und antwortet auf die Frage, wen er da vor sich habe: "Meine Frau". Wie ein Wunder geht es täglich bergauf, mühsam erobert sich Dutschke sein Leben zurück - oder zumindest das, was ihm geblieben ist.

Der Anschlag beschäftigt das geteilte Land, auch wenn man nicht allzu viel weiß über den Attentäter und sein Motiv. Der Hilfsarbeiter Josef Bachmann, 23, ist DDR-Flüchtling wie Dutschke, wohnhaft in der Maistraße 65 am Münchner Schlachthof. Er ist ein Mann, der alle inbrünstig hasst, die er für "links" hält. In seinem Kinderzimmer in Peine hängten selbstgemalte Bilder von Hitler und Napoleon, "Mein Kampf" steht im Regal. Bachmann ist vorbestraft wegen Einbruch und Diebstahl, ehemalige Weggefährten aus der Neonazi-Szene berichten später, er sei in einem französischen Gefängnis von Mitgefangenen vergewaltigt worden - eine Demütigung, die er nicht verwinden kann.

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Die tödlichen Schüsse auf Ohnesorg und Dutschke und der Protest in den Universitätsstädten waren in der oberpfälzischen Kleinstadt Nittenau ganz weit weg. Aber dann kam der Aufruhr. Genauer gesagt: ein Aufrührer.

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Dutschke sei ein Kommunist und er hasse Kommunisten, sagt er bei seiner Vernehmung. Bachmann betont, allein gehandelt zu haben. Das reicht den Ermittlern. Im März 1969 wird er als eher unpolitischer Einzeltäter, ein wenig rechts, aber mehr noch ein Sozialfall, zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt - doch es bleiben viele Rätsel, etwa woher er die Tatwaffe hatte. Dutschke beginnt noch einen Briefwechsel mit ihm, aber gut ein Jahr später erstickt Bachmann sich selbst mit einer Plastiktüte, die er sich über den Kopf gezogen hat.

Vierzig Jahre danach zeigen Stasi-Dokumente, dass er sehr wohl in ein rechtsextremes Netzwerk eingebettet war. "Kein Geheimagent einer feindlichen Großmacht hätte so zielsicher den Schuss auf den wichtigsten Mann im richtigen Augenblick abgeben können", schreibt der Ex-Konkret-Herausgeber und Ex-Ehemann von Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl, in seiner Biografie. Gerade hatte Dutschke zu einem "langen und mühseligen Marsch durch die Institutionen aufgerufen, womit er langfristig den größten Erfolg dieser Bewegung vorbereitete". Und: "Die APO verlor, diesmal endgültig, die Leichtigkeit und Heiterkeit ihres Anfangs."

Für Dutschkes Genossen steht fest: "Bild schoss mit". Die SZ nennt Springers Zeitungen "die Klimaanlage, die es möglich macht, dass Schüsse fallen". Die Anti-Springer-Kampagne nimmt - auch mit verdeckter, tatkräftiger Unterstützung aus der DDR - ihren Lauf. Noch am Abend des Attentats entlädt sich ohnmächtiger Zorn: In Berlin versuchen einige der mindestens 2000 Demonstranten in der Kochstraße das Springer-Hochhaus zu stürmen. Peter Urbach, Agent Provocateur des Berliner Verfassungsschutzes, verteilt freigiebig Molotowcocktails.

Es folgen fünf Tage Straßenschlachten, an denen sich an 27 Orten bis zu 18 000 Menschen beteiligen: von Berlin über Frankfurt, Köln, Essen, Esslingen bis Hamburg. 150 Aktivisten dringen ins Innere des Münchner Springer-Gebäudes ein und verwüsten die Redaktion, in der einst der Völkische Beobachter saß. Auch hier tauchen Molotowcocktails unbekannter Herkunft auf. Am 12./13. April versuchen jeweils bis zu 400 Demonstranten die Auslieferung der Bild zu verhindern, am Ostermontag kommt es zu schweren Ausschreitungen, bei denen der 32 Jahre alte AP-Fotograf Klaus Frings und der 27-jährige Student Rüdiger Schreck unter nie ganz geklärten Umständen sterben.

Heiligabend '79 ertrinkt Rudi Dutschke in der Badewanne

An den fünf Tagen sind im ganzen Land 21 000 Polizisten mit Wasserwerfern im Einsatz, hetzen Hunde auf Demonstranten. 400 Menschen werden verletzt, viele schwer. Tausende werden festgenommen, auch unbeteiligte Hausfrauen, Rentner und Peter Brandt, 19, der älteste Sohn des Außenministers. Axel Springer flüchtet in die Schweiz. Die Gewalt schwappt nun auch ins Ausland. In Paris gerät die Republik ins Wanken.

1968 ist ein Jahr der Gewalt, auch international: Am 6. Juni stirbt Robert F. Kennedy, der US-Präsident werden möchte, nach einem Attentat in Los Angeles. Im Oktober werden in Mexiko City mehr als 300 Studenten beim "Massaker von Tlatelolco" von Polizisten getötet. Für die Dutschkes aber beginnt im Frühjahr vor 1968 eine Odyssee über Italien, England - und schließlich ins Exil nach Aarhus in Dänemark, wo Rudi Dutschke 1979 mit 39 Jahren an Heiligabend in der Badewanne ertrinkt, nach einem epileptischen Anfall. Einer Spätfolge des Attentats elf Jahre zuvor.

In Berlin kann man nach wie vor auf den Spuren des Mannes wandeln, der einen hohen Preis für seine aufrüttelnden Reden zahlte: Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde 2008 die Kochstraße in Berlin-Kreuzberg in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt. Es ist keine Ironie der Geschichte, sondern sollte ein bewusstes Zeichen sein, denn genau dort liegt auch heute das Axel-Springer-Hochhaus.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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