Asylbewerber in Warstein:Mutter und Vater für 130 Flüchtlinge

Noch dringender als Kleiderspenden brauchen Flüchtlinge Freundschaft und Schutz. Eine Familie in Warstein nimmt seit fast 20 Jahren Asylbewerber bei sich zu Hause auf. Ein Besuch.

Von Christina Waechter

Schon vor acht Uhr ist die schwangere Akberet aufgestanden, um Kartoffeln zu schälen, Lammfleisch zu schneiden und die großen Töpfe mit Zgni aufzusetzen, einem eritreischen Nationalgericht. Den ganzen Sonntag hat sie Salat gemacht, Injera gebacken, eine Art Pfannkuchen, und schnell noch ein Blech Lasagne - falls von den Gästen jemand keine eritreische Küche mag, man kann ja nie wissen.

Nun, am Sonntagabend, drängen sich 17 Personen im Wohnzimmer der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, in der Akberet und ihr Mann Daniel mit drei weiteren Eritreern leben. Die Wohnung liegt auf einem ehemaligen Bauernhof in Warstein, einer 25 000-Einwohner-Stadt im Sauerland, bekannt für ihr Bier. Außerdem sind zehn Freunde aus den Flüchtlingsunterkünften in der Stadt zu Besuch und quetschen sich aufs Sofa und um den Küchentisch. Mittendrin: der 57-jährige Karl Spiekermann, ein kleiner Mann mit großer Brille, und seine Frau Karen. Aus der auf Englisch geführten Unterhaltung stechen immer wieder die Worte "Mother" und "Father" heraus - so nennen die Eritreer Familie Spiekermann. Ihnen gehört der Bauernhof, sie leben ebenfalls hier; ihr Geld verdienen die Spiekermanns, indem sie psychisch kranke Menschen auf dem Gehöft betreuen.

Mehr als 30 Flüchtlinge aus sechs verschiedenen Ländern haben die Spiekermanns bis heute beherbergt. Die meisten bleiben mindestens ein Jahr, bis sie auf eigenen Füßen stehen, ihr Asylantrag bewilligt wurde - oder sie abgeschoben werden. Geld hat die Familie dafür nie bekommen, bis jetzt: Seit Oktober wird ihnen vom Sozialamt Geld für Stromkosten überwiesen und eventuell demnächst auch Miete. Doch um Geld geht es den Spiekermanns nicht, das ist offensichtlich.

Von den Schleppern gab es verdünntes Benzin zu trinken

Daniel, der Gastgeber, stellt die dampfenden Schüsseln auf den Tisch und teilt aus. Dann spricht Karl Spiekermann das Tischgebet: "Herr, wir danken dir für diese Mahlzeit und bitten dich, sie zu segnen. Wir bitten dich, all die Flüchtlinge, die gerade auf der Reise in eine bessere Zukunft sind, zu beschützen und zu segnen..."

Alle hier Anwesenden haben eine dramatische Flucht hinter sich. Daniel bekam in der Sahara verdünntes Benzin von den Schleppern zu trinken, und wäre vor Lampedusa fast ertrunken, als sein Flüchtlingsboot in Seenot geriet. Sein Mitbewohner Dawit war sechs Monate in einem sudanesischen Gefängniskrankenhaus. Auf der Flucht sprang er aus dem Fenster und bohrte sich einen Nagel in den Fuß. Elias wurde im Sudan von Beduinen entführt, angekettet, gefoltert, um von seiner Familie ein hohes Lösegeld zu erpressen. Mit Glück konnte er nach zwei Tagen fliehen. Alle, die nun hier sind, trauern um Verwandte und Freunde, die im Mittelmeer ertranken oder in der Wüste verdursteten.

"Man muss sich von den einzelnen Schicksalen berühren lassen"

In der Wohnung ist es so eng, dass in Schichten gegessen werden muss. Doch das stört niemanden, im Gegenteil: Karl Spiekermann erzählt, dass er Daniel und Akberet nach ihrer Hochzeit eine Art Flitterwoche ermöglichen wollte - die beiden hatten sich auf der Flucht im Sudan kennen gelernt und bis dahin noch keinen Tag alleine verbracht. "Wir wollten ihnen ein wenig Privatsphäre bieten, aber das wollten sie gar nicht, wichtiger war den beiden die Gemeinschaft."

Wenn man verstehen will, warum diese Familie aus dem Sauerland sich so für Fremde engagieren, antwortet Karl Spiekermann ganz einfach: "Man muss sich von den einzelnen Schicksalen berühren lassen. Erst dann wird man anfangen zu handeln." Wer anfängt, hinter den Zahlen die Menschen zu sehen, wer auf sie zugeht und ihnen zuhört und auch erst einmal vorbehaltlos glaubt, der wird - da ist sich Karl Spiekermann ganz sicher - gar nicht anders können als zu helfen.

"Sonst macht es niemand"

Nach dem Essen beginnt Akberet die Kaffeezeremonie. Auf einer Gasflamme werden rohe Kaffeebohnen geröstet, dann trägt Akberet den dampfenden Topf von Gast zu Gast und fächert jedem den Rauch zu - eine Geste des Respekts. Die Runde kommt auf das Leben in Deutschland zu sprechen, auf die Dinge, die den Flüchtlingen Schwierigkeiten bereiten. Daniel erzählt von Begegnungen im Alltag: "Die Leute haben Angst vor uns. In Eritrea sind wir immer um Gastfreundlichkeit bemüht, laden Fremde ein, bieten ihnen einen Platz im Bus an, aber hier erleben wir das Gegenteil. Und das bricht uns das Herz."

Robel lebt in einem Asylbewerberheim mitten im Wald, ohne Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Er erzählt. "Das Leben im Asylheim ist nicht leicht. Wir haben nichts zu tun und bekommen keinerlei Informationen. Es gibt nur drei Leute, die sich für uns interessieren: Mother, Father und Uncle, ein Freund der Spiekermanns. Sie kommen zu uns, wir besuchen sie - dadurch sind wir integriert und nicht so allein gelassen."

Beim zweiten Becher klingelt das Notfallhandy

Der Kaffee wird in winzigen Bechern gereicht. Mehr als drei Tassen sollte man trotzdem nicht trinken, warnt Karl Spiekermann, wenn man nicht die ganze Nacht im Bett sitzen möchte. Als er gerade am zweiten Becher nippt, klingelt sein Notfallhandy. Eine albanische Asylbewerberin ist am Telefon, es gibt wieder Probleme mit ihrem Mann, vor dessen Gewaltausbrüchen sie geflohen war. Karl Spiekermann steht auf und geht vor die Tür - solche Anrufe gehören zum Alltag.

Das Notfallhandy ist immer angeschaltet. Es klingelt, wenn es Stress gibt unter den Bewohnern der Flüchtlingsheime oder wenn eines der Kinder plötzlich krank wird und niemand weiß, wie das deutsche Gesundheitssystem funktioniert. Mit einem freiwilligen Helfer kümmert sich Familie Spiekermann um 130 Flüchtlinge im Kreis Warstein - ohne von offizieller Seite beauftragt zu sein oder bezahlt zu werden. "Sonst macht es niemand", sagt Karl Spiekermann. So einfach ist das.

Angefangen hat es mit einem Klopfen

In Deutschland gibt es von Bundesland zu Bundesland, teilweise sogar von Kommune zu Kommune, unterschiedliche Regelungen zur Unterbringung von Flüchtlingen. In Bayern herrscht beispielsweise eine rigide Lagerpflicht für alle Flüchtlinge, deren Asylverfahren nicht abgeschlossen ist. In Nordrhein-Westfalen, wo Familie Spiekermann wohnt, ist es vergleichsweise einfach, mit dem zuständigen Sozialamt eine Vereinbarung über die private Unterbringung von Flüchtlingen zu treffen.

Angefangen hat es mit einem Klopfen, erinnert sich Karen Spiekermann am nächsten Tag. Sie sitzt am Tisch im großen Wohn- und Esszimmer. Ihr Mann, der eigentlich auch dabei sein wollte, musste plötzlich weg, Flüchtlingsangelegenheiten, ein Termin beim Bürgermeister. Dafür ist Dominic da, das zweitjüngste ihrer sechs Kinder, der in Wien Theologie studiert. Es war im Jahr 1996, als das Ehepaar das erste Mal an die Tür eines im Nachbarort abgestellten Containers mit Flüchtlingen klopfte, um sich vorzustellen. "Eine Familie aus dem Kosovo mit zwei kleinen Kindern hat aufgemacht und uns gleich zu einer Tasse Tee eingeladen. Wir haben uns unterhalten - und sind bis heute mit ihnen befreundet." Schon bald beschloss Familie Spiekermann, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen.

Ernste Konflikte mit den Mitbewohnern gab es über all die Jahre aber nur einen: Ein Kosovo-Albaner fühlte sich in seiner Ehre verletzt, als Karl Spiekermann dessen Freund eines Übergriffs beschuldigte. Von da an sprach er nie wieder mit der Familie. "Er hat dann immer um sechs Uhr morgens direkt vor unserem Fenster das Auto sehr laut angelassen. Das war sehr schwierig." Die Familie lebte noch einige Jahre bei ihnen, bis sie ein eigenes Haus fand, nur wenige Kilometer entfernt.

Probleme hatten die Kinder

Probleme mit der Situation hatten dagegen manchmal die Kinder der Spiekermanns. Als die ersten Flüchtlinge ins Haus kamen, lebten alle noch daheim. Dominic, der Theologiestudent, 21, lacht leise. "Natürlich waren wir nie so begeistert von der Idee, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Aber man gewöhnt sich ja eh daran. Erst als ich zum Studieren ausgezogen bin und mehr Distanz hatte, habe ich unsere Lebenssituation als Bereicherung wahrgenommen." Karen Spiekermann weiß, dass sie ihren Kindern viel zugemutet haben. "Lara, die Älteste, hat zum Beispiel niemandem in ihrer Klasse davon erzählt, in welcher Situation wir zu Hause gelebt haben."

Mit ihren sechs Kindern und dem Engagement für Flüchtlinge sticht die Großfamilie in ihrer ländlichen Gegend jedenfalls heraus. "Einige Nachbarn sind durchaus interessiert, aber für viele andere sind wir wie Außerirdische vom Mars", glaubt Karen Spiekermann. Andererseits scheint sich die Einstellung Flüchtlingen gegenüber langsam zu wandeln. Die Hilfsbereitschaft werde größer. Nur, meint Karen Spiekermann, "meistens wollen die Leute mit materiellen Dingen helfen. Aber ich glaube, die Flüchtlinge brauchen anderes dringender als nur Kleiderspenden. Sie brauchen Freundschaft, Integration, Schutz."

Spiekermann sieht die Kirchen in der Pflicht

Karl Spiekermann geht der Bewusstseinswandel viel zu langsam: "Klar kann man entschuldigen, dass die Leute scheu sind und sich nicht trauen, Kontakt aufzunehmen, aber man muss es doch wenigstens mal versuchen und auf die Menschen zugehen!" Vor allem die Kirchen, die evangelische, wie die katholische, sieht Spiekermann in der Pflicht. Er zitiert aus dem Dritten Buch Mose: "Wenn bei dir
ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. "

Dem wird die Kirche vor Ort nicht gerecht, findet Karl Spiekermann - trotz der Positionierung von Papst Franziskus, der im Juli 2013 nach Lampedusa reiste, um für die Flüchtlinge zu beten, und seitdem immer wieder Engagement eingefordert hat. Weltweit sind nach UN-Angaben momentan so viele Menschen auf der Flucht wie zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs: ungefähr 51 Millionen. Nur ein Bruchteil von ihnen landet in Europa. In Deutschland werden in diesem Jahr voraussichtlich 200 000 Asylanträge gestellt, fast doppelt so viele wie im vorigen Jahr. In München wurden mehr als 80 Tonnen Kleider für Flüchtlinge gespendet, so viele, dass die Diakonie mit dem Sortieren nicht mehr nachkam. Aber was ist der richtige Weg zu helfen? Muss man so weit gehen, so radikal sein wie die Familie aus Warstein? Karl Spiekermanns Antwort klingt einfach: "Klar, man hat auch anderes im Leben zu tun und womöglich eine Scheu, sich den Flüchtlingen zu nähern. Doch ich finde, man müsste es zumindest versuchen. Was soll schon groß schiefgehen? Wenn man mal was Falsches sagt, entschuldigt man sich einfach."

Start in ein neues Leben

Wird es den beiden manchmal zu viel? Zu viel Leid, zu viele Menschen, deren Bedürfnissen sie nicht immer gerecht werden können, zu viele traurige Schicksale, an denen sie nichts ändern können? "Natürlich liege ich manchmal nachts wach und überlege hin und her, was ich noch tun kann", sagt Karl Spiekermann. Für die Roma-Familie, die abgeschoben werden soll. Für den Syrer Hani, der gedroht hat, sich umzubringen, wenn er nach Rumänien zurück muss, seine erste Station in der EU. Für die Albanerin, die vielleicht wieder zu ihrem gewalttätigen Ehemann zurückkehren will, wie sie ihm gestanden hat.

Doch sie erreichen immer wieder Erstaunliches. Zum Beispiel gerade eben, beim Bürgermeister. Karl Spiekermann zieht einen Zettel mit den Namen von 18 Flüchtlingen aus der Hosentasche, die durch seinen hartnäckigen Einsatz nun aus dem Heim in Privatwohnungen ziehen dürfen. 18 von 130. Immerhin: 18 Menschen, denen Familie Spiekermann den Start in ein neues Leben ermöglicht hat.

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