Süddeutsche Zeitung

ASMR-Videos:Geräusche, die wie Drogen wirken

Millionen Menschen klicken im Internet Videos an, in denen es knistert, flüstert oder rauscht. Warum nur?

Von Laura Hertreiter

Zum Einschlafen braucht er Marias zartes Flüstern. Ein paar gehauchte Worte, so nahe, als könne er ihren Atem, ihre Lippen an seinem Ohr spüren. Abends im Bett setzt der Berliner Anwalt Tim Neumann* also Kopfhörer auf, startet eines von Marias Internetvideos und schließt die Augen. Dann erst gleitet er in den Schlaf.

Paula Wert aus Linz hat Marias Youtube-Kanal im zweiten Semester des Maschinenbaustudiums entdeckt. Zieh dir das rein, pusht die Konzentration, hatte ihr ein Kollege geraten. Erst hatte sie ihn und die Filmchen der barbieblonden Russin für verrückt erklärt. Dann aber klickte sie auf die Clips, in denen Maria bügelt. Der Sound von heißem Eisen, das über weichen Stoff gleitet, sei besser als jede Hintergrundmusik zum Lernen, sagt sie heute.

Es sind Geräusche von banaler Schlichtheit, mit denen Maria, 30, mehr als 500 000 Abonnenten rund um den Globus begeistert, Geräusche, von denen Tausende wie Wert und Neumann in Foren schwärmen. Mal ist es ihr Flüstern, das sie auf der Videoplattform präsentiert, mal das Prasseln ihrer Fingernägel auf einem Buchdeckel, mal das Rauschen einer Bürste durch Haarsträhnen. Auf Youtube nennt sich Maria, die in Los Angeles lebt, "Gentle Whispering", ihren vollen Namen gibt sie nicht preis. Sie ist längst nicht die Einzige, die mit simplen Geräuschvideos ein großes Publikum fesselt.

Mittlerweile gibt es auf Youtube mehr als 2,5 Millionen Clips

2010 begannen die ersten Youtuber, sogenannte ASMR-Videos ins Netz zu stellen. Das Schlagwort ist eine Abkürzung für den sperrigen Begriff "Autonomous Sensory Meridian Response", der so viel bedeutet wie Kopfkribbeln. Genau das, ein lang anhaltendes, wohliges Kribbeln, lösen bestimmte Geräusche bei manchen Menschen aus, oft auch in Kombination mit optischen Reizen. Mittlerweile gibt es allein auf Youtube mehr als 50 000 ASMR-Kanäle und mehr als 2,5 Millionen Clips. Darin wird Holz geschnitzt, Klebeband von Teppichen gerupft, mit Papier geraschelt. Oft wirken die Filmchen wie der Beginn eines Amateurpornos, mal wie Bob Ross' Fernsehmalkurse oder autogenes Training.

Während Tausende ASMR-Fans in Kommentaren von Gänsehautgefühlen schwärmen, von tranceartiger Entspannung, tiefem Schlaf und geistigen Höchstleistungen, ist der Rest der Menschheit in der Regel irritiert. Das beruht wohl vor allem darauf, dass nicht jeder Mensch gleich auf die Sinnesreize aus den Clips reagiert.

Flüsterexpertin Maria sagt in einem Videotelefonat mit lauter Stimme, ihre regelmäßigen Zuschauer litten oft unter Schlafstörungen und Stress. "Die wollen abschalten. Andere sind auf der Suche nach dem prickelnden Gefühl, das bestimmte Trigger auslösen können. All das ist ASMR. Und andere spüren einfach nichts." Wer warum und wie auf welches Geräusch reagiert, ist bislang nicht erforscht. Im Netz gibt es Dutzende Videos, mit deren Hilfe Zuschauer herausfinden können, ob sie zur Zielgruppe zählen. Der New Yorker Schlafforscher Carl Bazil hält es nach eigenen Angaben für möglich, dass durch ASMR Teile des Gehirns ruhiggestellt werden. Der Neurowissenschaftler Bryson Lochte aus New Hampshire hingegen geht in einer Untersuchung davon aus, dass die Videos das zerebrale Belohnungssystem anregen und womöglich die Dopaminausschüttung erhöhen.

Was aber sagt es aus, dass zigtausend Menschen schlichte Geräusche in Szene setzen, dass eine eigene kleine Industrie entstanden ist? ASMR als Internetquatsch abzutun, wäre leicht. Wenn da nicht die interessante Frage wäre, warum die Videos millionenfach angeschaut werden, welche Sehnsucht den Trend befeuert.

Menschen, die nicht empfänglich für ASMR seien, könne man das Gefühl am besten mit einer langen Kopfmassage beim Friseur beschreiben, sagt Maria, "das Gefühl, persönlich umsorgt zu werden, die Nähe, das Kribbeln, die Entspannung, das trifft's. Nur eben ohne Berührung." Wenn also Filme über optische und akustische Sinneseindrücke eine körperliche Reaktion hervorrufen - ist man dann nicht doch recht nah am Porno? "Oh nein!", ruft Maria. Wie alle ASMR-Fans kennt sie das Fetisch-Etikett, das am Youtube-Genre haftet wie Tesa auf Teppich.

Das liegt nicht nur daran, dass Maria und ihre Kollegen eine bisweilen bizarre Nähe zum Zuschauer inszenieren - indem sie sich weit Richtung Kamera beugen, Satzfetzen wie "das hier habe ich nur für dich vorbereitet" hineinhauchen und dank 3-D-Soundtechnik näher klingen, als es die Distanzregeln im echten Leben zuließen. Immer wieder wurden auch Clips von Plattformen entfernt, weil sie unangemessenen Inhalt gezeigt haben sollen. Die Presse schreibt vom "Gehirn-Orgasmus durch ASMR", einem Begriff, den die Protagonisten verabscheuen. "Wir versuchen eine Nähe zu inszenieren, damit sich der Zuschauer betütelt fühlt. Natürlich kriegen wir da auch mal Nachrichten mit erotischen Anspielungen. Aber wer ASMR will, hat keinen Sex im Kopf, sondern einen Kick, der eher einer guten Droge ähnelt."

"Besser als jeder Joint"

Auch ihr Kollege Dmitri, 41, mehr als 300 000 Abonnenten, sagt: "Wenn man es fühlen kann, ist ASMR besser als jeder Joint." Der IT-Techniker sitzt mit kurz geschorenem grauen Haar und buntem Shirt in seinem Wohnzimmer irgendwo in Queensland, Australien, am Computer und erzählt, wie er das Gefühl mit zwölf Jahren zum ersten Mal spürte. "Mein älterer Cousin hat eine ruhige Stimme, er erzählte mir etwas Belangloses, und plötzlich fühlte ich Prickeln am ganzen Körper und zugleich unendliche Ruhe. Seither jage ich diesem Gefühl nach."

Vor drei Jahren begann er, selbst Geräuschkulissen ins Netz zu stellen. Seither, sagt er, bekomme er Dankesmails von Veteranen, Feuerwehrmännern und Krankenpflegerinnen. "Für diese Leute sind meine Videos wie Wellnesseinheiten, nach denen die Welt besser aussieht." Wie Maria verdient Dmitri inzwischen Geld mit der Werbung in seinen Videos. "Wenn es weiter so gut läuft, kann ich vielleicht schon in den nächsten Jahren davon leben."

Kollegin Maria sagt: "Damit es weitergeht, müssen wir ständig neue Reize finden." Denn wie jede Droge lasse die Wirkung eines Geräuschs irgendwann nach.

*Alle Nutzernamen geändert

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URL:
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Quelle:
SZ vom 16.01.2016/olkl
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