Artikel 13:Wanzen in der Wohnung

Vor 20 Jahren spaltete der Konflikt um den Großen Lauschangriff die Republik, bis das Verfassungsgericht einen schwierigen Kompromiss fand, der nicht alle zufriedenstellte.

Von Joachim Käppner

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(Foto: mauritius Images)

Die Debatte um den Großen Lauschangriff war vor 20 Jahren noch weit mehr als das, was heute die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist: ein polarisierter Streit um Bürgerrechte und Sicherheit; ausgefochten mit deutscher Grundsätzlichkeit mehr über Fragen der Symbolik als der Praxis. Es war eine Zeit, in der Eingriffe des Staates in die Grundrechte noch weit mehr Widerstand weckten als heutzutage.

Beide Seiten sahen den Rechtsstaat in höchster Gefahr, wenn der Lauschangriff erlaubt beziehungsweise nicht erlaubt würde. Gemeint war und ist, sachlich gesagt, das elektronische Abhören von Privaträumen mittels Richtmikrofonen oder Wanzen, die "akustische Wohnraumüberwachung". Mitte der Neunzigerjahre fürchteten Sicherheitspolitiker ein starkes Wachsen der organisierten Kriminalität (OK), auch durch neue, gewalttätige Banden aus Osteuropa. Nicht nur der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Hans-Ludwig Zachert, hielt die akustische Wohnraumüberwachung für eine Art polizeiliches Wunderheilmittel.

In Staaten wie den USA war electronic surveillance zulässig, wenn auch meist unter schärferer richterlicher Kontrolle, als es sich deutsche Innenminister wünschten. 1992 gelang es dem FBI durch einen Lauschangriff, den berüchtigtsten Paten der New Yorker Mafia zu überführen, John Gotti der als "Teflon Don" geprahlt hatte, niemand könne ihm je etwas anhängen. Moderate Ermittler sahen die Überzeichnungen beider Seiten der Debatte mit Unbehagen. Vergeblich verwiesen sie darauf, dass der Lauschangriff Ultima Ratio sein solle und in den zwei Jahren nach seiner Einführung 1998 nur 70-mal zum Einsatz gekommen war, fast immer in Fällen schwerer Kriminalität. So rettete die Kripo in Gera mithilfe elektronischer Überwachung einen entführten Fünfjährigen.

Die massive "Wir werden sonst von Gangstern überrollt"-Rhetorik der Befürworter provozierte eine bürgerrechtliche Gegenbewegung, die den Großen Lauschangriff voller Verve bekämpfte. Sie vermutete eine künstliche Inszenierung der OK-Gefahren, mit der die Regierung Helmut Kohls einen Präzedenzfall schaffen wolle, um in das Verfassungsbollwerk der Grundrechte einzubrechen - immerhin schützte Artikel 13 die Unverletzlichkeit der Wohnung. Nach den Terroranschlägen von 9/11 versank des Thema organisierte Kriminalität übrigens fast in Vergessenheit.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) war schon 1996 als Bundesjustizministerin aus Protest gegen den Lauschangriff zurückgetreten. Gemeinsam mit den Parteifreunden Burkhard Hirsch und Gerhart Baum reichte sie Verfassungsbeschwerde ein. Karlsruhe traf 2004 eine Entscheidung, wie sie von nun an typisch sein sollte für die Gratwanderung zwischen den Rechten der Bürger gegenüber dem Staat und ihrem Anspruch auf Sicherheit durch den Staat. Das Gericht ließ die Wohnraumüberwachung zu, bestand jedoch auf dem "Kernbereich privater Lebensgestaltung": "Jede Erhebung von Informationen aus diesem Bereich muss abgebrochen werden. Jede Verwertung ist ausgeschlossen."

Bei sehr privaten Gesprächen oder intimen Situationen muss die Kripo seither die Abhörmikrofone ausschalten. Nach dem Karlsruher Urteil zum BKA-Gesetz 2016 muss eine unabhängige Stelle die Aufzeichnungen prüfen, bevor die Ermittler sie zu Ohren bekommen. In der Praxis hat dies dazu geführt, dass die Zahl der Lauschangriffe deutlich sank, 2017 kam er in nur zwölf Verfahren zum Einsatz.

Nur 15 Jahre ist das Urteil her. Damals schoben die Richter der gruseligen Vorstellung, der Staat könne jederzeit im Wohnzimmer mitlauschen, den Riegel vor. Aber dass sich zahllose Bürger schon bald ganz freiwillig alles mithörende "Sprachassistenten" in dasselbe Wohnzimmer stellen würden, das hätten sie damals kaum für möglich gehalten.

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