Debatte über Legalisierung von Kindstötung:"Warum sollte ein Baby leben?"

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Abtreibung im dritten oder sechsten Monat - oder viel später? Zwei australische Ethiker fordern in einem Aufsatz, auch die Tötung von Neugeborenen zu erlauben - und provozieren damit heftige Reaktionen. Wie kommt jemand auf die Idee, man dürfte Babys töten?

Lena Jakat

In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche in der Regel bis zur 14. Woche straffrei möglich, in anderen Ländern zum Teil wesentlich länger, in Großbritannien zum Beispiel bis zur 24. Schwangerschaftswoche. In jedem Fall ist diese Zahl - wie so oft, wenn Gesetze und Regularien an fixe Zahlen gebunden sind - ein gesellschaftspolitischer Kompromiss. Ein Kompromiss zwischen Ärzten und Juristen, zwischen Philosophen, Kirchenvertretern und Politikern. Ein Kompromiss, dem sich auch Abtreibungsgegner und -befürworter fügen müssen.

Warum die Grenze zur Abtreibung schon während der Schwangerschaft ziehen, fragen zwei australische Ethiker und fordern, die Tötung von Neugeborenen zu erlauben. (Foto: REUTERS)

Für wütende Debatten sorgt in der englischsprachigen Welt derzeit ein wissenschaftlicher Artikel, der fordert, diese Grenze später zu ziehen, wesentlich später: nämlich erst nach der Geburt. In ihrem Aufsatz "After-birth abortion: why should the baby live?" fordern die Autoren, dass "'post-natale Abtreibung' (die Tötung eines Neugeborenen) in all jenen Fällen erlaubt sein sollte, in denen Abtreibung vor der Geburt erlaubt ist, einschließlich solcher Fälle, in denen der Säugling nicht behindert ist". In den Maßstäben des Strafrechts wäre das derzeit schlicht: Mord.

"Babys zu töten unterscheidet sich nicht von Abtreibung, sagen Experten", betitelte der britische Telegraph seine Berichterstattung über den Aufsatz, "Schlachtet neugeborene Kinder, sagen Akademiker", überschrieb das Boulevardblatt Sun den entsprechenden Artikel. Die konservative Parlamentarierin und Abtreibungsgegnerin Nadine Dorries sagte der Zeitung: "Das ist eine widerliche ethische Position. Welcher Mensch, der bei klarem Verstand und zu Empfindung fähig ist, der jemals ein Neugeborenes im Arm gehalten hat, kann solch eine ekelerregende Position unterstützen?"

Neugeborene ohne Selbst-Bewusstsein?

Die australischen Wissenschaftler Alberto Giublini und Francesca Minerva stützen ihre auf den ersten Blick völlig absurde These auf zwei Argumente, die beide auf einem philosophischen Personenbegriff basieren: Bei einem Neugeborenen handle es sich zwar um ein menschliches Wesen, nicht aber um eine "Person", argumentieren die Autoren.

Als "Person" definieren sie: "ein Individuum, das fähig ist, seiner eigenen Existenz einen gewissen, (mindestens) rudimentären Wert zuzuschreiben; in dem Sinne, dass es für das Individuum einen Verlust bedeutet, dieser Existenz beraubt zu werden".

In den ersten Tagen und Wochen fehle einem Baby aber eben noch dieses "minimale Level an Selbst-Bewusstein", argumentieren die Autoren. Also fehlten ihm - wie auch einem Fötus, der abgetrieben werden darf - "die Eigenschaften, die es rechtfertigen, einem Individuum das Recht auf Leben zuzusprechen".

In einem zweiten Schritt erörtern die Ethiker, dass es keinen Sinn mache, davon auszugehen, dass einem Neugeborenen oder einem Fötus Schaden zugefügt werde, "indem ihm verweigert wird, eine tatsächliche Person" zu werden. Da die geistige Entwicklung nicht ausgeprägt sei, sei ein Neugeborenes demnach auch nicht in der Lage, diesen Schaden - den Verlust des eigenen Lebens - zu empfinden. Aus diesem Grund stünden die Interessen "tatsächlicher Leute (Eltern, Familie, Gesellschaft), ihr eigenes Wohlbefinden anzustreben" über dem Recht von Föten und Neugeborenen, sich zu entwickeln.

Soweit die theoretische Argumentation.

Zwar wollen sich die Autoren nicht auf einen Zeitpunkt festlegen, bis zu dem Kindstötungen zu erlauben wären. Aber, so schließen die Autoren, wenn es zum Zeitpunkt der Geburt aus gesundheitlichen, sozialen, finanziellen oder psychologischen Gründen für jemanden "zur unerträglichen Last" geworden sei, "sich um seine Nachkommen zu kümmern, dann sollten Menschen die Chance bekommen, nicht gezwungen zu werden, etwas zu tun, das sie nicht leisten können."

Neu sind derlei extreme Thesen und Argumente nicht, sie tauchen ähnlich in der ethischen Auseinandersetzung um Abtreibung immer wieder auf. In Deutschland allerdings würde diese Debatte ohnehin wohl völlig anders geführt - einerseits ist in der Denktradition hierzulande der Schutz der Menschenwürde sehr eng mit dem Schutz des Lebens verknüpft. Außerdem fände sie - wie implizit auch immer - stets auch vor dem Hintergrund der systematischen Tötung behinderter Kinder durch die Nazis statt. Der als "Euthanasie" verschleierten Tötung fielen im Dritten Reich Tausende Kinder zum Opfer.

Neu ist allerdings der Aufschrei, den dieser wissenschafltiche Aufsatz in der breiten Öffentlichkeit auslöste. Der Beitrag erschien im Journal of Medical Ethics, einem Ableger des renommierten British Medical Journal. Nachdem er vergangene Woche online veröffentlicht wurde, fand er rasch seinen Weg in die großen Medien.

Replik im Namen der Debattenfreiheit

Dort war der Aufruhr so groß, dass die Antwort nicht lange auf sich warten ließ. In einem Blogbeitrag meldete sich Julian Savulescu zu Wort. Der Herausgeber des Journal of Medical Ethics ist auch Direktor des Uehiro Centre for Practical Ethics an der Universität Oxford, die Autoren des Artikels haben beide bei ihm studiert. In seiner Replik verteidigt Savulescu die Veröffentlichung des Aufsatzes. Ziel der Zeitschrift sei es nicht, die Wahrheit zu verkünden, sondern "gut begründete Auseinandersetzungen zu präsentieren, die auf weithin anerkannten Prämissen beruhen".

Unterstützung erhielt Savulescu von Kenneth Boyd, emeritierter Professor für Medizinethik und Mitherausgeber der Zeitschrift. Anders als sein Kollege habe er die Autoren nie getroffen und tatsächlich sei er "persönlich nicht deren Meinung". Gleichwohl habe er "im Sinne der akademischen Freiheit der Debatte" entschieden, den Artikel zu veröffentlichen.

Savulescu berichtet in seiner Antwort von hasserfüllten E-Mails und Todesdrohungen gegen die Autoren. In wenigen Tagen sammelten sich unter der Antwort mehr als 400 Kommentare, aus denen vor allem Unverständnis und Empörung spricht.

Nicht alle Kritik blieb jedoch bei persönlichen Anfeindungen und Beschuldigungen stehen. "Der Artikel beweist, was Abtreibungsgegner schon lange argumentieren: dass geläufige Argumente für Abtreibung auch Kindstötungen rechtfertigen", kommentiert Anthony Ozimic von der Anti-Abtreibungs-Initiative Society for the Protection of Unborn Children. Auch das katholische britische Online-Portal National Catholic Register sieht in Giubilini und Minervas Schrift "fast ein Argument gegen Abtreibung".

Bei Praktikern der Medizinethik stößt die Position der australischen Autoren auf Unverständnis. Norbert Paul leitet den Studiengang Medizinethik an der Universität Mainz. "Als provokativer Debattenbeitrag innerhalb der Philosophie ist das erlaubt", sagt er zu Süddeutsche.de über den Aufsatz. Abgesehen von argumentativen Schwächen sei aber "unlauter", wie die Autoren darin derlei hypothetische Überlegungen "mit Ratschlägen für die klinische Praxis verknüpfen, von deren Umsetzung sie nicht betroffen sind". Den Artikel empfindet er daher als "ärgerlich".

Ein Drittel seiner Arbeitszeit verbringt Paul damit, seine Kollegen am Universitätsklinikum, Patienten und Angehörige in Grenzsituationen zu beraten, wie es sie - dank des medizinischen Fortschritts - besonders am Lebensanfang und am Ende des Lebens in einer nie gekannten Fülle gibt. Welche Möglichkeiten hat ein 80-jähriger Herzpatient? Wann muss man mit allen Mitteln um das Leben eines Frühgeborenen kämpfen? Und wer entscheidet darüber?

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