70 Jahre Grundgesetz:Wer Freiheit ausleben will, muss das nicht begründen

Gay-Pride-Parade in Bukarest

Lesbisches Paar bei einer Gay-Pride-Parade: Niemand muss dem Staat gegenüber begründen, warum er sich Freiheiten nehmen möchte - so will es das Grundgesetz.

(Foto: dpa)

Freie Liebe, Homosexualität, Transgender: Das darf es nicht geben, rufen von jeher Sittenwächter und Ideologen. Das Grundgesetz stellt die Gegenfrage: Warum nicht?

Von Ronen Steinke, Berlin

Nein, das Bundesverfassungsgericht hat nie die Einführung eines "dritten Geschlechts" gefordert, wie es nach seinem Beschluss vom 10. Oktober 2017 oft hieß. Das Bundesverfassungsgericht hat nie verlangt, dass die Standesämter eine dritte Kategorie aufmachen, also neben "männlich" und "weiblich" noch "divers". Das Bundesverfassungsgericht hat, viel bescheidener, nur verlangt: Der Staat müsse aufhören, Menschen in zwei Kategorien zu pressen. Schluss mit dem Zwang.

Auch wenn es natürlich nur wenige Menschen sind, die diesen Zwang als Zwang erleben: Es gebe dafür keine sachliche Rechtfertigung, führten die Karlsruher Richter aus; es habe sie noch nie gegeben. Es "lässt sich nicht mit Belangen Dritter rechtfertigen". Auch "Ordnungsinteressen des Staates" seien nicht wirklich ersichtlich. Die Richter erklärten: Ob der Staat sich nun entscheidet, künftig eine dritte, unbestimmte Geschlechtskategorie als Auffangbecken zu eröffnen, oder ob er es gleich ganz bleiben lässt mit dem Registrieren von Geschlechtern: völlig egal; Hauptsache, dieser Zwang hört auf.

70 Jahre Grundgesetz

Die deutsche Verfassung ist am 8. Mai 1949 beschlossen worden und mit Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft getreten. Weitere Artikel aus dem SZ-Grundgesetz-Spezial finden Sie hier.

Was für ein bestechend einfacher Gedanke: Der Staat hat zu respektieren, wie ein Mensch lebt, liebt, auch wie er sich selbst definiert - weil es schlichtweg niemandem ernsthaft schadet, wenn diese Freiheit gewährt wird. Weil es sich "nicht mit Belangen Dritter rechtfertigen lässt", einem Menschen diese Freiheit vorzuenthalten. Das ist knapp, das ist simpel, das ist eine Logik, die zwischen einer auf den ersten Blick nur mäßig glanzvollen Grundgesetzformulierung hervorfunkelt. Dieser Artikel 2, Absatz 1 ist sprachlich ähnlich wolkig wie seine berühmtere Nachbarin, die Menschenwürdegarantie in Artikel 1.

Selbstbestimmung. Freiheit. Jeder nach seiner Fasson. "Allgemeines Persönlichkeitsrecht", wie das Bundesverfassungsgericht über den Artikel 2 sagt. Oder auch "allgemeine Handlungsfreiheit".

Das sind große Worte, die einen schönen Klang verbreiten, aber den Vertretern staatlicher Macht letztlich noch wenig vorschreiben. Denn der Staat ist ohnehin nur dann gefragt, wenn es zum Konflikt kommt: zwischen den Interessen oder Rechten mehrerer Personen. Da beginnt Recht, da beginnt Politik. Und da beginnen erst die eigentlichen Diskussionen.

Das Wort "Freiheit" bietet da nie die Antwort. Aber es stellt die richtige Frage. Artikel 2, Absatz 1 über die freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet ein Versprechen: Wenn der Staat seinen Bürgern etwas verbieten oder sie zu etwas zwingen möchte, dann sollte er dies gefälligst mit einer Gefahr für die konkreten Rechte anderer Bürger begründen können. Dieser Gedanke ist in der deutschen Verfassungstradition ein Novum, er wurde übernommen aus dem Recht der laizistischen französischen Republik; und für den einstigen deutschen Obrigkeitsstaat ist das 1949 bahnbrechend gewesen.

Die Bundesrepublik ist damit nicht gleich zu einem liberalen Land geworden. Lange sind etwa homosexuelle Männer weiter strafrechtlich verfolgt worden, auch wenn ihr einvernehmlicher Sex niemanden in seinen Rechten verletzte, was selbst die konservativen Verfechter dieser Bestrafung einräumten. Aber diejenigen, die dagegen ankämpften, konnten sich nun erstmals auf die Verfassung berufen. Damit drangen sie in Karlsruhe zunehmend durch. Auch weil die Richter ein irritierendes Wort in Artikel 2, Absatz 1 seit den 1960er-Jahren nicht mehr recht ernst nahmen: Dass man Freiheit auch auf Basis bloßer "Sittengesetze" einschränken können sollte, widerspricht dem sonstigen Konzept dieses Grundrechtsartikels.

Man darf es nicht! Artikel 2, Absatz 1 Grundgesetz antwortet darauf stets mit der gedachten Gegenfrage: Warum nicht? Wessen Rechte sprechen dagegen?

Niemand muss begründen, dass er sich Freiheit nehmen möchte. Begründungen liefern müssen immer die anderen; also die, die Freiheiten beschränken. Das ist im Laufe der Jahrzehnte in verschiedenen Bereichen des Lebens wirksam geworden. Beim Datenschutz etwa: In einer Zeit, als der Staat plötzlich mit geringstem Aufwand Datenbanken seiner Bürger anlegen konnte, merkten Verfassungsrechtler an, dass dies ein Problem sei - weil auch der subtile Konformitätsdruck, der von jeder Überwachung ausgeht, die Freiheit schrumpfen lässt. Die Folge: Der Staat darf das nur tun, soweit er gute Gründe hat. Zum Schutz von Kriminalitätsopfern zum Beispiel.

Nirgends aber ist das Prinzip dann so klar geworden wie bei der Definition der Geschlechter, diesem uralten Spielplatz gestrenger Sittenwächter. Das Bundesverfassungsgericht suchte 1978 nach einem vernünftigen Grund dafür, dass das deutsche Recht Transgender-Menschen gegen deren Willen auf das Geschlecht bei ihrer Geburt festnagelte. Es fand keinen. Woraufhin der Bundestag zwar eine Anerkennung des empfundenen Geschlechts erlaubte, aber hohe Hürden aufstellte. Neben zwei psychologischen Gutachten verlangte er, dass Betroffene sich unters Messer legen: zur Sterilisierung und "deutlichen" Umgestaltung ihrer Genitalien.

Warum? Sieben Mal nahmen es einzelne Betroffene auf sich, ihre Probleme mit diesen Hürden durch alle Instanzen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe zu tragen; sieben Mal antwortete das Bundesverfassungsgericht schulterzuckend, dass sich für die jeweilige Hürde in der Tat keine vernünftige Rechtfertigung finden lasse. Die ursprünglich vorgesehene Altersgrenze von 25 Jahren: reine Willkür, fanden die Richter. Für das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit lasse sich ebenfalls kein sachlicher Grund erkennen. Für das Erfordernis der Ledigkeit auch nicht.

Und schließlich: Warum verlangt der Staat überhaupt, dass ein Mensch seine Genitalien herzeigt, bevor er für sein empfundenes Geschlecht staatliche Anerkennung bekommt? Die Karlsruher Richter erörterten dies lange. Wenn es einzelne Männer mit Vagina und einzelne Frauen mit Penissen geben sollte - würde das irgendjemanden in seinen Rechten verletzen? Die Richter, allesamt kühl abwägende, rationale Menschen, fanden dafür keine überzeugende Erklärung - und hoben 2011 den Operationszwang auf. Ein historischer Moment: Geschlecht im Rechtssinne ist seither nicht mehr zwingend an körperliche Bedingungen gekoppelt. Deutschland hat bei einer Rechtsentwicklung nachgezogen, die in Belgien, Finnland, Österreich, Schweden, Spanien und Großbritannien bereits zuvor vollzogen worden war.

So wie die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes eine stete Ermahnung an den Staat ist, Skrupel zu behalten, so ist Artikel 2, Absatz 1 seine liberale Seele. Skeptisch, nüchtern, und glücklicherweise zunehmend sichtbar.

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