Artikel 16a:Im Mittelpunkt

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Das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung ist seit Langem so umstritten wie keine andere Verfassungsbestimmung und wird immer weiter beschnitten. Die Antwort auf andere wichtige Fragen bleibt auf der Strecke.

Von Ferdos Forudastan

Eine lange Schlange von Männern, Frauen, Kindern, die meisten von ihnen gleichermaßen entkräftet wie erwartungsvoll einen deutschen Grenzübergang passierend; oder, umringt von jubelnden Bürgern, die sie willkommen heißen, staunend aus übervollen Zügen am Münchener Hauptbahnhof steigend; oder im deutschen Fernsehen vom Unglück des Krieges in der Heimat erzählend und vom Glück, hier, in Deutschland Schutz zu finden ...

Vier Worte sind es, die diese Bilder vor das innere Auge zurückholen: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" steht in Artikel 16a der Verfassung. Auf dieses Grundrecht haben sich sehr viele der Menschen berufen, die im Sommer 2015 und danach vor dem Krieg in Syrien, den blutigen Unruhen in Afghanistan und im Irak oder der Unterdrückung in Eritrea in die Bundesrepublik flohen. Mehr als eine Million von ihnen sind erst mal geblieben; die meisten fanden allerdings auf der Grundlage anderer Bestimmungen zumindest vorläufigen Schutz: der Genfer Flüchtlingskonvention etwa; oder weil Deutschland nicht in ein Land abschieben darf, wo dem Betreffenden Folter oder Tod drohen.

Das Wortarsenal der Kritiker reicht von "Scheinasylanten" bis "Herrschaft des Unrechts"

"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" war 1949 die Reaktion des Parlamentarischen Rates darauf, dass vom Nazi-Regime verfolgte Menschen anderswo aufgenommen, aber auch, dass sie nicht aufgenommen worden waren. Asyl nach der deutschen Verfassung bekommt freilich nur, wer nachweisen kann, dass er oder sie von seinem oder ihrem Heimatstaat individuell politisch verfolgt wird und nicht über einen sogenannten sicheren Drittstaat - also auf dem Landweg - hierhergekommen ist. Diese hohe Hürde nehmen weniger als zwei Prozent aller Geflüchteten, die Schutz erhalten. Trotzdem wird mit spitzen Fingern auf das Grundgesetz gezeigt, wenn der Streit um die Flüchtlingspolitik Deutschland durchrüttelt. Und das geschieht seit Jahrzehnten immer wieder. Das Thema sorgt für ein latentes Beben.

Kurz nach dem freundlichen Empfang etwa, den viele Bürger den Geflüchteten vor etwa dreieinhalb Jahren bereitet hatten, wurde die Kritik an Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik immer lauter und hässlicher. Die CSU attackierte die Kanzlerin unablässig, aber auch innerhalb ihrer CDU hatte sie einen zunehmend schweren Stand. Die AfD spülte der Streit in den Bundestag. Mittlerweile sitzt sie auch in jenen Landtagen, in denen sie vor 2015 nicht vertreten war. Gleichzeitig helfen bis heute Millionen ehrenamtlich engagierter Bürger den Geflüchteten, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden. Ihr Einsatz spielt auf der großen Bühne medialer Öffentlichkeit jedoch fast keine Rolle. Dass die Koalition die Flüchtlingspolitik kurz nach dem Sommer 2015 drastisch verschärfte, dass die Europäer sich mit allen möglichen Maßnahmen gegen Menschen in Not abschotteten und die Zahl der hierher Geflüchteten drastisch zurückgegangen ist, hat nichts daran geändert, dass das deutsche Asylrecht immer wieder unter massivem Beschuss von Teilen der Politik, der Medien und der Bevölkerung steht. So ist es heute, so war es früher.

Zum Beispiel Anfang der 90er-Jahre: Da tobte in Anbetracht vieler Flüchtlinge vor allem aus dem früheren Jugoslawien eine Asyldebatte, die dem Historiker Ulrich Herbert als eine der "schärfsten, polemischsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" gilt. Die Stimmung im Land war außerordentlich aufgeheizt, Rassisten setzten Unterkünfte von Asylsuchenden und Wohnhäuser von Einwanderern in Brand, Menschen starben. Die Wortführer der Hetzkampagne gegen das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung saßen unter anderem in der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. 1993 schränkte sie, zusammen mit der oppositionellen SPD, das Grundrecht auf Asyl weitgehend ein. Der ursprüngliche Verfassungsartikel 16 hatte festgehalten: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Diesen Satz übernahmen die beteiligten Parteien im neuen Artikel 16a zwar, bliesen diesen dann aber zu einem fünf geschwätzige Absätze langen Ungetüm auf. Es kassiert das im ersten Satz enthaltene Versprechen faktisch und spricht dem, was den Müttern und Vätern des Grundgesetzes mit dem Artikel 16 vor Augen stand, Hohn.

Die Geschichte des deutschen Grundrechts auf Asyl ist eine Geschichte wiederholter Einschnitte in dieses Recht - Einschnitte in Gestalt der Verfassungsänderung von 1993 und vieler restriktiver, einfacher Gesetze. Gewiss, Deutschland hat trotz alledem zahlreiche Flüchtlinge aufgenommen. Es hat sich um den Schutz von Menschen in Not sehr verdient gemacht. Das lag aber nicht zuletzt daran, dass manche Einschränkungen schlicht nicht so recht funktionierten - etwa die sogenannten Dublin-Verordnungen, wonach grundsätzlich der EU-Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, über den der Betreffende in die EU eingereist ist. Dass Deutschland Zuflucht Suchende beherbergt, hängt sehr stark auch mit internationalen Vereinbarungen wie der Genfer Flüchtlingskonvention zusammen, die einzuhalten es sich verpflichtet hat. Das alles ändert nichts an den Anfeindungen, denen das deutsche Asylgrundrecht immer wieder ausgesetzt ist - und am Misstrauen gegen die, die sich darauf berufen: "Scheinasylanten", "Asyltouristen", "Asylbetrüger" haben hochrangige Politiker sie genannt und wegen der Flüchtlinge vom "Staatsnotstand" fabuliert. Oder sie haben wegen der Situation an den Grenzen mit dem Wort von der "Herrschaft des Unrechts" Hass auf Schutzsuchende und auf die eigenen Regierung geschürt. Sie haben Menschen, die Geflüchteten helfen, als "Anti-Abschiebe-Industrie" verunglimpft.

Die Attacken gegen das Asyl kommen in Wellen. Jede dieser Welle kostet Zeit und Energie, die sich anderswo viel sinnvoller investieren ließe - jedenfalls dann, wenn man danach fragt, was vernünftig wäre, und was dem friedlichen Zusammenleben der Menschen diente. Vernünftig wäre es zum Beispiel schon vor Jahrzehnten gewesen, hätte die große Mehrheit der damals regierenden Union sich nicht mit aller Macht gegen die Einsicht gestemmt, dass man die Einwanderung, auf die dieses rasch alternde Land angewiesen ist, klug gestalten und eine Integrationspolitik betreiben muss, die diesen Namen verdient.

Jahr für Jahr sterben Tausende Migranten auf dem Weg nach Europa

Das hätte man spätestens in den 80er-Jahren diskutieren können, ja, müssen, was freilich nicht mal ansatzweise geschah. Stattdessen gab es schon damals reichlich Streit um den alten Artikel 16 - für den Migrationsforscher Klaus Bade kein Zufall: "Die lautstarke Asyldebatte lenkte ab von der Konzeptions- und Perspektivlosigkeit in der 'Ausländerpolitik' und von den vorwiegend deklamatorischen Bemühungen um eine verstärkte 'Integration' der Ausländerbevölkerung. Während die Diskussion um Lage, Probleme und Zukunft der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien im Laufe der 1980er-Jahre immer verhaltener wurde, verlief diejenige um 'Missbrauch des Asylrechts' umso schriller."

Nicht mal eine verhaltene Diskussion gibt es bis heute darüber, was es mit dem Kampf gegen Fluchtursachen auf sich hätte, wenn man dieses im politischen Diskurs so beliebte Schlagwort gemeinsam mit der Europäischen Union ernst nähme: dass es unter anderem eine restriktivere Rüstungsexportpolitik bedeuten würde, ein konsequentes Eintreten gegen die Erderhitzung oder eine Agrarpolitik, die Märkte in armen Ländern nicht kaputt macht. Und bis heute bleibt auch eine Debatte darüber aus, wie Europa legale Zugangswege für einen Teil der Menschen schaffen könnte, die nicht vor Verfolgung oder Krieg fliehen, sondern bessere Lebensperspektiven suchen, deren Arbeitskraft auch gebraucht würde und denen man die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer oder durch die Wüste ersparen könnte, bei der Jahr für Jahr Tausende Migranten sterben.

Nein, der Artikel 16a ist nicht dazu da, jedem, der hierherkommen möchte, das auch zu ermöglichen. Nein, längst nicht alle, die Schutz begehren, haben auf ihn einen Anspruch im Sinne des Grundgesetzes, der Genfer Flüchtlingskonvention oder anderer Regelungen. Und nein, die Rückführung der Menschen, denen Behörden und Gerichte kein Bleiberecht zusprechen, funktioniert nicht immer so, wie sie funktionieren müsste. Aber auch all das zusammengenommen rechtfertigt es nicht, das Asyl- und Flüchtlingsrecht immer wieder zu verhetzen, immer weiter zu beschneiden.

Wer Schutz beantragt, dessen Anliegen muss ernsthaft geprüft, gegebenenfalls auch gerichtlich überprüft werden: Dieser Grundsatz veraltet nicht. Nicht nach 70 Jahren, nicht darüber hinaus.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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