Artikel 5:Wasseradern der Demokratie

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Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind wie gewaltige Ströme. Nicht alles, was da schwimmt, ist sauber; nicht alles, was da treibt, ist kostbar. Trotzdem kennzeichnen diese Ströme das Wesen des Rechtsstaates.

Von Heribert Prantl

Die Meinungsfreiheit ist die Grundlage jeder Freiheit überhaupt. So steht es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1958. Dieses sogenannte Lüth-Urteil ist eines der wichtigsten Urteile, die von diesem Gericht je gefällt wurde. Auslöser für das Urteil war ein Fall, der aufs Engste mit der deutschen Geschichte verbunden ist: Der Regisseur Veit Harlan hatte 1940 den antisemitischen Hetzfilm "Jud Süß" gedreht. Als Harlan dann 1951 den Film "Unsterbliche Geliebte" mit Kristina Söderbaum in die Kinos brachte, rief Erich Lüth, Chef des Hamburger Presseamtes, zum Boykott auf - und zog damit Klagen der Filmverleiher auf sich. Erst vor dem Verfassungsgericht bekam er recht: Es urteilte, dass Grundrechte, in diesem Fall die Meinungsfreiheit, nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat sind, sondern dass sie auch Wirkung entfalten im Verhältnis der Bürger untereinander. Die Grundrechte wurden so zu einer Lebensordnung, auf die sich jeder und jede im Alltag und per Verfassungsbeschwerde berufen kann.

Guter Journalismus geht über das Aufdecken hinaus, er ist Motor für Veränderungen

Die Meinungsfreiheit ist für die Demokratie "schlechthin konstitutiv", wie es im Lüth-Urteil heißt. Das heißt nicht, dass sie nicht einschränkbar wäre; aber solche Einschränkungen bedürfen ganz besonderer Rechtfertigung: Schmähkritik darf nicht sein. Und die NS-Gräueltaten dürfen nicht geleugnet, gebilligt oder verharmlost werden. Warum nicht? Die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes verkörpern die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen. Diese Erinnerung darf nicht verwüstet werden durch die militante Beleidigung der Opfer.

Die Meinungsfreiheit und die Presse- und Medienfreiheit gehören zusammen; sie sind beide Inhalt und Gehalt des Artikels 5. Die Medien sind die Institutionen, in denen sich die Meinungsfreiheit besonders wirksam entfaltet. Die Pressefreiheit ist also ein Leuchtturm-Grundrecht; es gibt der Meinungsfreiheit besondere Strahl- und Wirkkraft.

Es gibt viele Länder, die diesen Leuchtturm abgeschaltet haben; Länder, in denen Journalisten damit rechnen müssen, dass nachts die Geheimpolizei bei ihnen die Tür eintritt. Die Pressefreiheit ist in diesen Ländern nur zwei mal drei Meter groß, so groß wie eine Gefängniszelle. In diesen Ländern wird darum gerungen, dass das eigentlich Selbstverständliche selbstverständlich wird: dass Journalisten einigermaßen frei arbeiten können. In diesen Ländern, wissen die Menschen, was die Pressefreiheit wert ist. Sie wissen es, wie es die ersten deutschen Demokraten gewusst haben, als 1832 beim Hambacher Fest und 1848 in der deutschen Revolution alle politischen Sehnsüchte in diesem einen Wort mündeten: Pressefreiheit.

Pressefreiheit war die Hauptforderung auf dem Hambacher Schloss, bei der ersten deutschen Großdemonstration, deren Hauptorganisator Johann Jakob Siebenpfeiffer war. Dieser kämpferische Mann, geboren im Revolutionsjahr 1789, war einer, der sich den Mund nicht verbieten und den Schneid nicht abkaufen ließ. Er war ein bürgerlicher Revolutionär, demokratischer Volksmissionar, Journalist, Verleger und Streiter gegen die Zensur. Als die Regierung des Königs seine Druckerpresse versiegelte, verklagte er sie mit dem Argument: Das Versiegeln von Druckerpressen sei genauso verfassungswidrig wie das Versiegeln von Backöfen. Das ist ein wunderbarer Satz, weil darin die Erkenntnis steckt, dass Pressefreiheit das tägliche Brot bäckt für die Demokratie. Das ist die Hambacher Schlosserkenntnis von 1832, das ist die demokratische Ur-Erkenntnis.

Hambach war damals, in den ersten Tagen der deutschen Demokratie, der Boden, in den die Freiheitsbäume gepflanzt wurden. Heute sind diese Freiheitsbäume verwurzelt, sie sind groß gewachsen, sie werden gepflegt von den Verfassungsgerichten. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Systemrelevanz der Presse in großen Urteilen bestätigt. Im Spiegel-Urteil von 1966, im Cicero-Urteil von 2007: "Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse" ist ein "Wesenselement des freien Staates". Und: Die Presse ist ein "ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung". Das ist nicht ganz so plastisch formuliert wie im Satz vom Backofen, bedeutet aber nichts anderes: Pressefreiheit sorgt für das tägliche Brot der Demokratie. Für solche Sätze wurde einst Siebenpfeiffer ins Gefängnis geworfen und musste dort wöchentlich drei Paar wollene Socken stricken. Hätte er geahnt, dass sein Diktum eines Tages vom höchsten Gericht so gerühmt werden würde - er hätte vor Freude sechs Paar Socken gestrickt.

Es ist freilich festzustellen, dass mit den feierlichen Urteilssentenzen im politischen und gesetzgeberischen Alltag so umgegangen wird, wie das eine Familie mit dem Weihnachtsschmuck tut: Erst wird der glitzernde Tand an den Baum gehängt - und dann wieder weggepackt. Die goldenen Sätze der obersten Gerichte haben es nicht verhindern können, dass es in ganz Europa staatliche Versuche gibt, die Pressefreiheit zu fesseln. Da gibt es Vorratsdatenspeicherungsgesetze, welche Durchsuchungsaktionen in Redaktionen ziemlich überflüssig machen, weil die Ermittlungsbehörden ohnehin nachschauen können, mit wem ein Journalist telefoniert hat; da gibt es in vielen Ländern Europas die Möglichkeit zur Online-Durchsuchung der Computer; auch Journalisten-Computer sind davon betroffen. Die Pressefreiheit muss, so ist es seit längerer Zeit, beiseite springen, wenn der Staat mit Blaulicht, also mit Sicherheitsinteressen daher braust.

Manchmal kommt einem die Pressefreiheit vor wie ein einbalsamiertes Grundrecht, prächtig präpariert von Verfassungsrichtern, so dass sie fast lebendig ausschaut. Bisweilen wird das Tier abgestaubt, der Biologielehrer stellt es vor der Klasse auf und erzählt dann, was das Tier gemacht hat, als es noch gelebt, gejagt und gefressen hat. Manchmal geschieht ein Wunder: Dann wird die Pressefreiheit gefährlich lebendig, dann rückt die Pressefreiheit den Mächtigen so nahe rückt, dass sie einen wirklichen Skandal entdeckt. Aber so ein Skandal hält dann nur für gewisse Zeit, denn alsbald wird schon wieder, wie es im Jargon heißt, eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Es fehlt, in der Politik wie in den Medien, der lange Atem. Gleichwohl: Die Wochen, in denen ein nachhaltig aufklärender Journalismus in die dunklen Ecken unseres Gemeinwesens leuchtet, zeigen die Aufklärungs- und Aufdeckungsmacht der Presse, ihre überlegene Aufdeckungskompetenz.

Die Wahrheit soll ans Licht: Dafür ist der Journalismus, dafür ist die Pressefreiheit da. Als die "Panama Papers" veröffentlicht wurden und dann die "Paradise Papers", waren das Licht- und Sternstunden der Pressefreiheit. Das Besondere an diese Publikationen war und ist die weltweite Kooperation der Journalisten. Üblicherweise kümmern sich Journalisten nur um die Skandale, die in ihrem jeweiligen Land passieren. Dass Journalisten auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, um ein Netzwerk von Steuerhinterziehung aufzudecken, eröffnet dem Journalismus neue Perspektiven. Viele gesellschaftspolitische Fragen werden ja bisher vornehmlich in den nationalen Bereichen diskutiert; und vielleicht macht gerade diese nationale Betrachtung der Dinge die Lösung so schwer.

Erstmals wurde mit und in den "Panama-Papers" eine weltweite Plage, die mangelnde Transparenz bei finanziellen Transaktionen, global betrachtet. Es geht ja hier nicht nur um Steuerbetrug, sondern auch um Vermeidung von missliebigen Gesetzen und Pflichten, um Geldwäsche, um schwarze Kassen. Auf den Panama- und den sonstigen Geheimkonten liegen die Gelder, mit denen Kleptokraten ihr Land ausplündern. Dort werden Gelder für den Terrorismus versteckt. Die "Panama"- und "Paradise-Papers" offenbarten die gigantische Dimension dieser schmutzigen Geschäfte. Das war und ist eine Sensation.

Die Wahrheit soll ans Licht - aber wenn der Journalismus bei der Aufdeckung stehen bleibt, macht er nur die halbe Arbeit. Die Aufdeckung von Skandalen hat oft Krisen zur Folge: Regierungskrisen, Staatskrisen, die Krise einer Bank, die Krisen eines Unternehmens. Nicht die Krise ist gefährlich, gefährlich ist das Versagen bei ihrer Aufarbeitung und Bewältigung. Guter Journalismus geht daher über das Aufdecken hinaus. Er ist Moderator und Motor für Veränderungen, die die aufgedeckten Missstände abstellen. Das ist so wichtig wie das Aufdecken. Das ist Pressefreiheit.

Aufdeckung ist nicht Selbstzweck, Aufdeckung darf nicht Kikeriki-Journalismus sein. Pressefreiheit ist ja nicht die Freiheit zur journalistischen Selbstbefriedigung, Pressefreiheit ist nicht dafür da, den Journalisten lust- und machtvolle Gefühle plus Journalistenpreise zu verschaffen. Sie ist auch nicht die Freiheit zur Selbstermächtigung und Selbstbefriedigung, wie sie sich seinerzeit am Bundespräsidenten Christian Wulff ausgetobt hat. Die Pressefreiheit ist für die Demokratie da - und Demokratie ist etwas anderes als eine Meute, die Beute will. Es ist nicht Aufgabe der Medien, einen Rücktritt zu erzwingen. Ein Rücktritt ist nicht die den Medien zustehende Bestätigung und Belohnung für die Aufdeckung einer echten oder angeblichen Affäre. Und das Ausbleiben eines heftig geforderten Rücktritts ist kein Angriff auf die Freiheit der Presse.

Die Meinungs- und Pressefreiheit ist wie ein großer Strom, wie der Rhein, die Donau oder der Nil; sie ist ein großer Strom wie die Kunstfreiheit, wie der Sambesi, der Amazonos und der Jangtsekiang. Nicht alles, was da schwimmt, ist sauber; und nicht alles, was da treibt, ist kostbar. Die Meinungsfreiheit trägt gewöhnliche und außergewöhnliche Meinungen, moderate und radikale; die Pressefreiheit trägt wertvolle und wertlose Artikel und Sendungen, anständige und anstößige Fotos, sie erträgt langweilige und provozierende Karikaturen, sie trägt kluge Aufklärung und ungute Meinungsmache. Meinungs- und Pressefreiheit unterscheiden nicht nach Qualität; das darf nicht sein, weil sonst der, der über die Qualität urteilt, nach seinem Gusto den Schutz der Pressefreiheit gewähren und entziehen könnte. Pressefreiheit wäre dann kein Grundrecht, sondern ein Gnadenrecht, abhängig vom Geschmacksurteil.

Meinungs- und Pressefreiheit funktioniert also nicht nach dem Prinzip, mit dem Aschenputtel die Linsen sortiert hat: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Wer Pressefreiheit unter den Vorbehalt politischer oder künstlerischer Qualität stellen will, macht sie kaputt. Die Grenzen der Meinungs- und der Pressefreiheit setzt nicht der Takt, sondern das Recht - das Strafrecht, das Zivilrecht, das Presserecht. Gleichwohl ist nicht alles toll, was nicht rechtswidrig ist. Es hat seinen Grund, warum es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt: Pressefreiheit ist die Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert. Wird dieser Grundsatz nicht mehr geachtet, würde das Grundrecht grundlos. Dann verlören Zeitungen, dann verlöre der Journalismus seine Zukunft.

Als 1962 Franz Josef Strauß, Verteidigungsminister der Regierung Adenauer und Chef der CSU, die Besetzung des Spiegel und die Verhaftung der führenden Köpfe des Hamburger Nachrichtenmagazins organisierte, erwachte erstmals die grundrechtliche Leidenschaft der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Franz Josef Strauß musste gehen - und der Obrigkeitsstaat musste abdanken

Die Bürger damals gingen auf die Straße. Und nicht nur im Hamburger Schauspielhaus kam es zu Szenen wie dieser: Als bei der Don-Carlos-Aufführung der Satz fiel "Sire, geben Sie Gedankenfreiheit" erhob sich das Publikum von den Sitzen. Die Bürger waren empört, entsetzt - und erfolgreich. Sie ließen sich die Lügen von Strauß nicht bieten, der den Bundestag und die Öffentlichkeit tagelang mit Falschauskünften ("Ich habe mit der Sache nichts zu tun") zum Narren hielt. Lässt sich zwei Generationen später die Weltöffentlichkeit von einem lügenden US-Präsidenten zum Narren halten?

Damals ging nicht die Presse, damals ging nicht der Spiegel ein, wie Strauß es gewollte hatte, sondern Strauß ging ein, zunächst zumindest: Er musste also als Minister gehen; und der Obrigkeitsstaat musste abdanken. Man sollte Strauß also eigentlich dankbar sein: Er hat die Bundesrepublik durch seine Maßlosigkeit von 1962 demokratisiert. Deutschland hatte sozusagen schon vor 57 Jahren einen Trump, einen bayerischen. Mit seinem Reden und mit seinem Tun mobilisierte er zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine kritische Öffentlichkeit, deren Kritik von den Medien geleitet und gebündelt wurde und wird. Man wünscht sich im Jahr 2019, dass es Trump so ergeht, wie es Strauß 1962/63 ergangen ist.

Einen gewissen Dank hat sich Trump freilich verdient: Er hat den bequemen Glauben daran zerstört, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Kernstaaten der sogenannten freien Welt sich, und sei es auch langsam, quasi automatisch weiterentwickeln. Wir lernen: nichts, gar nichts geht von selbst. Aufklärung ist nicht einmal vom Himmel gefallen und dann für immer da; in den USA nicht, in Frankreich nicht, in Deutschland auch nicht. Das Sichergeglaubte ist nicht sicher, weil Aufklärung nicht ein einmaliges Ereignis darstellt. Aufklärung ist immer notwendig. Der journalistische Beruf und die Pressefreiheit sind genau dafür, für diese Aufklärung, da.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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