Soziales Engagement:Helfen statt Fliegen

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Kerstin Traube hilft bei der Tafel im Münchner Westend beim Verteilen an Bedürftige mit. (Foto: Sebastian Gabriel)

Weil ihre Maschinen am Boden bleiben, packen Flugbegleiter und Piloten gerade bei der Münchner Tafel mit an. Das ist gut - auch fürs eigene Selbstwertgefühl.

Von Christina Hertel

Zwischen Daumen und Zeigefinger hält Kerstin Traube eine Weintraube hoch. Zuvor hat sie jede Beere abgefriemelt, die etwas matschig, bräunlich oder schimmelig war. Dann sagt sie laut: "Wunderschön. Süß. Knackig." Kerstin Traube ist 58 Jahre alt, trägt eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern, eine blaue Schürze, um ihren Hals baumelt ein kleines rotes Taschenmesser, und sie klingt, als würde sie im Fernsehen eine Standlfrau auf dem Münchner Viktualienmarkt spielen. Dabei tragen die gut 150 Männer und Frauen vor ihr keine Einkaufskörbchen. Sie schleppen Rucksäcke, ziehen Trolleys und Leiterwagen, halten in jeder Hand mehrere große Plastiktüten, in die sie all das schichten, was sie in einer Woche essen wollen und an diesem Nachmittag tragen können.

Eigentlich arbeitet Kerstin Traube als Flugbegleiterin bei der Lufthansa. Doch seit der Konzern Anfang April 87 000 Mitarbeiter in Kurzarbeit schickte, schenkt sie nicht mehr hoch in den Lüften Tomatensaft aus, sondern verteilt Obst - an Menschen, denen, wenn sie ihre Miete bezahlt haben, nicht mehr als der Hartz-IV-Satz von 432 Euro bleibt. Jeden Donnerstag hilft Kerstin Traube im Innenhof einer Backsteinkirche bei der Münchner Tafel. Für gut sechs Stunden hat sie dann Kollegen um sich, mit denen sie sofort in ein Flugzeug steigen und abheben könnte.

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Wie ist das, wenn man bisher zu den Dienstleistern einer erfolgsverwöhnten Branche gehört hat und sich nun mit dem Stillstand arrangieren muss? Und was lernt man, wenn man buchstäblich aus allen Wolken fällt und sich auf einmal in einer neuen Realität wiederfindet?

Die Helfer wissen, wie das ist: aus allen Wolken zu fallen

Fast die Hälfte der zwanzig Ehrenamtlichen, die hier Lebensmittel ausgeben, arbeitet in der Flugbranche: Bei den Melonen, bei den Mangos und allem anderen Obst, das die Helfer "Exoten" nennen, steht Pilot Joachim Castro-López, 45 Jahre alt. Als Kind habe er Segelflieger auf einem Flugplatz bei Köln beobachtet und als junger Mann 100 000 Mark für seinen Pilotenschein ausgegeben, erzählt er. Beim Brot steht Flugbegleiter Alejandro Garcia, der seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen will, weil er Angst hat, dann den Job zu verlieren, der ihn von einem kleinen Dorf in Südeuropa in Metropolen wie New York und Mexico-Stadt brachte. Ganz hinten bei der Schuhcreme und der Schokolade steht Jens Schröder, 55, der einen Gehirntumor besiegte, Laufen und Sprechen neu erlernte, um an die Zeit anzuknüpfen, die er die "geilste seines Lebens" nennt: an seine Jahre als Flugbegleiter. Und bei den Weintrauben steht eben Kerstin Traube. Vor ihrer Bewerbung als Flugbegleiterin Mitte der Achtzigerjahre habe sie sich tagelang nur von Knäckebrot und grünen Äpfeln ernährt, um in die Uniform Größe 36 zu passen.

Seit Corona die Fluglinien zwang, fast all ihre Flüge zu streichen, kann man bei der Münchner Tafel viele solcher Geschichten über die Fliegerei hören. Sie beginnen meist mit dem Wort "Traum" und enden mit einer langen Aufzählung von all dem, was nun fehlt: dass die Luft nach Kerosin riecht. Dass die Sonne über den Wolken jeden Tag scheint. Dass eine Crew wie eine Familie ist, in der sich am Anfang niemand kennt und in der alle nach drei Tagen im selben Flugzeug, in denselben Hotels oder Bars mit "Tränen in den Augen nach Hause gehen", sagt Kerstin Traube. Auch bei der Tafel kannte sich von den Flugbegleitern und Piloten fast keiner. Wie kommt es, dass sie alle hier gelandet sind? Man könnte das für einen absurden Zufall halten oder für ein arrangiertes Sozialprojekt, aber beides stimmt nicht. Denn wenn man diesen Leuten zuhört, dann erfährt man, dass es eine innere Logik hat, dass sich ausgerechnet Flugbegleiter und Piloten bei der Tafel engagieren.

Ein Team: Flugbegleiter und Piloten sind ehrenamtlich dabei, wenn es um die Verteilung von Lebensmitteln geht. (Foto: Sebastian Gabriel)

"Wer als Flugbegleiter arbeitet", sagt Kerstin Traube, "hat ein Helfersyndrom." Sie sei an Bord Therapeutin, Mutter, Gastgeberin, Trösterin, und das wolle sie auch am Boden sein. Sie erzählt das, als sie Melonen, Weintrauben und Nektarinen sortiert, zwei Stunden bevor die Gäste kommen. Mit Mitte zwanzig bekam Kerstin Traube eine Stelle als Flugbegleiterin bei der Lufthansa. "Na, da schau an, das Fräulein arbeitet jetzt als Stewardess, haben die Nachbarn damals gesagt." Ihr Tonfall klingt, als hätten die Leute gemeint, sie sei schon fast im Fernsehen.

Mit Mitte fünfzig fing Kerstin Traube nach fast 20 Jahren Pause, nach der Scheidung, nach dem Tod ihres Hundes, nach dem Auszug ihrer beiden Töchter, noch einmal bei der Lufthansa an. Plötzlich sei es den Leuten egal gewesen, welche Farbe ihre Uniform hat, sagt Traube. Nur ihr selbst nicht. "Ich flieg Kranich oder gar nicht", sagt eine andere Flugbegleiterin Anfang dreißig. Kerstin Traube nickt. Die Frauen klingen beide fast ein wenig, als hätte die PR-Abteilung von Lufthansa sie geschickt, aber es ist ehrlicher Stolz auf ihren eigentlichen Job, und das in diesen Zeiten, in denen für viele Fliegen so alltäglich geworden ist wie eine Bahnfahrt.

"Oha, der Pilot arbeitet", sagt Kerstin Traube und deutet mit dem Kinn Richtung Joachim Castro-López, der eine Kiste Melonen in den Innenhof trägt. Sie meint es als Scherz. Er sagt später, dass die Zeiten, in denen Piloten als Götter in Blau galten, wohl vorbei sind. Doch ihm seien andere Dinge ohnehin wichtiger - etwa dass man sich im Cockpit gegenseitig verbessert und dass in einer Crew niemand etwas verheimlichen kann.

Die fetten Jahre in der Fliegerei sind vorbei, sagt der Pilot

Um kurz nach 13 Uhr kommen die ersten Gäste, die bei der Tafel so heißen, weil die Lebensmittel ein Geschenk sind. "Sie sind hier in keinem Supermarkt", sagt Pilot Castro-López zu einer Frau, die eine Schale Himbeeren doch nicht einpacken will, weil ein paar darin matschig sind. Sie hat sie angefasst, also muss sie die Himbeeren auch mitnehmen - so sind die Regeln in einer Welt, in der die Menschen manchmal eine Stunde in einer Schlange warten, aber nichts für ihren Einkauf bezahlen müssen. "Manchmal schlage ich vielleicht ein bisschen über die Stränge", sagt Castro-López.

Sie wolle einfach nur, dass alle "happy" sind, sagt Kerstin Traube. Egal ob am Boden oder in der Luft. Als ein Herr keine Äpfel, keine Bananen, keine Birnen möchte, hält sie ihm Trauben hin. "Die schmecken ihrer Frau bestimmt. Die kann man so schön vor dem Fernseher naschen." Er nimmt sie mit, und es wirkt, als hätte er ihr einen Gefallen getan. Tatsächlich spenden Supermärkte manchmal von bestimmten Lebensmitteln mehr, als die Helfer verteilen können. In der vergangenen Woche hat Kerstin Traube die Erdbeeren haufenweise verteilt und am Ende immer selbst noch ein paar Schalen mit nach Hause genommen - "eher aus Mitleid", sagt sie. Denn die Reste muss die Tafel wegschmeißen. "Wenn es an Bord von einem Gericht zu viel gibt, sage ich auch immer: Mit einem Glasl Rotwein schmeckt das ganz wunderbar." Kerstin Traube macht einen kleinen Knicks. "Ach Gott, wie ich das vermisse. Wenn ich wieder fliegen darf, werde ich jeden Gast umarmen", sagt sie. Bis Oktober sollen bei der Lufthansa die meisten Flugzeuge wieder am Himmel sein. Doch ob das klappt, hängt auch davon ab, wie groß die Nachfrage ist. Auf Kerstin Traubes Profilbild bei Whatsapp hält ein Pilot ein Schild hoch. "Kauft Flugtickets, so wie ihr Klopapier gekauft habt", steht auf Englisch darauf.

Bei der Tafel bedienen Traube und Castro-López Menschen, die von nicht mehr Geld leben als ein Hartz-IV-Empfänger. Doch bis Ende Juni, bis die Regierung sich entschied, die Lufthansa mit neun Milliarden Euro zu retten und die Aktionäre dieses Geld annahmen, hatten sie selbst Angst um ihre Jobs. Früher steuerte Castro-López Frachtflugzeuge. "Cargo motzt nicht, Cargo kotzt nicht, haben da viele gesagt." Er selbst trage zwar lieber Verantwortung für Menschen als für Kisten. Doch inzwischen sei es ihm egal, was er transportiere. Hauptsache, fliegen. Er rechnet damit, dass er in Zukunft in Teilzeit arbeiten muss und dass sich sein Einkommen dieses Jahr etwa halbiert. Doch selbst das spielt für ihn keine große Rolle. "Ich kann gut in München leben." Wie viel er verdient, will er nicht sagen - weil er keinen Neid schüren wolle.

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Das Gehaltsgefälle verläuft bei der Tafel nicht nur quer über die Bierbänke, über welche die Helfer das Essen reichen, und die Unsicherheit begann für viele nicht erst mit Corona. Jens Schröder, der ganz hinten Schokolade und Schuhcreme ausgibt, hatte vor sechs Jahren, mit Anfang fünfzig, einen Gehirntumor. Danach konnte er nicht laufen, nicht sprechen, zwei Jahre nicht mehr als Flugbegleiter arbeiten. "Als ich danach das erste Mal wieder in New York gelandet war, stellte ich mich zwischen die Häuserschluchten und brüllte: Ich bin wieder da. I'm back." So glücklich sei er gewesen. Doch dann ging 2017 sein Arbeitgeber Air Berlin pleite, und er fing bei Condor an. Plötzlich habe er nur noch die Hälfte verdient, sagt er. Weil er davon in München seine Miete nicht mehr bezahlen konnte, suchte er sich noch einen 450-Euro-Nebenjob als Verkäufer, in dem Beruf, den er als junger Mann erlernt hatte.

Doch Schröder wollte Flugbegleiter bleiben, obwohl er durch den Tumor seinen Gleichgewichtssinn verloren hatte und er sich ständig fühlte, als ob er drei Bier getrunken hatte. An Bord habe er versucht, das zu verheimlichen. Erst als er nach einem Streit mit einem Gast zusammengebrochen sei, habe er die Rente beantragt, bewilligt wurde sie noch nicht. "Viele Menschen denken, Flugbegleiter ist kein richtiger Beruf, sondern ein Job, den jeder machen kann", sagt Schröder. "Heute wollen die Menschen alles billig. Der Geiz zieht sich wie ein roter Faden durch die Gesellschaft." Schröder nimmt zwei Hände voller Schokoriegel und schüttet sie in den Beutel einer Frau. Sie schaut ihn mit großen Augen an. Die fetten Jahre in der Fliegerei seien jedenfalls vorbei, da ist er sich sicher.

Alejandro Garcia hofft trotzdem, möglichst viele Jahre vor sich zu haben. "Gerade fühle ich mich wie ein Vogel ohne Flügel", sagt der 30-Jährige. Bei der Tafel verteilt er am liebsten Brot. Als ein weißhaariger Herr vor ihm steht, drückt er einen Laib mit den Finger zusammen. "Alten Menschen darf man kein zu hartes geben", sagt er leise. Garcias Eltern arbeiteten als Landwirte, einen Urlaub konnten sie sich nicht leisten. Doch als er mit 14 das erste Mal in einem Flugzeug saß, um Verwandte in Deutschland zu besuchen, habe er gewusst, dass er einmal als Flugbegleiter die Welt erkunden wolle. Für diesen Traum zog er nach München, lernte Deutsch. Doch gerade könnte er sich selbst in die Schlange bei der Tafel stellen. Er bekomme 900 Euro Kurzarbeitergeld und zahle 700 Euro Miete. All seine Ersparnisse, etwa 6000 Euro, habe er nun ausgegeben. Er brauche einen Nebenjob, ganz egal welchen. "Ich würde auch Klos putzen."

Um kurz nach 17 Uhr ist die Menschenschlange aus dem Innenhof verschwunden. Ein paar Kisten Gemüse stehen noch da. Was übrig geblieben ist, dürfen die Helfer nehmen. Flugbegleiterin Kerstin Traube holt sich dann aus dem Kühllaster gerne einen kalten Cappuccino zur Erfrischung. Pilot Castro-López packt nie etwas ein. Alejandro Garcia stopft eine Tasche mit Gemüse voll. Paprika, Zwiebeln, Karotten und Gurken sind darin. Ganz oben liegen drei Pfandflaschen.

© SZ vom 13.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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