Anschläge in Norwegen: Traumabewältigung:"Viele sehen die eiskalten Augen des Täters immer wieder"

Wie können es Betroffene schaffen, die furchtbaren Erinnerungen an die Anschläge in Norwegen zu verarbeiten? Was können Angehörige tun? Und wie wird Norwegen als Land aus dieser Krise hervorgehen? Ein Gespräch mit dem Traumatherapeuten Christian Lüdke über Bewältigung und seine Erfahrungen mit den Amokläufen in Erfurt und Winnenden.

Daniela Dau

Christian Lüdke ist Traumatherapeut in Essen und hat Opfer der Anschläge vom 11. September in New York und der Amokläufe in Erfurt und Winnenden betreut. Im Gespräch mit sueddeutsche.de erklärt er, wie sich die Betroffenen der Anschläge in Norwegen fühlen müssen, wie man mit solchen traumatischen Erfahrungen umgehen kann - als Einzelner und als ganzes Land.

sueddeutsche.de: Viele der Betroffenen werden vermutlich immer noch unter einem sehr starken Schock stehen. Wie äußert sich das?

Christian Lüdke: In solchen Stresssituationen schüttet der Körper riesige Mengen an Adrenalin, Noradrenalin und körpereigenen Opiaten aus. Dies führt dazu, dass Denken, Fühlen und Handeln entkoppelt werden. Viele sehen Reaktionen an sich, die sie so vorher gar nicht kannten. Manche sind wie in einer gefühlsmäßigen Vollnarkose, andere sind sehr aufgedreht, wieder andere niedergedrückt und traurig. Dieser akute Schockzustand kann bis zu zehn, vierzehn Tagen andauern.

sueddeutsche.de: Was passiert danach?

Lüdke: Dann können drei Kernsymptome auftreten: Viele werden sehr belastende Erinnerungsbilder in sich tragen. Sie sehen immer wieder den eiskalten Blick des Täters, sie hören das Peitschen der Schüsse, sie nehmen Gerüche oder Körper- und Sinneseindrücke wahr - das ist quasi wie ein Kopf-Kino, das auf allen Sinnesebenen abläuft. Sie werden außerdem möglicherweise ein sehr starkes Vermeidungsverhalten zeigen, also alles zu umgehen versuchen, was sie an das Erlebte erinnert. Wenn sie zum Beispiel einen Polizisten in Uniform sehen, wenn sie den Namen des Täters hören, dann werden all diese Erinnerungen wieder aufgewühlt. Und viele werden Erregungssymptome zeigen, sie werden Schlaf- und Essstörungen haben, vielen wird übel sein, dauerhaft. Diese Phase kann sich über mehrere Monate hinziehen.

sueddeutsche.de: Wer ist besonders anfällig?

Lüdke: Besonders hoch sind die gefährdet, die Vortraumatisierungen erlitten haben, wie Trennungen, den Tod naher Angehöriger, Krankheiten, Unfälle. Alleinstehende mit nur wenigen Kontakten, die unzufrieden sind mit ihrem beruflichen wie privaten Leben, haben ein erhöhtes Risiko, längere Zeit unter einem solchen Erlebnis zu leiden oder sogar schwer zu erkranken. Dagegen haben Menschen, die eine Familie und Freunde haben und mit sich und ihrem Leben zumindest mittelgradig zufrieden sind, sehr gute Voraussetzungen, so ein Erlebnis für sich alleine zu verarbeiten. Am Ende sind es etwa zehn Prozent der Betroffenen, die später auch professionelle Hilfe benötigen.

sueddeutsche.de: Nicht alle benötigen professionelle Hilfe bei der Verarbeitung?

Lüdke: Nein. Diese Menschen sind ja nicht krank im therapeutischen Sinne. Sie haben etwas sehr Außergewöhnliches erlebt und zeigen sehr außergewöhnliche Symptome. Aber egal, welche Symptome sie zeigen: Das sind immer normale Reaktionen auf das Ereignis. Was sie brauchen, sind stabile Bezugspersonen. Schon ein bester Freund, eine beste Freundin, ein naher Angehöriger sind für den Betroffenen als Hilfe ausreichend. Eine stabile Person, die unmittelbar anwesend ist, die stellvertretend Zuversicht und Hoffnung vermittelt, die tröstet, die nicht weinend vom Stuhl fällt, wenn die Betroffenen von den schlimmen Erlebnissen berichten. Jemand, der äußere Dinge regelt, Aufgaben im täglichen Leben übernimmt. Fehlen diese, dann kommen Experten wie Medizinier, Psychologen und Therapeuten ins Spiel.

sueddeutsche.de: Wie verhalten sich Angehörige und Freunde richtig?

Lüdke: Angehörige und Freunde sollten keine Vorwürfe machen, nach dem Motto "Warum musstest du auch auf diese Insel fahren?!" Man sollte den Betroffenen außerdem selbst überlassen, ob und in welcher Form sie das Erlebte thematisieren oder besprechen müssen und wollen. Reden hilft oft nicht. Es gibt Menschen, wenige, denen hilft es, immer wieder über das Erlebte zu sprechen. Anderen hilft es, wenn sie Musik machen, Sport treiben, wenn sie kreativ sind oder sich auch einfach nur zurückziehen und für sich alleine sein wollen. Ganz wichtig ist, dass die Betroffenen viel Ruhe und Abstand haben, damit diese Selbstheilungskräfte in Gang gesetzt werden können. Je größer die Wertschätzung ist, die die Betroffenen erfahren, desto größer sind ihre Heilungschancen.

Mitglieder einer Schicksalsgemeinschaft

sueddeutsche.de: Also nicht zu schnell wieder in den Alltag einsteigen?

Lüdke: Ich würde nicht zu schnell wieder in die Normalität des Alltags zurückkehren. Hier ist nichts mehr so, wie es vorher war. Das grundlegende Sicherheitsgefühl ist massiv erschüttert worden. Man braucht, individuell verschieden, zunächst Ruhe und Abstand.

sueddeutsche.de: Wie wichtig ist die Nähe von anderen, die dasselbe erlebt haben?

Lüdke: Das kann in der Anfangsphase ganz wichtig sein, weil diese Menschen eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Auch öffentliche Rituale wie gemeinsame Trauerfeiern sind wichtig, um in den Trauerprozess einzusteigen. Zu wissen "Ich bin nicht der Einzige" kann helfen - aber nur am Anfang. Später ist es wichtig, sich auch zurückzuziehen. Denn wenn ich nur mit den anderen Betroffenen zusammen bin, aktiviert das Erinnerungsbilder.

sueddeutsche.de: Macht es einen Unterschied für die Betroffenen, ob sie Opfer einer Naturkatastrophe wie zum Beispiel in Japan geworden sind oder, wie auf der Insel in Norwegen, gezielt ausgesuchte Opfer?

Lüdke: Das macht in der Tat einen Unterschied. Internationale Studien, die sich mit den Betroffenen von Terroranschlägen, Banküberfällen, Wohnungseinbrüchen und eben Naturkatastrophen beschäftigt haben, zeigen: Nach all diesen Ereignissen haben die Opfer von Naturkatastrophen die besten Heilungsverläufe. Nur etwa zwei Prozent dieser Opfer entwickeln schwere seelische posttraumatische Belastungsstörungen.

sueddeutsche.de: Warum ist das so?

Lüdke: Die Ursache der Katastrophe kann der Natur zugeschrieben werden. Es fehlt die Sinnlosigkeit der Tat. Gerade die Sinnlosigkeit macht alle anderen Delikte zu einem wirklich traumatischen Ereignis. Je länger der Täter auf die Opfer eingewirkt hat, je größer die Hilflosigkeit war, je brutaler das Geschehen war, desto schwerer ist die Traumatisierung. Beim aktuellen Fall kommen mehrere Dinge erschwerend hinzu. Der Täter war ein Landsmann. Die Kombination von zwei Tötungsmethoden: Einmal das anonyme Töten mit der Bombe im Regierungsviertel, um die Rettungs- und Sicherheitskräfte zu binden, um dann in aller Seelenruhe auf die Insel überzusetzen. Dann verkleidet sich der Täter - nicht um nicht erkannt zu werden, sondern er zieht sich eine Polizeiuniform an, um Vertrauen, Nähe, Sicherheit herzustellen, und tötet dann von Angesicht zu Angesicht. Das alles ist ein absoluter Vertrauensmissbrauch, schlimmer als bei diesem Massaker geht es eigentlich gar nicht.

Wie geht man mit Schuldgefühlen um?

sueddeutsche.de: Wie kann ein Opfer damit zurechtkommen, dass es selbst überlebt hat, der Mensch neben ihm aber nicht?

Lüdke: Viele entwickeln Schuldgefühle, sich nicht richtig verhalten zu haben. Man unterscheidet zwei Arten von Schuldgefühlen. Das eine nennt man die Überlebensschuld, dann stellt der Betroffene diese Fragen: "Warum habe ich überlebt, warum der andere nicht?" Zum anderen gibt es die Zuschauerschuld: "Warum habe ich das nicht verhindern können? Hat es nicht vorher Anzeichen gegeben?" Schuldgefühle sind eine ganz häufige Reaktion und die muss man den Betroffenen nehmen. Es gibt unter ihnen niemanden, der Schuld hat. Niemand hat etwas falsch gemacht.

sueddeutsche.de: Kann man diese Schuldgefühle denn überhaupt alleine bewältigen?

Lüdke: Auch das schafft der Mensch in der Regel. Wichtig ist allerdings, dass die Betroffenen immer wieder von außen hören: "Ihr habt nichts falsch gemacht" - um sie auch in dieser Hinsicht zu entlasten.

sueddeutsche.de: Gerade in diesen Tagen werden in Norwegen Werte wie Solidarität, Gemeinschaftssinn und Zusammenhalt betont. Hilft das bei der Verarbeitung dieses kollektiven Traumas?

Lüdke: Ja. Das ist eine der stärksten Ressourcen, die die Norweger in dieser Situation haben. Dass sie eben sehr offen sind, dass es viel Vertrauen untereinander gab und gibt. Das ist eine Stärke, die sie jetzt nutzen, um nicht zu einem Land von ängstlichen Aufpassern zu werden. Das wäre grundverkehrt. Viele Menschen machen nach solchen Schicksalsereignissen eine persönliche Reifung durch. In New York haben mir Banker erzählt, dass sie in den Minuten ihrer Todesangst mehr über sich und ihre ganzes bisheriges Leben gelernt hätten als zuvor und dass sie im Anschluss andere Prioritäten setzen konnten. Ähnliches berichtete auch die überlebende Geisel eines Banküberfalls in Berlin, die in dieser schrecklichen Situation erkannte, was ihr im Leben wirklich etwas bedeutete - und was nicht. Diese persönliche Reifung können nicht nur einzelne Menschen durchmachen, das schafft auch ein ganzes Land. Ich glaube, dass die Norweger mit ihren Voraussetzungen aus diesem Ereignis gestärkt hervorgehen werden.

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