Angehörige von Suchtkranken:Ich liebe einen Alkoholiker

Co-Abhängige versuchen, alkoholsüchtige Familienangehörige oder Kollegen zu schützen. Doch der Kampf kostet Kraft - oft werden die Helfer selber krank.

In der schlimmsten Zeit teilte Julia ihr Leben in rosa und blaue Tage ein. Rosa strich sie im Kalender jene Abende an, an denen ihr Freund halbwegs nüchtern war. Blau markierte sie die langen Wochen, in denen er volltrunken neben ihr ins Bett sackte, während sie sich Abend für Abend in den Schlaf weinte.

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Nicht nur der Alkoholiker, auch die Familie leidet

(Foto: Foto: DAK/ddp)

"Der Kalender war mein Beweismaterial", sagt sie. "Ich hielt ihn meinem Freund immer wieder vor, und wir stritten." Heute weiß Julia, dass sie besser nicht gestritten hätte. Sie weiß, dass die Sucht stärker war als ihre Liebe und dass jeder Versuch, den Partner zu kontrollieren, seine Sucht nur bestärkte.

Julia sitzt in einem Münchner Gemeindezentrum im Stuhlkreis mit sieben Frauen und erzählt ihr Leben. "Ich bin Julia. Ich gehöre zu Al-Anon", hat sie zu Beginn gesagt, und es klang wie das Bekenntnis einer verschwörerischen Glaubensgemeinschaft.

Tatsächlich suchen die Frauen, die hier zusammenkommen, Seelenheil. Doch sie suchen es nicht in der Religion, sondern im Gespräch mit Leidensgenossen. Der Name "Al-Anon" setzt sich aus den Worten "Alkoholiker" und "anonym" zusammen und zeigt, dass diese Menschen ein Schicksal teilen: Sie alle haben einen Familienangehörigen, der Alkoholiker ist.

Durch Aufopferung selber krank

Sie alle haben sich im Umgang mit dem Süchtigen aufgeopfert, so sehr, dass sie selbst darüber krank wurden. Bei Al-Anon können sie im Kreise Unbekannter darüber sprechen. Die Gruppe legt Wert auf Anonymität. Deshalb nennen sich die Frauen nur beim Vornamen.

1,7 Millionen Menschen, zumeist Männer, sind nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Deutschland alkoholabhängig. Doch nicht nur die Alkoholiker leiden, sondern oft auch ihre Familien. Ehepartner und Kinder strengen sich über ihre Kräfte an, um den Kranken von seiner Sucht abzubringen.

Sie erreichen dabei paradoxer Weise das Gegenteil. "Um das Familienleben aufrecht zu erhalten, entwickeln Angehörige ein Verhalten, das die Abhängigkeit sogar noch fördert", sagt Christian Haasen, Leiter der Abteilung Sucht an der Uniklinik in Hamburg. "Sie übernehmen nach und nach Aufgaben des Kranken, decken ihn gegenüber Freunden und Kollegen oder kaufen sogar Alkohol, um ihn zu besänftigen."

Psychologen bezeichnen dieses Verhalten als Co-Abhängigkeit. Es schirmt den Alkoholiker von den negativen Konsequenzen seiner Sucht ab und kann die Abhängigkeit somit sogar verfestigen. Dass die Familien sich in dieser Fürsorge über ihre Kräfte hinaus aufopfern, selbst Schwierigkeiten bekommen und Hilfe brauchen, ist ihnen häufig ebenso wenig bewusst, wie den Süchtigen. In der Entzugsklinik in Hamburg bietet Haasen darum immer auch Therapien für die Angehörigen an.

"Ich habe oft gesagt, ich kann nicht mehr, so geht es nicht mehr weiter", sagt Julia. Sie trägt die Haare kurzgeschnitten, sitzt aufrecht und wirkt entschlossen. Zu der Entscheidung, ihren Freund zu verlassen, konnte sie sich aber nicht durchringen.

"Ich fand die Beziehung gut und sah den Alkohol als das Problem", sagt sie. Stattdessen rutschte sie nach und nach in eine Co-Abhängigkeit. "An Tagen, an denen mein Freund morgens besonders schlecht drauf war, rief ich seinen Chef an und meldete ihn krank", erzählt sie.

Kontrollversuche entmündigen den Süchtigen

Die anderen Frauen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Eine Mutter erzählt von den Schwierigkeiten, den 24-jährigen Sohn, der zu viel kifft, nicht jeden Tag anzurufen und zu prüfen, ob er an seiner Fortbildung teilnimmt.

Dabei weiß sie, dass solche Kontrollversuche den Süchtigen nur entmündigen und ihm die Verantwortung für sein Leben abnehmen. "Loslassen, Gott überlassen, mich raushalten, das ist für mich immer noch das Schwerste, obwohl mein Mann schon acht Jahre trocken ist", sagt eine große blonde Frau.

Doch genau das ist es, was Familienangehörige lernen müssen. Es geht darum, zu akzeptieren, dass die Alkoholsucht eine unheilbare Krankheit ist, die nur der Süchtige selbst stoppen kann. Wille zur Veränderung aber lasse sich nicht erzwingen.

Therapeuten empfehlen den Angehörigen, wieder besser für sich selbst zu sorgen und die eigenen Interessen wahrzunehmen. Entlastung können auch Gespräche bringen. Genau wie der Alkoholsüchtige selbst müssen Angehörige einen Weg aus der Heimlichkeit finden und lernen, offen über die Krankheit ihrer Partner zu sprechen.

Was für die Familie gilt, lässt sich auf das Arbeitsumfeld übertragen. Auch im Job können Co-Abhängigkeiten entstehen. So deckt etwa ein Stellvertreter den alkoholsüchtigen Chef, weil die Schwäche des Vorgesetzten ihm Macht gibt. Außerdem weichen Kollegen häufig unangenehmen Gesprächen aus und neigen dazu, die Sucht herunterzuspielen. Letztendlich tragen sie damit aber zu einer Verfestigung der Krankheit bei.

Abgrenzen ohne schlechtes Gewissen

Die Erfahrung, dass Süchtigen ein mahnendes Wort des Vorgesetzten mehr hilft als Verständnis für seine Ausflüchte, hat in Deutschland in den vergangenen Jahren immer mehr Betriebe bewogen, Betriebsvereinbarungen abzuschließen, die einen klaren Umgang mit Alkoholikern festschreiben.

In einem fünfstufigen Verfahren wird der Süchtige dabei zunächst nur angesprochen und zu einer Therapie aufgefordert. Lässt er sich nicht darauf ein, so folgen weitere Ermahnungen und Gespräche, die schließlich in eine Kündigung münden können.

Julias Freund reagierte fünf Jahre nicht auf ihre flehentlichen Bitten, sich Hilfe zu suchen. Auslöser für ein Umdenken war erst die besorgte Nachfrage seines Chefs. Noch in der gleichen Woche suchte der Mann eine Beratungsstelle der Caritas auf und ging später in eine Entzugsklinik. In den Monaten, die dem Entzug folgten, besuchte er Selbsthilfegruppen.

Julia folgte ihm. Anfangs wollte sie ihn nur unterstützen, doch dann merkte sie, dass auch sie Hilfe brauchte. "Es liegt auch an mir, dass vieles falsch gelaufen ist", sagt sie.

Die Angehörigen in den Selbsthilfegruppen ringen alle mit ähnlichen Problemen. Sie haben sich im Kampf gegen die Sucht so aufgezehrt, dass sie wieder zu sich selbst finden müssen. Sie lernen sich abzugrenzen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Andererseits müssen sie

ihre Partner oder Kinder loslassen und sich ein neues Leben aufbauen, das nicht von Sorge und Fürsorge bestimmt ist. Seit fünf Jahren ist Julias Freund trocken. Zu den Sitzungen kommt sie immer noch. "Hier geht es um mich, nicht um den Alkohol."

(SZ vom 8.6.2007)

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