Analyse eines Lebenswerks:Jedes Stück eine eigene Welt

Analyse eines Lebenswerks: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Beethoven schreibt Sonaten, Sinfonien oder Quartette nicht in Serien. Er setzt auf unverwechsel­bare Individualität.

Von Harald Eggebrecht

Claude Debussy hat darauf hingewiesen, dass man uns schon als Kindern verboten habe, den Teddybär oder den Hampelmann auseinanderzunehmen, um dessen Geheimnis herauszubekommen, weil wir ihn danach nicht mehr richtig zusammensetzen könnten und das Geheimnis dennoch nicht ergründet hätten. Debussys unmissverständliche Warnung bezieht sich auf jenen Umgang mit Musik, wenn eifrige Kritiker und Wissenschaftler musikalische Werke bis auf den letzten Takt durchanalysieren und doch nichts Sagenswertes über die Wahrnehmung und Wirkung der Musik dabei entdecken. Oder, um es mit Robert Schumann zu sagen, der am Ende seiner ausführlichen Darstellung von Hector Berlioz' "Symphonie fantastique" betont: "Die Hauptsache bleibt, ob die Musik ohne Text und Erläuterung an sich etwas ist und vorzüglich, ob ihr Geist inwohnt."

Beides, Debussys Warnung vor dem heillosen Zergliedern von Musik und Schumanns Betonung, dass die jeweilige Musik von eigentümlichem Geist beseelt sein müsse, gilt in außergewöhnlichem Maße für die Musik Ludwig van Beethovens. Er hat übrigens nie geplant, etwa elf oder zwölf Klaviertrios zu schreiben, er hat nicht an sogenannte Zyklen gedacht, weder bei den Sinfonien, den Streichquartetten noch bei den Klaviersonaten. Die Zahlen, also neun Sinfonien, zehn Violinsonaten, fünf Cellosonaten, fünf Streichtrios oder 32 Klaviersonaten, sind zufällig. Das kann man bei den Klaviertrios schon daran sehen, dass die einen nur von sieben tatsächlichen Klaviertrios ausgehen in der Besetzung Klavier, Violine und Violoncello. Andere zählen auch Bearbeitungen und Frühwerke dazu und kommen so auf zwölf Stücke. Doch die beliebten zyklischen Aufführungen aller Sinfonien oder Streichquartette oder Klaviersonaten oder auch Klaviertrios bleiben daher in gewisser Weise willkürlich.

Es war dann aber ein Paukenschlag, als Beethovens drei Klaviertrios op. 1 herauskamen und sofort Erfolg hatten - zur Überraschung Joseph Haydns, der das dritte in c-Moll als zu schwierig für das Wiener Publikum eingeschätzt hatte. Auch heute sind die drei Trios wohlbekannt, jede hausmusizierende Familie wird sich an ihnen versuchen. Dabei zeigt sich schnell, dass Beethoven mit diesen Stücken eine andere Absicht verfolgt, als hochwohllöbliche Hausmusik für Amateure zu schreiben; dass er nämlich auf eine Kammermusik als höchst anspruchsvolle Spielart von symphonischer Musik aus ist, die professionelle Musiker verlangt.

Immer geht es diesem Komponisten ums experimentelle Ausloten, Ausreizen, Erforschen der jeweiligen Gattung. Man kann gleichsam von Expeditionen in die verschiedenen Genres sprechen, bei denen am Ende immer die absolute Unverwechselbarkeit das Ziel ist - im Sinne einer Individualität jedes Stückes, ja, zugespitzt jedes einzelnen Satzes. Nach den drei Rasumowsky-Streichquartetten, op. 59, versieht Beethoven seine Schöpfungen fast nur noch mit einzelnen Opuszahlen, um den singulären Charakter des einzelnen Stückes zu betonen. Daher müssten etwa bei einem Klavierabend mit den letzten drei Sonaten - op. 109, op. 110, op.111 - eigentlich zwei große Pausen gemacht werden, um die Grundverschiedenheit der drei Stücke hervorzuheben und besonders erlebbar zu machen.

Bei seinem op. 1 verdichtete Beethoven den für ihn vorbildlichen Ansatz Wolfgang Amadeus Mozarts, in den Klavierquartetten die Instrumente zu emanzipieren, zum Trio. Zudem betonte er den repräsentativen Charakter des Genres, indem er alle drei Trios viersätzig anlegte, also wie es bei Sinfonien und Quartetten seit Haydn üblich war. So hob er die Trios auf das Niveau der Streichquartettkunst und deren Bedeutung, wie sie Haydn entwickelt und Mozart fortgesetzt hatte.

Beethovens Erkundungen eines Genres konnten sehr früh enden, etwa bei den Streichtrios, die mit dem stark unter dem Eindruck von Mozarts unglaublichem Divertimento KV 536 konzipierten Trio op. 3 in Es-Dur beginnen. Tonart und die Anzahl der sechs Sätze richten sich nach Mozarts Meisterwerk. Es folgen dann noch die Serenade op. 8 und die drei Trios op. 9, in denen Beethoven die kompositorische und symphonische Dichte der drei Stimmen in alle Richtungen so ausreizt, dass sich im ganzen 19. Jahrhundert außer Franz Schubert keiner der großen Komponisten mehr mit dem Streichtrio beschäftigt.

In seiner Widmung der Trios op. 9 an seinen Gönner, den irischen Grafen Johann Georg von Browne, klingt der Stolz auf die Qualität der Stücke unverhohlen an: "Wenn die Kunstprodukte, denen Ihr als Kenner die Ehre Eurer Protektion erweist, weniger nach der genialen Inspiration als vielmehr nach dem guten Willen, sein Bestes zu geben, beurteilt würden; so hätte der Autor die ersehnte Genugtuung, dem ersten Mäzen seiner Muse das beste seiner Werke zu präsentieren." In der Kompression und Vernetzung von vier Stimmen in seinen Quartetten greift Beethoven dann noch viel weiter aus.

Auch seine Auseinandersetzung mit der Gattung Konzert führt, beim B-Dur-Klavierkonzert angefangen, weg vom überkommenen Typus des Wechsels zwischen virtuosem Solo und stabilen Tutti hin zu einem sich gegenseitig befeuernden symphonischen Miteinander von Orchester und Solostimme. Dieses Konzept des vielfältigen Integrierens von Solo und Orchester wird im C-Dur-Konzert ebenso weiter verfolgt wie im ganz anders gearteten c-Moll-Konzert und dem charakteristisch wieder völlig anders erscheinenden G-Dur-Konzert.

Ebenso wirken das Tripelkonzert op. 56 und das Violinkonzert op. 61 als Solitäre beispielhaft für Beethovens Drang, seine Musik stets als komplexes Geschehen voller Kontraste zwischen edlem Pathos und schockierenden Plötzlichkeiten, zwischen abrupten Unterbrechungen, grimmigem Humor und dann wieder weit sich dehnenden Perspektiven anzulegen und zu verstehen. Das Es-Dur-Klavierkonzert op. 73 wird daher zum triumphalen Abschluss dieses Weges zum symphonischen Konzert. Sogar die Kadenz wird da zum aufregenden Dialog zwischen Klavier und Pauke. Mit dieser kühnen Kombination hatte Beethoven schon in der Klavierfassung seines Violinkonzertes in der ausgeschriebenen Kadenz des Kopfsatzes furios experimentiert.

Während ihn die Streichquartette, die Sinfonien und die Klaviersonaten durch sein ganzes Komponistenleben begleiten von der Jugendzeit über die Glanzjahre bis in die wundersame Welt des Spätwerks, sieht es bei den Klaviertrios so aus, als ob er sporadisch auf dieses Genre zurückgreift, wenn es etwas unerhört Neues damit zu sagen gibt: Auf op. 1 folgt als viertes Trio op. 11, das Gassenhauer-Trio, das aber weder den zeitlichen Dimensionen nach noch im Gesamtanspruch so innovativ auftritt wie die drei Werke von op. 1.

Etwa dreizehn Jahre nach op. 1 nimmt Beethoven in seiner mittleren Glanzphase die Trio-Gattung erneut auf, nun als Zeugnis seines Schaffens nach eigenem Gesetz. Das Kontrastpaar op. 70, 1 und 2, also das magische Geistertrio und sein Schwesterwerk, das leuchtend heitere Es-Dur-Trio, erinnern in Freiheit und Virtuosität in Form, Inhalt und Spielanspruch in nichts mehr an die Tradition von Haydn und Mozart. Das Erzherzogtrio op. 97 schließlich gehört wie das Streichquartett op. 95 und die 10. Violinsonate op. 96 zu den Portalwerken, die in die neue, andere Welt des unauslotbaren Spätwerks führen.

Eine Gattung wurde ihm zu einer Art Mikrokosmos, die fünf Sonaten für Pianoforte und Violoncello. In ihnen lässt sich die ganze Kompositionsspanne Beethovens wie im Brennglas gebündelt nachvollziehen. Zudem hat er mit diesen Sonaten das Violoncello endgültig auf der Kammermusikbühne installiert. Wie schon bei den Klavier- oder Streichtrios ist Beethoven mit eigensinnigem Erfindungsgeist unterwegs, um aus einem bis dahin liebenswürdigen, auch virtuosen und bei manchen pfiffig-einfallsreichen Genre ein unverwechselbares Originalformat zu schaffen. Und das mit einer schon bei den zwei frühen Sonaten op. 5 wilden Lust an der Emanzipation der Instrumente. Er macht aus dem von der barocken Triosonate hergeleiteten Formtypus einen expressiven Dialog aus Fragen und Antworten, aus Rasanz in den schnellen Sätzen und melodiösem Zwiegesang in den langsamen Sätzen, aus getragenen Einleitungen und Übergängen.

Die Sonaten op. 5 F-Dur und g-Moll gebärden sich als feurige Jugendwerke. Die A-Dur-Sonate op. 69 schrieb er in der Glanzzeit von 5. und 6. Sinfonie. Die beiden Sonaten op. 102 gehören in Knappheit und Kargheit unverkennbar zum Spätwerk. Wieder einmal zeigt Beethoven, wie er einen Werktypus individuell in den Einzelstücken entwickelt, dann entfaltet und am Ende letzte Worte dafür findet. Alle späteren Sonaten der Romantik, der Jahrhundertwende und bis heute sind immer noch im Schlagschatten von Beethovens Cellosonaten, deren Individualität einen Orientierungsstrahl bis in die Gegenwart wirft.

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