An den Grenzen der Kinderbetreuung:Tränen vor Tagesanbruch

Nadine Krause will niemandem auf der Tasche liegen. Für ihre Arbeit nimmt sie in Kauf, ihren zweijährigen Sohn um fünf Uhr morgens in der Kita abzugeben.

Jan Philipp Burgard

Berlin-Spandau, fünf Uhr morgens, Plattenbausiedlung, Wohnsilo Nummer 16. Im obersten Stockwerk brennt schon Licht. Nadine Krause hebt ihren zweijährigen Sohn Justin aus dem Bettchen. Gerade mal neun Quadratmeter ist das Zimmer groß, das sie sich mit ihrem Sohn teilt - in der Wohnung ihrer Eltern.

Nadin und Justin Krause

Für Justin beginnt die Kita oft mitten in der Nacht.

(Foto: Foto: Christian Hübenthal)

Für eine eigene Wohnung reicht das Gehalt der 21-Jährigen nicht. Justin blinzelt verschlafen. Nadine wickelt ihn in eine Daunendecke, zieht ihm eine Mütze tief ins Gesicht.

Wie jeden Morgen wartet im Flur schon ihr Vater mit dem Kinderwagen. Im Treppenhaus riecht es nach nassem Hundefell. Gemeinsam fahren Nadine, ihr Vater und Justin im Auto durch menschenleere Straßen. Nach fünf Minuten haben sie ihr erstes Ziel erreicht. Eine Kita in Spandau. Ein Mann im Bademantel öffnet die Tür.

Nadine Krause flüstert Justin noch etwas ins Ohr. Wortlos legt sie ihren Sohn in die Arme des Mannes und huscht wieder ins Auto.

Loslassen fällt schwer

"Am Anfang habe ich mich immer schrecklich gefühlt, wenn ich ihn hier abgeben musste", sagt Nadine und streicht sich eine blonde Strähne aus dem dezent geschminkten Gesicht. "Aber ohne die 24-Stunden-Kita könnte ich nicht arbeiten".

Vor einer Bäckerei steigt sie aus dem Auto. Ihr Vater fährt zügig weiter, um pünktlich um sechs seinen Zeitungskiosk zu öffnen. Nadine geht in die Backstube. Nach frischem Brot riecht es noch nicht, die Öfen sind noch kalt. Nadine tauscht ihre schwarze Jacke gegen einen weißen Kittel. Sie beginnt, Brötchenteig in eine Gärmaschine zu füllen.

Eigentlich wollte sie Kindergärtnerin werden. "Aber ich hatte eine schwere Pubertät, da hatte ich alles andere im Kopf als Schule", sagt Nadine. Mit dem erweiterten Hauptschulabschluss war sie froh, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden. Die Ausbildungszeit war noch nicht um, als ihr Gesicht fülliger, ihr Bauch dicker wurde.

Ein lautes Piepen, der Teig ist gar. Jetzt schiebt Nadine ein schweres Blech mit Brötchen in den Ofen. "Damals war ich 18 und die Schwangerschaft ein Schock. Bis ich das erste Ultraschallbild von Justin sah", sagt sie und lächelt. "Mein Bruder meint, Justin sei das Erste, was ich in meinem Leben gut hinbekommen habe".

Kein Job ohne 24-Stunden-Kita

Nach der Geburt blieb Nadine ein Jahr zu Hause, um sich um Justin zu kümmern. Dann stand die junge Mutter vor einem Problem: "Ich musste wieder in der Bäckerei arbeiten und Geld verdienen, doch für meine extremen Arbeitszeiten gab es keine Kinderbetreuung", sagt Nadine und beobachtet, wie der Brötchenteig im Ofen aufgeht. Auch Nadines Eltern konnten nicht aushelfen. Der Vater steht bis spät abends im Zeitungskiosk, die Mutter arbeitet Schicht im Großmarkt. Nadines Partner macht gerade eine Ausbildung.

Auch vorher hatte er nur am Wochenende Zeit für seinen kleinen Sohn. Deshalb bezeichnet Nadine sich auch als alleinerziehend. "Die Lösung fand ich durch einen Zufall im Internet. Die 24-Stunden-Kita war für mich die einzige Möglichkeit, meinen Job zu behalten", erzählt sie, während sie die Backstube verlässt und sich hinter die Ladentheke stellt.

Ihr Handy liegt immer neben der Kasse, im Notfall kann Justins Tagesmutter Nadine jederzeit erreichen. Acht Stunden und unzählige verkaufte Brötchen später macht sie sich wieder auf den Weg in die Staakestraße. Nadine nimmt den Bus, ein eigenes Auto hat sie nicht.

Als Justin durch die Fensterscheibe der Kita seine Mutter kommen sieht, hält sich seine Wiedersehensfreude in Grenzen. Der zwei Jahre ältere Spielkamerad Eugene hat ihm einen Ball an den Kopf geworfen, dicke Tränen rollen ihm über das Gesicht. Mit der Fingerspitze streicht Nadine über die kleine Schramme an Justins Stirn. Als er bemerkt, dass seine Mama das Fläschchen vergessen hat, weint und schreit er ohne Pause. Das liege auch an den ersten Zähnen.

class="r12000000mar5">Zehn Minuten später wuchtet Nadine den Kinderwagen wieder aus dem Bus, schiebt ihn zwischen den grauen Wohntürmen entlang nach Hause. Justin hat immer noch nicht aufgehört zu weinen. "Mal mit meinem Freund in der Türkei entspannen, das wäre toll", sagt Nadine. "Mit Sonne und Palmen und allem, was man sich so vorstellt". Aber erst mal will das Paar die Miete für eine gemeinsame Wohnung sparen. Bis dahin gibt es nur einen Luxus: Einmal im Monat geht Nadine ins Nagelstudio. "Um mal zwei Stunden abzuschalten."

Meistens ist er ganz fröhlich, wenn er aus der 24-Stunden-Kita kommt, sagt Nadine. "Außerdem ist die Kita nicht nur praktisch, sondern auch gut für Justins Entwicklung. Er lernt zum Beispiel teilen", sagt Nadine und steuert den Spandauer Busbahnhof an. Dabei sieht sie so jung aus, dass man sie für Justins große Schwester halten könnte.

Stolz auf ihre Arbeit

Jetzt wartet sie auf den Aufzug, Justin ist endlich eingeschlafen, schnarcht wie eine kleine Lokomotive. Der Aufzug ist da, ein Mädchen mit einem kläffenden Kampfhund an der Leine kommt heraus. Auch wenn Nadine Justin gerne mehr bieten würde, ist sie stolz auf sich. "Immerhin kann ich Justin von meinem eigenen Geld ernähren."

Nadine könnte es sich auch einfacher machen. Wenn sie Hartz IV bekommen würde, hätte sie nur rund 100 Euro weniger als in der Bäckerei. Sie könnte zu Hause bleiben. "Aber wir sind eine Arbeiterfamilie. Ich erzähle Justin später lieber, dass ich ihn nachts abgegeben, als dass ich dem Staat auf der Tasche gelegen habe."

© <a href="http://www.journalisten-akademie.com/projekte/familie/" class="lift" target="_blank" data-pagetype="EXTERNAL" data-id="">Dieser Text ist Teil des Online-Projektes "Ein Leben in Teilzeit" der Journalisten Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung.< </a>/a> - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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