Ambulanter Pflegedienst:Ausziehen, windeln, kämmen

Pflegedienst

Viele Altenpfleger helfen nicht nur beim Waschen oder Essen, für einige Patienten sind sie der einzige Kontakt zur Außenwelt.

(Foto: dpa)

Für die Alten und Kranken sind sie oft der einzige Kontakt zur Außenwelt: drei Tage unterwegs mit dem ambulanten Pflegedienst durch ein einsames Land.

Von Julia Rothhaas

Wie lange ist eine Viertelstunde für jemanden, der nicht mehr weiß, was eine Uhr ist? Frau T. weiß das seit etwa drei Jahren nicht mehr. Auch nicht, dass sie nur Pudding isst und dreimal täglich ihre Windel gewechselt wird. Ihr ist nicht mal klar, dass sie eine trägt.

Für Michaela, die Altenpflegerin, dauert eine Viertelstunde etwa so lange: Frau T. an- und ausziehen, windeln, kämmen. Oder: Frau T. neu im Bett lagern, füttern und ihr eine kleine Tablette auf die Zunge legen. Während das Leben der alten Frau zeitlos geworden ist, soll sich Michaela an einen strengen Zeitplan halten.

"Wo bin ich?", will Frau T. wissen. "In Ihrem Bett", sagt Michaela. "Nicht draußen im Park?" Michaela rüttelt an der Matratze. "Spüren Sie das? Das ist Ihre Matratze." "Aber was ist das Weiße da?" "Das ist die Decke."

Frau T. ist 90 Jahre alt und eine der knapp 1,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland, die zu Hause versorgt werden. Fast drei Viertel aller Menschen, die ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen können, leben lieber zu Hause als in einem Alten- oder Pflegeheim, so der jüngste Pflegebericht des Statistischen Bundesamts. Tendenz steigend. In mehr als 600 000 Fällen werden die Angehörigen ganz oder teilweise von ambulanten Diensten unterstützt.

Michaela ist 29 Jahre alt, arbeitet in München und ist eine von 320 000 ambulanten Altenpflegern in Deutschland. Damit wir sie bei ihrer Arbeit begleiten konnten, haben wir ihren Namen geändert und ihre Patienten anonymisiert.

Frühschicht: Begegnungen im Minutentakt

Drei Tage unterwegs mit dem Pflegedienst, das ist eine Reise zu denjenigen, die ihre Wohnung kaum noch verlassen können. Eine Reise durch ein einsames Land. Die Pfleger sind oft die einzigen Besucher, auch wenn sie nur für ein paar Minuten vorbeikommen. Wenig Zeit für einen Job, der zwei Menschen für die Erledigung intimster Tätigkeiten zusammenwürfelt.

Frühschicht. Kurz vor sechs steht Michaela neben ihrem Renault Twingo und raucht schnell noch eine. Dreimal links abbiegen, zweimal rechts, fünf Minuten später sucht sie einen Parkplatz. Im Fußraum greift sie in die Schachtel mit den Einweghandschuhen, stopft sich ein paar in die Tasche und zieht den Wohnungsschlüssel aus dem Mäppchen. Erst klingeln, dann hoch in den vierten Stock, aufsperren, rein ins Wohnzimmer.

"Guten Morgen, der Pflegedienst ist da. Wie geht es Ihnen heute?" Blutzucker messen. Alles eintragen in die Pflegemappe, Kürzel dahinter. "Schönen Tag wünsche ich Ihnen." Raus aus der Tür, vier Stockwerke hinunter, Desinfektionsmittel in den Händen verreiben, weiter zum nächsten Patienten.

Eine Frau Anfang 60, deren linke Seite nach einem Schlaganfall gelähmt ist. Sie gibt Michaela genaue Anweisungen: erst Unterleib und Beine waschen, dann mit dem Rollstuhl ins Bad. Den Oberkörper wäscht sich die Patientin selbst, sie braucht nur Hilfe, um die Wassertemperatur richtig einzustellen, den Waschlappen nass zu machen, die Zahnpasta auf die Bürste zu drücken.

Nächste Station: ein 85-Jähriger, der immer seine Medikamente vergisst. Michaela schüttelt zwei weiße, eine rote und eine blaue Tablette in seine Hand und wartet so lange, bis er sie genommen hat. "Geh, Madl, die nehme ich später," sagt er. "Nein, nein", entgegnet sie, "ich gehe erst, wenn die unten sind."

Dann: Ein Mann, der einen künstlichen Darmausgang hat und sich für das rosafarbene Loch in seinem Bauch, das ohne Unterlass Stuhlgang ausspuckt, so schämt vor der jungen Frau, dass er sich beim Wechseln des Verbands die Hände auf die Augen legt.

Sie wird an dem Tag noch fünfmal Medikamente verabreichen, zweimal Blutzucker messen, einmal offene Füße neu verbinden und dreimal waschen und füttern. Wie viel Zeit für diese Aufgaben gedacht ist, steht im XI. Sozialgesetzbuch. Eine Ganzkörperwäsche wird mit 20 bis 25 Minuten veranschlagt, Zahnpflege mit fünf und Umlagern mit zwei bis drei Minuten. Michaela sieht nicht auf die Uhr. "Es dauert halt so lange, wie es dauert", sagt sie. Oft arbeitet sie länger, als es ihre Schicht vorsieht.

An die Begegnungen im Minutentakt hat sie sich gewöhnt. Nur noch selten setzt sie sich abends mit ihrem Freund, auch ein Altenpfleger, zusammen, um über den Tag zu sprechen. Etwa wenn jemand stirbt, den man lange betreut hat.

Der Geruch des Unbewohnten

Die meisten Wohnungen, die Michaela besucht, wirken jeder Zeit enthoben. Die zwei, drei, vier Zimmer haben sich verkleinert über die Jahre, das Wichtigste ist in Reichweite gerutscht: Auf dem Sessel liegt das Lammfell, daneben Strickjacke, Taschentücher, die Fernbedienung, ein Telefon mit extra großen Tasten, eine Flasche Wasser und ein Glas mit vielen Fingerabdrücken, die darauf hindeuten, das es tagelang benutzt wird.

Rundherum Fotos: Kinder, Urlaub, Glück, Vergangenheit. Und zwischen den Wänden hängt der Geruch eines Zuhauses, das lange nicht mehr unbewohnt war. Neu sind die Großpackungen an Windelhosen, die Boxen mit Feuchttüchern und Handschuhen, Rollator, Krankenbett, Badewannensitz, Notrufklingel. Die gleiche Inneneinrichtung, egal ob der Patient alt oder krank ist, ob er in einer Mietswohnung lebt oder in einem Einfamilienhaus.

Und da sind die gleichen Worte. Genießen Sie Ihre Jugend, bekommt Michaela täglich gesagt. Aber auch: Ich möchte vom Balkon springen, doch ich schaffe es ja kaum bis in die Küche. Wann ist es endlich vorbei? Warum tut alles so weh? Warum hat mich der liebe Gott verlassen?

Dann wird die Pflegekraft zum Seelsorger. Nur was antwortet man auf solche Fragen, als Mutter eines Zweijährigen, den sie während der Pause in einem Video auf dem Handy im Planschbecken herumhüpfen sieht, und die nach der Arbeit mit ein paar Freunden im Garten grillt? "Bestimmt geht es Ihnen morgen besser", sagt sie dann. Manchmal sagt Michaela auch nichts.

Altenpflegerin wollte die schmale Frau mit den kurzen Haaren schon immer werden. Warum weiß sie selbst nicht so genau. "Ich habe einfach einen Bezug zu alten Menschen", sagt sie während der Fahrt zum nächsten Patienten. Ihre Familie hat sie gewarnt: Weißt du, was du dir da antust? Das sei schwere Arbeit, körperlich und psychisch, und schlecht bezahlt. Ihre Freunde, allesamt im Büro oder im Verkauf tätig, finden es toll, was sie da tut. Aber alle sagen das Gleiche: Ich könnte das nicht.

Kaum einer in ihrem Alter will mit den Alten oder Kranken zu tun haben und mit dem Tod gleich gar nicht. Michaela kann diese Berührungsängste nicht verstehen, sie liebt ihren Job. Zwei Wochen Urlaub stehen bevor, "ich überlege mir jetzt schon, was ich mit der freien Zeit überhaupt machen soll." Sie ist kein weicher Typ, eher pragmatisch, handfest. Sie lächelt selten, das lässt sie härter erscheinen, als sie eigentlich ist.

Das Einzige was er noch kann, ist rauchen

Die Arbeit hat sie verändert. "Früher war ich rabiater und aufmüpfiger, heute bin ich viel ruhiger. Und reifer." Sie hat sich verändert und der Job mit ihr. Früher gab es weniger Schreibkram, heute muss alles ausführlich dokumentiert werden. In einem Altenheim zu arbeiten kommt für sie nicht infrage. "Ambulant ist man flexibler, und keiner redet einem rein."

Abgesehen von den Angehörigen. Manche wissen besser, wie man die Verbände wechselt und wie viel Wundsalbe zu viel ist. Andere schimpfen, wenn man später auftaucht als vereinbart. Schließlich bedeutet für sie eine Viertelstunde bei Michaela auch eine Viertelstunde Zeit, ohne dass jemand von nebenan ruft. Und ohne das ungute Gefühl, wenn niemand von nebenan ruft.

Frau M. kann kaum mehr aufrecht gehen, ihr Mann ist schwer dement. Sie kann ihn keine fünf Minuten mehr alleine lassen. Das Einzige, was er noch gut kann, ist rauchen. Während Michaela ihm das Unterhemd im Bad auszieht, schleppt sich Frau M. zurück ins Wohnzimmer und macht den Fernseher leiser. Herr M. hört nur noch schlecht, doch sie bekommt Kopfschmerzen von der permanenten Lautstärke. "So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt", sagt sie. "Wir wollten doch reisen! Jetzt rauscht das Leben an mir vorbei." Michaela nickt, während sie Herrn M. mit dem Waschlappen abreibt. Nicht immer sind die Patienten diejenigen, die ihre meiste Aufmerksamkeit brauchen.

Wenn Michaela Demenzkranke wie Herrn M. besucht, zieht sie ihren Schlupfkasack über, ein weißes Oberhemd mit großen Taschen, auf den sie sonst lieber verzichtet. Darin wird sie leichter erkannt, doch das hilft nicht immer: Ein freundliches "Guten Tag" kann eine Woche später schon zum "Hau ab" werden. Dann schlagen die Patienten um sich, wollen nicht berührt werden und Michaela kommt nur zum Nötigsten.

Ein Blick auf die Uhr. Der Berufsverkehr verstopft noch die Straßen, und die Frau, die als Nächstes eingeplant ist, schimpft immer, wenn man sich verspätet, weil sie während "ihrer Sendung" nicht gestört werden möchte. Michaela zuckt mit den Schultern und zieht Herrn M. das frische Hemd über.

Stadt der Kranken und Alten

Zurück im Auto, ihr Rückzugsort. Einmal durchatmen, Zeit für sich. Aber auch: Stau, Baustellen, Radarkontrollen. "Ich schaue, wie schnell die Taxler fahren, die wissen immer, wo Blitzer stehen." Wenn Michaela einen Strafzettel bekommt, muss sie ihn selbst bezahlen. Das darf nicht oft passieren bei 2568 Euro Monatsgehalt, so hoch ist laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung das durchschnittliche Bruttoentgelt für Vollzeit-Altenpfleger.

Michaelas Stadt ist eine Stadt der Kranken und Alten geworden, ihr Stadtplan im Kopf ist voller Patienten: Gleich an der großen Straße lebt die Frau mit dem Wasser in den Beinen, in dem gelben Haus an der Ecke wohnt der Krebskranke, hier im vierten Stock das Muttchen, das mit roten Backen in ihrer Küche sitzt. Nur noch einen Abend lang, morgen geht es ins Heim.

Michaela weiß auch, bei welchen Nachbarn sie klingeln muss, wenn der Fernseher bei Herrn K. wieder zu laut ist und er ihr nicht öffnet. Sie weiß, wer mal eine gute Tänzerin war, und bei wem die Tochter jeden Mittwoch zu Besuch kommt. Und in welcher Wohnung sie sich Papier um den Finger wickeln muss, um den verklebten Lichtschalter zu bedienen, und wo sie besser durch den Mund atmet, damit ihr in dem vergammelten Zimmer nicht schlecht wird. Um eine Tür zu öffnen, braucht es manchmal Überwindung. "Das ist nur menschlich. Wäre doch schlimm, wenn ich zu jedem gleich gerne gehen würde", sagt Michaela, als sie im Treppenhaus nach frischer Luft schnappt.

Ein bisschen die Welt retten

Für Frau T. hat sie neulich auf eigene Rechnung ein Nagelset gekauft, für fünf Euro, das ist es ihr wert gewesen. Wenn die alte Frau schon sonst allen egal zu sein scheint, obwohl die Tochter im selben Haus wohnt. "Ich will doch die Welt retten", sagt Michaela und lächelt. "Wenigstens ein bisschen. Auch wenn ich langsam verstanden habe, dass mir das nicht gelingen wird."

Am nächsten Abend, in ihrer Spätschicht, ist sie wieder bei Frau T. Wie vergessen liegt die Frau mit dem fahlen Gesicht in ihrem Krankenbett in der hinteren Ecke ihres Wohnzimmers, dort, wo einst das Sofa stand. An den Wänden türmen sich Kisten mit Windeln, die Plastikblumen sind längst verblasst. Das Radio läuft, die Pfleger stellen es tagsüber an, damit in dem düsteren Raum überhaupt etwas passiert.

Michaela berührt zur Begrüßung die linke Schulter von Frau T., aber die reagiert heute kaum. Die Pflegerin dreht sie zur Seite, das hellblaue Nachthemd ist hinten aufgeschnitten, damit es keine Falten wirft. Als sie in der Küche den Pudding holt, kündigt der Moderator auf Bayern 3 gut gelaunt das nächste Lied an: "Don't worry, be happy".

Michaela steckt Frau T. den Löffel in den Mund. Feste Nahrung geht nicht mehr, seit drei Jahren gibt es jeden Tag nur Vanille- oder Schokoladepudding. Mundpflege wäre auch ohne Zähne wichtig, aber die Familie spart sich die 2,75 Euro lieber.

"Das schmeckt gut", sagt Frau T. "Ist Vanille heute", sagt Michaela. "Aber jetzt will ich nach Hause", sagt Frau T.

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