Tafeln in Deutschland:"Den Armen geht ihre Armut an die Substanz"

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Besucher des Sozialprojekts "Steilshooper Büd'l" stehen an, um Lebensmittelspenden der Hamburger Tafel zu empfangen. (Foto: picture alliance / Markus Scholz)

Vor allem Senioren sind immer häufiger auf die Tafeln angewiesen. Sabine Werth von der Berliner Tafel über den Anstieg der Bedürftigen in Deutschland.

Interview von Boris Herrmann

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland regelmäßig bei einer Tafel essen, steigt ständig. Im vergangenen Jahr waren es zehn Prozent mehr als im Vorjahr, die eine Tafel aufsuchten - vor allem bei Senioren sei der Anstieg mit 20 Prozent dramatisch, teilte der Dachverband Tafel Deutschland e. V. am Mittwoch mit. Auch fast 50 000 Kinder und Jugendliche sind zuletzt zu den Tafel-Nutzern hinzugekommen. Woran das liegen könnte, erklärt die Berliner Sozialpädagogin und Tafel-Mitgründerin Sabine Werth.

SZ: Frau Werth, die Zahl der Menschen, die Angebote der Tafeln nutzen, ist im zurückliegenden Jahr deutlich angestiegen. Zeugt das nun vom Wert Ihrer Arbeit oder von einem gesellschaftlichen Notstand?

Sabine Werth: Ich würde sagen: beides. Die Altersarmut ist ein gewaltiges Problem in Deutschland, und das wird bestimmt noch zunehmen. Das belegt zum Beispiel eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach in zwei Jahrzehnten jeder Fünfte in Deutschland von Altersarmut bedroht ist. Wenn jetzt die Zahl der Tafel-Nutzer steigt, hat das noch nicht unbedingt mit zunehmender Armut zu tun, sondern vielleicht auch mit zunehmender Akzeptanz der Armut. Ich habe das Gefühl, dass den Menschen, die arm sind, ihre Armut langsam, aber sicher an die Substanz geht. Die Not ist bei diesen Menschen offenbar so groß, dass sie sich durchringen, zur Tafel zu gehen, was sie bislang vielleicht noch jahrelang vermieden haben.

Sabine Werth, 62, Sozialpädagogin, gründete 1993 mit anderen Frauen in Berlin Deutschlands erste Tafel. (Foto: OH)

Sie haben 1993 in Berlin die deutschlandweit erste Tafel gegründet. Hat sich seitdem etwas verändert ?

Durch Hartz IV hat sich damals definitiv etwas verschoben. Danach sind deutlich mehr Menschen zu den Tafeln gekommen. Wir haben seither konstant ein Drittel Senioren sowie ein Drittel Alleinerziehende.

Wahrscheinlich würden noch mehr Menschen kommen, wenn sie sich nicht schämen würden, oder?

Ganz bestimmt. Wir haben in ganz Deutschland ungefähr 7,5 Millionen Arme oder von Armut bedrohte Menschen. Davon kommen aber nur 1,6 Millionen zu den Tafeln. Wir hören immer wieder von Menschen, die zu uns kommen, dass es sie beim ersten Mal große Überwindung gekostet hat. Menschen, die plötzlich über die Armutsschwelle gehen und sich nicht einmal mehr ihr Essen leisten können, versuchen ganz lange nach außen hin noch das alte Bild aufrecht zu erhalten. Sie vertuschen ihre Situation. Aber wenn sie sich dann überwinden und zur Tafel kommen, dann treffen sie plötzlich Leute, die alle in einer ähnlichen Situation sind.

Woher stammen die Lebensmittel, die Sie verteilen?

Wir ziehen sie jedenfalls nicht aus dem Müll, wie viele immer noch glauben. Wir nehmen das, was im Handel überschüssig, aber deshalb noch lange nicht schlecht ist. Wir sammeln auch nicht vorzugsweise Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, sondern all das, was nicht verkauft wurde. Das sind zum Beispiel bei der Berliner Tafel zwischen 30 und 40 Prozent Bioprodukte. Weil die in den Läden immer noch teurer sind als konventionelle Ware und bei den Discountern eher übrig bleiben. Wir haben eine Studie mit der Charité gemacht, die ergab, dass sich die Leute, die sich bei uns über die Berliner Tafel ernähren, gesünder sind als die, die es nicht tun.

Die Bedürftigen profitieren also, wenn man so will, von einer Unart in der Gesellschaft: der systematischen Überproduktion von Lebensmitteln.

Diese Verschwendung ist schändlich. Dadurch wird auch völlig unnötig wahnsinnig viel CO2 produziert. Da muss die Politik ganz eindeutig gegensteuern und etwas gegen die Armut tun. Wir bei den Tafeln arbeiten ja nicht gegen Armut. Wir können lediglich die Armen etwas entlasten in ihrer Situation. Wir können nicht versorgen, sondern nur unterstützen.

Im vergangenen Jahr gab es einen großen Aufschrei, nachdem der Vorsitzende der Essener Tafel, Jörg Sartor, einen Aufnahmestopp für Ausländer verkündet hatte. Eine wachsende Zahl von jungen Migranten schrecke langjährige Nutzer der Tafel ab, sagte er. Wie gehen Sie in Berlin mit solch einer Situation um?

Definitiv anders Herr Sartor in Essen. Wir schließen nicht bestimmte Gruppen aus, so etwas ist unerträglich. Wir haben einen Tafelgrundsatz unterschrieben, der alle 947 Tafeln in Deutschland daran bindet, dass es nach Bedürftigkeit geht und nicht nach Herkunft. Wir haben das Problem natürlich auch, dass bestimmte Gruppen versuchen andere zu verdrängen. Das hat aber weniger mit Migrationshintergrund zu tun als offensichtlich mit Futterneid. Wir haben auch schon Hausverbote ausgesprochen und die Polizei gerufen, wenn es Schlägereien bei uns gab. Wenn überhaupt, dann sprechen wir einen allgemeinen Aufnahmestopp aus. Dann lassen wir ein Vierteljahr generell keine Neuaufnahmen zu und es gibt eine Warteliste.

© SZ vom 19.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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