Süddeutsche Zeitung

Alternative Wohnformen:Adieu Doppelhaushälfte, hallo Jurte

Nadja und David haben sich gegen den deutschen Traum von einer Doppelhaushälfte mit Garten, Flachbildfernseher, Sofalandschaft und Einbauküche entschieden. Sie wohnen in einer Jurte. Ihr Kind wurde auch dort geboren. Doch das Leben in der runden Behausung hat auch Ecken und Kanten.

Von Titus Arnu

Warmer Wind streicht über das hohe Gras, es riecht nach Heu, das in der Sonne trocknet. In den Kirschbäumen rascheln die Blätter, Stare und Krähen fressen sich an den fast reifen Früchten satt. Dazu produzieren die Grillen ihr rhythmisches Krrrrk-Krrrrk. Alle Geräusche, die man hört auf der Obstwiese bei Überlingen am Bodensee, ergeben zusammen einen sommerlichen Soundteppich.

Drinnen in der Jurte köchelt ein Topf Rote Bete vor sich hin, es duftet nach Kokosfett, Sesam und angebratenen Brennnesseln. Nadja Schotthöfer inspiziert ihre Hände, sie sind dunkelrot vom Schälen der Roten Bete. "So eine schöne Farbe!", sagt sie, "ich hab' gar keine Lust, die Hände zu waschen."

Gleichzeitig drinnen und draußen

David Schuster, der eine kurze Lederhose und eine Wolljacke trägt, hockt im Schneidersitz neben ihr und genießt die friedliche Stimmung. Auf dem großen Bett liegt die kleine Frida und schnauft leise vor sich hin. Die eineinhalb Jahre alte Tochter der beiden ist während der Vorbereitungen fürs Mittagessen eingeschlafen.

Die Drinnengeräusche vermischen sich mit den Draußengeräuschen, die Essensgerüche mit dem Heuduft. In der Jurte ist man immer gleichzeitig drinnen und draußen. Zwischen dem Wohnbereich und der Natur sind nur zwei Schichten Filz aus Schaf-, Pferde- und Yak-Haaren. Die Stoffschichten atmen, tagsüber halten sie Hitze ab, nachts bleibt es im Innenraum angenehm warm.

"Yurt" bedeutet "Heim"

Der Boden ist aus hellen Holzbrettern, darunter ist die Wiese. "Wir leben mit der Natur, in der Natur", sagt David Schuster, der seit zweieinhalb Jahren mit seiner Freundin Nadja in der Jurte wohnt, "ich kann mir absolut nicht mehr vorstellen, eine Wohnung zu haben und schon gar nicht, jeden Tag ins Büro gehen zu müssen - das wäre der Horror".

Jurte - das kommt vom türkischen Wort "yurt" und bedeutet "Heim". Die traditionelle Behausung der mongolischen Nomaden ist eine Kreuzung aus Haus und Zelt, die Wände bestehen aus einem klappbaren Holzgerüst und Stoffplanen. Die Jurte kann innerhalb weniger Stunden abgebaut und so klein zusammengefaltet werden, dass alles auf zwei Kamele oder auf die Ladefläche eines Geländewagens passt.

Für mongolische Viehhirten, die mit ihren Herden über die Steppe ziehen, mag diese Lebensweise sinnvoll erscheinen - aber warum entschließen sich zwei junge Deutsche gegen den hierzulande handelsüblichen Traum von einer Doppelhaushälfte mit Garten, Flachbildfernseher, Sofalandschaft, Kombi und Einbauküche?

Weniger Besitz, weniger Kosten, weniger Stress - dafür mehr Zeit, mehr Freiheit, mehr Nähe zur Natur, das war die Idee, als sich die beiden entschlossen, in eine selbst gebaute Jurte zu ziehen. "Von unserem Hab und Gut haben wir uns weitgehend getrennt", sagt David Schuster, "wir streben eine Reduzierung unseres Besitzes an."

Sechs Meter Durchmesser hat die kreisförmige Behausung, und darin findet fast alles Platz, was der Kleinfamilie gehört. Es ist nicht viel, was die drei zum Leben brauchen: ein Bett, ein paar Hocker, ein gusseiserner Holzofen, ein paar Küchenutensilien, diverses Werkzeug, ein Akkordeon, selbst geschnitztes Holzspielzeug, eine Kiste voll mit den nötigsten Klamotten.

Nadja arbeitete unter anderem als Zeitungsausträgerin

In einem einfachen Holzregal stehen zwölf Bücher: Pflanzenführer, Bilderbücher und "Leben in der Wildnis" von Éric Valli. In diesem Buch geht es um Menschen, die sich für andere Lebensmodelle entschieden haben als der Normalbürger - um eine ehemalige Punkerin, die wie eine Steinzeit-Jägerin lebt, um einen autarken Bauern, um einen ehemaligen Banker, der sich jetzt als Trapper in der Wildnis versucht.

Nadja und David waren im Gegensatz zu manchen ausgebrannten Gestalten in Vallis Buch nicht komplett zivilisationsmüde, als sie sich entschlossen, ganz in die Jurte zu ziehen. Sie haben schon immer ein naturnahes Leben geführt, sich für Handwerk, die Traditionen der Urvölker und alternative Lebensformen interessiert. Kennengelernt haben sie sich in Oberammergau auf der Holzschnitzer-Schule; danach zogen sie zusammen, zunächst in eine Wohnung.

Nadja arbeitete unter anderem als Zeitungsausträgerin, Museumswärterin und Bedienung; David absolvierte eine Ausbildung als Wildnis-Pädagoge und fing an, Bogenbau-Kurse und Wildnis-Seminare zu geben, mit denen er bis heute sein Geld verdient.

"Man gewöhnt sich dran"

Irgendwann baute er die erste Jurte - und Nadja war von dieser mobilen Wohnung gleich begeistert. "Die Natur hat tatsächlich eine heilsame Wirkung auf uns", sagt David Schuster, der mit seinen blonden langen Haaren und seinem Bart aussieht wie ein Jesus-Darsteller der Oberammergauer Passionsspiele. Er glaubt, dass die Jurte die seelische Zufriedenheit fördert: "Diese runde Hülle gibt Geborgenheit, alles ist lebendig hier - und es ist geradezu märchenhaft romantisch", schwärmt er. Wenn er in eine normale Wohnung kommt, fühlt er sich "eingekastelt", überall diese rechten Winkel, schrecklich.

Bei einem Besuch im Sommer kann man nur bestätigen, dass der Harmonie- und Romantikfaktor bei der Jurten-Familie recht hoch ist. Was aber, wenn es wochenlang durchregnet wie diesen Mai? Wenn es im Winter minus zehn Grad kalt ist und man trotzdem Wasser am Brunnen holen muss? Wenn man dauernd Holz hacken und einheizen muss? Und geht es einem nicht manchmal auf die Nerven, dass es nur einen Raum für alle gibt? Sind da nicht auch Ecken und Kanten, selbst wenn man in einem kreisrunden Zelt wohnt?

Sicher sei das Leben in der Natur manchmal mühseliger als in einer Wohnung mit Zentralheizung, Elektroherd und Kühlschrank, meint Nadja, "aber man gewöhnt sich dran". Jeden Morgen schleppt David Schuster einen Zehn-Liter-Eimer Trink- und Brauchwasser vom Brunnen zur Jurte, das reicht meistens einen ganzen Tag lang, auch für die Katzenwäsche mit Schüssel und Waschlappen. Eine Toilette gibt es im nahen Bauernhof, gebadet wird ein oder zweimal die Woche in einem Fluss oder im Bodensee.

Normalerweise kochen sie auf dem Holzofen, der in der Mitte der Jurte steht, aber während der Sommermonate würde der Wohnraum dadurch unerträglich heiß, sodass sie sich mit zwei elektrischen Kochplatten behelfen. Der Strom dafür kommt per Verlängerungskabel vom Herbstenhof, 200 Meter von der Jurte entfernt, den Freunde gepachtet haben, inklusive der Wiesen rundherum.

David und Nadja, beide 30, versuchen ernsthaft, durch ihre Lebensweise möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen. Die Rote Bete haben sie als Ausschussware von einem Demeter-Bauernhof in der Nachbarschaft geschenkt bekommen, weil das Gemüse zu klein und zu schrumpelig ist, um es verkaufen zu können. Brennnesseln verarbeiten sie zu Gemüse, das erstaunlich gut schmeckt. Das Wasser kommt aus dem Brunnen neben dem Bauernhof. Der Brunnen dient im Sommer auch als Kühlschrank-Ersatz für verderbliche Lebensmittel und fürs Biobier, das kalt eindeutig besser schmeckt als warm.

Zeitaufwendiger und anstrengender

Vor ein paar Monaten sind sie mit ihrer Jurte von Oberbayern an den Bodensee umgezogen, auf die Wiese neben dem Herbstenhof. Fürs nächste Jahr planen sie, dort einen Acker anzulegen und eigenes Gemüse anzubauen. Und David träumt von einem ganzen Jurten-Dorf, in dem er Jugendliche für die Natur begeistern kann. Er kann sich vorstellen, für immer Jurten-Bewohner zu sein, "eine Mischung aus Indianerdasein und Biolandwirt mit modernen Hilfsmitteln".

Auf der einen Seite sei in der Jurte manches zeitaufwendiger und anstrengender, auf der anderen Seite falle vieles weg, was Wohnungs- und Hausbesitzer aufhält, sagt Nadja: Fensterputzen ist nicht notwendig, weil es keine Fenster gibt, das Klo kann nicht verstopfen, weil es keines gibt.

Eine runde Geschichte

Außerdem, und das ist fast der wichtigste Punkt: "Diesen Druck, so viel Geld zu verdienen, dass man die teure Miete und ein Leben in der Stadt bezahlen kann, kennen wir nicht", sagt David. Etwa 10 000 Euro im Jahr brauche die Familie zum Leben, inklusive Versicherungen, Bekleidung und Lebensmittel. Dafür verzichten sie freilich auch weitgehend auf Luxus.

Neben den elektrischen Kochplatten gibt es allerdings noch ein paar andere Kompromisse: Sie besitzen ein Handy, einen Computer und ein Auto, sonst wäre Davids Arbeit und vieles andere nicht organisierbar.

Einer der Kompromisse betrifft die Jurte selbst: Normalerweise haben die Original-Nomadenzelte in der Mitte eine Aussparung in der Decke, durch die der Rauch der offenen Feuerstelle abzieht. David hat stattdessen ein rundes Dachfenster aus Kunststoff konstruiert, durch das man in den Himmel schauen kann. Tagsüber scheint die Sonne ins Zelt, nachts sieht man vom Bett aus die Sterne. Aus dieser Sicht ist das Ganze eindeutig eine runde Geschichte.

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Quelle:
SZ vom 27.07.2013/anri
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