Süddeutsche Zeitung

Allwetter-Radfahren:Die Immerkurbler

Wenn sich Radfahrer in Antimaterie auflösen müssten und Höchstleistungen in Equilibristik vollbringen, dann ist Winter. Eine Allwetterbetrachtung des Radfahrens.

Bernd Graff

Entweder man fährt Fahrrad oder man fährt Fahrrad. Es ist so alternativlos: Man kann mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen oder man kann nicht zur Arbeit kommen. Und da man ja vier Jahreszeiten lang zur Arbeit kommen muss, fährt man eben das ganze Jahr lang Fahrrad.

Wer in diesem Sinne Tag für Tag auf sein Radl steigt, um damit zur Arbeit zu fahren, wer dies jahraus, jahrein bei jedem Wetter auf sich nimmt, der tut dies nicht, um "die alltäglichen Wege gesund, sauber und sparsam zurückzulegen", wie Heidi Wright glaubt, die stellvertretende Bundesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Man tut es auch nicht, um das gute Geld für teuren Sprit zu sparen oder "schöne Erfolge" für "Fitness und Klimaschutz" zu feiern, wie es Doris Lungenstraß von der AOK Niedersachsen einmal ausführte.

Der echte Radfahrer radelt: unideologisch, relativ spaßfrei und ohne aufmunternde Zwecke. Natürlich ist es auch gesünder, umweltschonender, sparsamer, mit dem Rad zu fahren. Offenbar haben das Viele begriffen. So klärte Guido Zielke, der Leiter des Fahrradreferats des Bundesverkehrsministeriums, gerade die angesichts einer konstatierten "Fahrradrevolution" schlecht aufgepumpte FAZ darüber auf, dass Radfahren in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei: "Wer heute Rad fährt, gehört schon lange nicht mehr zu den Ökos oder den armen Studenten", meint Zielke. Recht hat er.

Doch gibt es neben den zumeist nur saisonal überzeugten Vernunftradlern auch jene Immerkurbler, die sowieso seit je radeln - und immer weiter, solange es Kettenfett, Gummi und Ventile gibt. Wenn man sich diesem lebensinhärenten Radeln zuwendet, dann wird man zwei Aspekte entdecken, die sozusagen die beiden Achsen des täglichen Rollens bilden. Es sind: Verkehrsteilnehmer. Und es ist das Wetter.

Als Radfahrer begreift man schnell, dass das, was Straßenverkehr genannt wird, eigentlich "Freie Wildbahn" heißen müsste: Darauf tummeln sich zum einen die sonntagsradelnden Ampelhochschalter. Diese Schwarmgenossen sind eine Plage. Kaum werden die klimatischen Verhältnisse hierzulande mediterran, stürzen sie in Pulks aus Kellern und Garagen, um, oft infarktgefährdet, klingelnd, schaltend, strampelnd durch Innenstädte, Auen und Täler zu hetzen.

Jeder Radler weiß, dass sein Nasenbein die einzige natürliche Knautschzone ist. Also tut er gut daran, so umsichtig und vorausschauend wie möglich zu fahren. Andernfalls mag er bei einem Unfall vielleicht im Recht sein, doch wird ihm dies schlimmstenfalls nichts mehr nützen.

Damit sind wir bei den besonderen Herausforderungen des Radelns im Winter. Es ist ja nicht nur so, dass Wind, Schnee und Eis den Radbeweger dann zu Höchstleistungen der Equilibristik nötigen. Es ist zudem so, dass aufgrund dieser Witterungsbedingungen der Lebensraum für alle Verkehrsteilnehmer schmaler wird. Erst verengt herabgefallenes Laub, dann Schnee die Straßenbreite. Man kommt sich also zwangsläufig näher. Doch das wollen viele Automobilisten offenbar nicht wahrhaben.

Da gibt es etwa die nestgluckende Mutti, die ihre Brut immer am sichersten Ort aus dem haushälftengroßen Wohnzimmerpanzer entlassen will, diesen Ort aber immer sehr intuitiv wählt und abrupt bremsend für sich festlegt. Da findet man den Manager, der die feindliche Übernahme schon mal in der freien Interpretation von Vorfahrtsregeln probt.

Ein weiterer Quell der Freude ist der "Plötzliche Parkplatzfinder". Diese Spezies überholt Radler, sieht während des Überholens die Parklücke und schert unmittelbar nach dem Überholen in diese ein. Nach den Gesetzen der Parkplatzfinderphysik muss der Radfahrer sich aufgrund des Überholvorgangs in Antimaterie aufgelöst haben. Sein Bruder ist übrigens der "Ich überhole noch schnell, bevor ich rechts abbiegen muss"-Cruiser. Und dann der Klassiker: Großmuttchen öffnet schwungvoll die Beifahrertür - naturgemäß immer zum Radweg hin, der verschneit noch enger ist als sonst.

Als Allwetter-Radler muss man feststellen, dass einem gerade in der sogenannten kalten Jahreszeit oft sehr, sehr warm um Herz und Gemüt wird: Sei es aus anwallender Wut über die Ignoranz der motorisierten Mitwelt, sei es aus körperlicher Anstrengung bei der Passage von Gefrorenem.

Auch wenn die motorisierte Mitwelt glauben mag, dass man Radfahrer im Winter entweder verscheucht wie lästige Fliegen oder zur Feinjustierung von Zielfernrohren verwendet, hilft es manchmal, sich vorzustellen: Es könnte sich auch um Menschen handeln, die sich auf dem Weg zur Arbeit befinden.

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SZ vom 23.11.2009/bilu
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