Es war an einem Sommertag Anfang der 90er Jahre, als ich das erste Mal Todesangst hatte.
"Alex, versteck dich! Da sind Nazis!" Wir waren Kinder, acht, vielleicht auch zehn Jahre alt, als meine Freunde diese beiden Sätze riefen. Was Nazis sind, wusste ich bis zu diesem Tag nicht. Doch der alarmierte Ton in den Stimmen meiner Spielkameraden und der Schreck in ihren Augen sagten mir: Wenn du nicht sofort verschwindest, dann geht's dir an den Kragen.
Nazis kannte ich nicht. Aber dieses eine Wort, das sie brüllten, sehr wohl. Neger. Ich wusste, dass Menschen wie ich damit gemeint sind. Ich wusste, dass das ein herabwürdigendes Wort ist. Denn schon viele Male zuvor war ich als Neger beschimpft worden und habe auf diese Weise erfahren, dass ich nicht hierher gehöre, dass ich nicht dazugehören darf.
Dabei bin ich in Leipzig geboren und aufgewachsen. Ich bin deutsch und schwarz. Auch heute lassen mich viele spüren, dass ich nicht erwünscht bin. Alle zwei bis drei Monate werde ich von wildfremden Menschen angespuckt. Nicht von Klischee-Nazis, die in Grüppchen rumstehen und auf Streit aus sind.
Es sind Menschen wie der Metal-Typ, der zwei Stunden lang im Fernbus von Erfurt nach Leipzig regungslos hinter mir sitzt. Nachdem wir ausgestiegen sind, spuckt er mir seinen Hass auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle entgegen. Er trifft. Mehrmals wöchentlich rammen mich Menschen mit Einkaufswagen oder anderen Gegenständen zur Seite. Es ist nicht dieses Gerempel, das man aus vollen Passagen kennt. Es ist der "Verpiss dich!"-Schubser. Man spricht mir das Recht auf menschlichen Umgang ab. Sie halten mich für einen Störfaktor. Mein Vergehen: Ich existiere. Ich bin sichtbar.
In öffentlichen Verkehrsmitteln ist neben mir immer Platz, denn hier sitzen viele nicht so gern neben schwarzen Menschen. Da bleibt viel Raum für Aggressionen. Eines Abends, nach der Arbeit, in einer übervollen Straßenbahn: Der Platz neben mir ist wie üblich frei. Ich habe Kopfhörer auf, denn ich will mich nicht mit den Feindseligkeiten meiner Mitmenschen auseinandersetzen müssen. Drei Typen steigen ein und steuern direkt auf mich zu. Einer setzt sich neben mich, die beiden anderen bauen sich vor mir auf. Sie fangen an zu pöbeln. Ich mache meine Musik extralaut, ich will die Typen nicht hören. Sie brüllen über die Musik hinweg, sie wollen, dass ich jeden ihrer verbalen Stiche spüre. Sie beleidigen und beschimpfen mich. Die Hasstiraden sind so demütigend, dass ich sie nicht wiederholen möchte.
Niemand hilft.
Unsichtbarsein als Überlebensstrategie
Im Gegenteil: Alle in der Bahn drehen sich weg, starren nach unten. Tun so, als würden sie nichts mitbekommen. Es ist das typische Verhalten, um jemanden nicht mehr sehen zu müssen. Ich will schreien, brüllen, aufrütteln. Ich will ihnen zeigen: Hey, ich bin noch da. Aber ich bleibe stumm, wehre mich nicht. Ich werde unsichtbar. Irgendwann steige ich aus. Ich habe Angst. Dass die drei Typen mitkommen könnten. Dass sie mir Schlimmeres antun. Womöglich berauscht von der Erfahrung, dass die Masse ihr Verhalten billigt. Vielleicht sogar gutheißt? Sie fahren weiter, und doch begleiten sie mich.
Unsichtbar sein. Das ist zu einer Überlebensstrategie geworden. Das ist wichtig, um nicht übermäßig angegriffen zu werden. Das ist nötig, um nicht andere auf die Idee zu bringen, es jetzt mal dem Afrikaner, Asylanten, Neger - und was sie sonst noch in mir sehen - richtig zu geben, ihm die Leviten zu lesen.
Unsichtbar wurde ich auch an jenem Sommertag, als ich zum ersten Mal Nazis begegnete.
Meine Freunde und ich spielten damals in einem verlassenen Haus. Vielleicht hatten mich die Nazis gesehen, als ich an einem Fenster stand. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß noch, wie einer meiner Freunde die rettende Idee hatte. In dem Haus standen noch einige Möbel und er bedeutete mir, mich in einem Schrank zu verstecken. Ich war noch so klein, dass ich mich im unteren Teil des Schranks verkriechen konnte. Kaum lag ich drin, standen sie schon da. Zusammengekauert hörte ich, wie sie immer und immer wieder brüllten: "Der Neger! Wo ist der?" Sie waren fest entschlossen.
Unsichtbar sein heißt auch, überangepasst durchs Leben zu gehen, nicht aufzufallen und sich keine Fehler zu erlauben, die in irgendeiner Weise mit meiner Hautfarbe verknüpft werden könnten. Genaugenommen heißt das: sich gar keine Fehler zu erlauben. Denn verknüpft werden sie sowieso. Zu laut? Ganz klar, typisch Afrikaner. Fehler im Text? Der kann ja kein Deutsch. Ärgert sich über rassistische Sprüche und Witze? Die Afrikaner sind halt kindisch und impulsiv.
Ich protestiere nicht, wenn mich abends auf dem Heimweg grundlos zwei Polizisten in Schrittgeschwindigkeit verfolgen. Ich nehme das hin. In einem Land, in dem besoffene Prügelpolizisten nach einer Hatz auf Schwarze mit nur wenigen Tausend Euro Strafe davonkommen (siehe hier), müsste ein schwarzer Mensch schon lebensmüde sein, wollte er sich wehren.
Zu schaffen macht mir auch der subtile, alltägliche Rassismus. Microaggressions, kleine Gemeinheiten, mit denen mir Menschen zeigen, dass sie mir misstrauen, dass sie alles tun, um mir aus dem Weg zu gehen.
Wie der freibleibende Sitz neben mir in der Straßenbahn. Oder als ich bei Ikea an der Warenausgabe jobbe. "525!", rufe ich. Ein Kunde, der mit dem Rücken zu mir sitzt, steht auf, dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich. Er sackt in sich zusammen. Vielleicht nicht seine Nummer? Doch. Als meine weiße Kollegin aus der Logistik kommt, stürzt er zu ihr an den Tresen und hechelt erleichtert: "Guten Tag, ich hätte gern die 525." Verärgert rufe ich dem Kunden zu: "Ich stehe hier drüben!" Der entgegnet: "'Tschuldigung, ich hab Sie nicht gesehen!" Wir wissen beide, dass er lügt. Dass er ein Rassist ist, weiß wohl nur ich.
Rassismus verängstigt. Weil man den Hass nicht begreifen kann, der einem grundlos entgegenschlägt. Weil Angriffe oft völlig überraschend kommen. Wie bei dem Typen aus dem Fernbus.
Rassismus schüchtert ein. Wer das Thema offen anspricht, erntet Widerspruch, wird ausgegrenzt, zusätzlich bestraft. Bei einem jährlichen Mitarbeitergespräch hatte ich angemerkt, dass ich vom Vorgesetzten genauso behandelt werden möchte wie die anderen Kollegen auch. Bei meiner Bitte habe ich alle Wörter vermieden, die etwas mit dem Thema Rassismus zu tun haben. Die Situation besserte sich tatsächlich. Aber meine Stelle wurde nicht verlängert und eine andere, für die ich in Frage kam, nachträglich eingespart. Selbst der Betriebsrat der Firma war über die Entschlossenheit, mir keine weitere Beschäftigung zu ermöglichen, erstaunt.
Rassismus geht an die Substanz, erschöpft. Immer schön lächeln, nur nicht ausrasten. Das kostet Energie, die für Wichtigeres fehlt: die Arbeit, die Hobbys, das eigene Leben. Es kostet auch Kraft und Nerven, immer wieder zu erklären, dass es sich um Rassismus handelt. Dass es keine Einzelfälle sind. Dass es keine Einbildung ist. Typische Reaktion weißer Menschen: "Das kann nicht sein, denn ich habe so was noch nie erlebt." Klar, ich ist ja auch nicht schwarz.
Falsche Entschuldigungen für Rassismus
Oder sie sagen Sätze wie: "Das kriegst du bestimmt nur ab, weil du ein Mann bist." Die seien schließlich aggressiver als Frauen. Die handelten mit Drogen, die vergewaltigten unsere deutschen Frauen und Töchter. Derlei Begründungen sind endlos. Allein: Sie tragen nicht. Sie sind Ausflüchte, die rassistisches Verhalten erklären, gar entschuldigen sollen. Es habe ja alles seine Berechtigung.
Natürlich mache ich als schwarzer Mann zum Teil andere Erfahrungen als etwa schwarze Frauen. An der Intensität der Übergriffe, die sie erleiden müssen, ändert das aber nichts. Auch sie erleben in der Straßenbahn, wie weiße Männer aggressiv gegen ihren Sitz hämmern und ihnen etwas in die Haare schmieren. Weiße Mütter schwarzer Kinder berichten, wie sie als "Negerschlampe" bezeichnet und mit Sätzen bedacht werden wie: "Ich würde kotzen, wenn ich ein Negerkind hätte." So etwas geschieht in den vollen Straßenbahnen Leipzigs. Niemand greift ein. Man ist sich offenbar einig: Was da passiert, geht schon in Ordnung.
Damals, an jenem Sommertag in den 90ern, hat man mir geholfen. Es war einer der wenigen Momente, in denen jemand für mich einstand. Dass es mir an dem Tag nicht so erging wie etwa Amadeu Antonio oder Alberto Adriano, hatte ich meinen Spielkameraden zu verdanken.
Die Nazis brüllten weiter: "Wo ist der Neger, wo ist der? Der war doch hier!" Ich konnte ihren Hass hören, verstehen konnte ich ihn nicht. Die Kinder antworteten: "Nö. Hier sind nur wir!" Die Nazis brüllten noch lauter, die Kinder blieben standhaft. Irgendwann zogen die Nazis ab.
Wir waren Kinder. Politisch ungefärbt.
* Der Autor schreibt unter Pseudonym, weil er sonst mit Veröffentlichung dieses Textes den Anfeindungen und Drohungen derer ausgesetzt wäre, über die er schreibt.