Süddeutsche Zeitung

Alltag:Große Pläne

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Anna, 13 Jahre alt, ist arm. Zusammen mit ihrem älteren Bruder und ihrer Mutter wohnt sie in einem Haus in München, einer der teuersten Städte Deutschlands. Wie fühlt sich das an?

Von Meredith Haaf

Es war einmal eine goldene Stadt und darin gab es einen wunderschönen Garten. In dem Garten stand ein Haus, in dem ein Mädchen namens Anna lebte. Es hatte einen Vater, eine Mutter und einen großen Bruder, und ging in die erste Klasse. Eines Tages, Anna und ihr Bruder waren gerade in der Schule, wurde ihnen gesagt, dass sie nach draußen kommen sollten. Da stand ihre Mutter. Das war komisch, weil die Mutter sie sonst immer erst am Nachmittag abholte. "Ich muss euch etwas sagen", sagte die Mutter leise: "Papa ist tot." Dann umarmte sie die Kinder und fragte sie, ob sie zu ihm fahren wollten. Der Junge sagte Nein, aber das Mädchen konnte nicht glauben, dass der, der da tot war, wirklich ihr Papa sein sollte. Also fuhr sie mit ihrer Mutter in das Krankenhaus, wo der Vater gestorben war. Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Danach wurde alles anders im Leben des Mädchens.

Diese Geschichte ist kein trauriges Märchen, sondern sie ist Anna vor sechs Jahren passiert. Anna ist 13 Jahre alt. Sie geht in die achte Klasse eines Gymnasiums. Sie wohnt mit ihrem Bruder Jonas und ihrer Mutter Andrea in der Innenstadt von München. Alle drei heißen in Wirklichkeit anders. Sie möchten aber nicht, dass ihre echten Namen in der Zeitung stehen. Denn es ist nicht einfach darüber zu reden, dass man nicht genug Geld hat, wenn um einen herum alle genug haben.

Andrea, Jonas und Anna sind arm. Das ist so, seitdem Annas Vater gestorben ist. Denn der Familie fehlt das Geld, das er verdient hat. Das bedeutet, dass Dinge, die andere Kinder ganz normal finden, für Annas Familie etwas Besonderes sind. Urlaub zum Beispiel. In den letzten Jahren war Anna ein Mal im Skiurlaub und letzten Sommer in einem Zeltlager. Beides war nur möglich, weil ihre Tante für sie gezahlt hat. Letztes Jahr dann waren sie zu dritt eine Woche in Italien, der erste gemeinsame Urlaub seit Jahren. Andrea sagt: "Wenn man lange genug sucht, kann man da auch für ganz wenig Geld hinfahren." Sie möchte nicht, dass ihre Kinder etwas verpassen. Aber sie muss immer sparen. Sie sagt: "An der Schule gibt es Mädchen, die hänseln die anderen, wenn sie keine Markenklamotten tragen." Andrea verbringt sehr viel Zeit damit, auf Ebay und Flohmärkten nach schönen Anziehsachen zu suchen. Sie sagt: "Wenn Anna eine Hose für fünfzig oder hundert Euro will, sage ich: Das ist eine halbe Woche Essen. Bist du dir sicher, dass du das willst? Dann sagt sie ganz schnell Nein."

Anna sagt: "Mir ist es egal, was die anderen für Klamotten tragen oder was die sagen. Solche dummen Meinungen interessieren mich nicht." Annas Mutter hat einen Beruf, bei dem sie noch ärmeren Menschen hilft, da verdient man nicht viel. Und München ist eine sehr teure Stadt. Die Miete kostet in dem Haus 1300 Euro. Die Kinder sind hier aufgewachsen und die Familie ist in dem Viertel zu Hause. Deshalb wollen sie da nicht weg, und Sozialwohnungen bekommt man nicht so leicht, sagt Annas Mutter. Die Stadt gibt der Familie Wohngeld, das sind ein paar Hundert Euro zur Unterstützung. Andrea bekommt eine Witwenrente und beide Kinder eine Halbwaisenrente und Sozialgeld. Wenn sie die Miete abziehen, haben sie zu dritt ungefähr 800 Euro zum Leben. In München gilt eine Familie mit einem Erwachsenen und zwei Kindern als arm, wenn sie weniger als 1056 Euro zum Leben zur Verfügung hat. Annas Familie hat also noch mal ein Viertel weniger als das.

Wenn man nicht arm ist, muss man nicht oft über Geld nachdenken. Man kann ab und zu verreisen oder ins Kino gehen, wenn man Lust hat. Wenn man neue Schuhe braucht, geht man ins Geschäft und kauft sie. Wenn man mal Pizza essen gehen will, dann kann man das eigentlich machen.

Anna sagt: "Essen gehen wir nie", und an den vielen Cafés und Läden in ihrer Nachbarschaft gehen sie eher vorbei. Schuhe kauft ihre Mutter manchmal bei Aldi. Anna versucht, ihr Taschengeld für besondere Dinge zu sparen. Zwölf Euro bekommt sie im Monat. Neulich hat sie sich neue Kopfhörer gekauft. Sie guckt gerne mit ihrem Bruder auf dem Computer Filme. Zum Geburtstag hat Anna ein Longboard bekommen. Damit geht sie oft raus und saust durch die Straßen. Aus der Bibliothek holt sie sich Fantasy-Bücher. Es gibt auch einen Jugendtreff, wo Anna viele Freunde hat. Mehr als in der Schule: "Mit meinen Schulfreundinnen treffe ich mich eigentlich nie außerhalb der Schule", sagt sie. Alle müssen viel lernen. Ihr fällt das Lernen eher leicht. Zum Glück, denn Anna ist es wichtig, gut in der Schule zu sein. Sie möchte mal Tiermedizin studieren: "Ich will gute Noten haben, damit ich später mit meinem Beruf richtig Geld verdienen kann", sagt sie.

Dann will sie große Reisen machen: "Ich möchte an besondere Orte fahren, Vulkane sehen und Strände und Regenwälder", sagt Anna. Und schon bald geht ein bisschen von ihrem Traum sogar in Erfüllung: Aus Annas Klasse wurden fünf Schüler für einen Austausch nach Australien ausgewählt - und Anna ist dabei. Ein Helferkreis an der Schule hat das Geld für ihre Reise gespendet. Bald wird sie also zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzen und ganz alleine in ein spannendes Land reisen. Fast wie ein Märchen, aber diesmal ein schönes.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2016
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