Die Morgensonne flutet die riesigen Fenster und bricht sich an bunten Drachenfiguren, als Alligatoah seine Schuhe auszieht. In Socken betritt er den tiefroten Teppichboden, im Hintergrund läuft traditionelle chinesische Zither-Musik. „Tolle Lichtstimmung“, murmelt er. Lukas Strobel, wie der Rapper mit bürgerlichem Namen heißt, ist ein Mann, der auf Details achtet – und tatsächlich könnte man hier im „Shaolin Kung Fu Studio“ fast vergessen, dass man sich in Berlin-Schöneberg im ersten Stock über einer breiten Hauptstraße befindet.
Die Chefin steht am Tresen und begrüßt Strobel, während ihr Mann, der Kung-Fu-Meister, in der Ecke hochkonzentriert mit einem Säbel trainiert. Strobel schaut ehrfürchtig zu ihm hinüber: Das Schüler-Meister-Verhältnis im Kung-Fu ist traditionell streng hierarchisch.

Alligatoah ist 35 Jahre alt, ein schlanker, hochgewachsener Mann mit rötlichem Schnurrbart und einer interessanten Wickelfrisur oben auf dem Kopf. Rapper? Würde man auf den ersten Blick nicht vermuten, begegnete man ihm auf der Straße – und wahrscheinlich auch nicht auf den zweiten oder dritten. Er hat nichts Breitbeiniges, nichts Lautes, trägt normale Kleidung, keine sichtbaren Marken. Im Gespräch begegnet einem ein beherrschter, etwas distanziert wirkender Mensch, der in der nächsten Stunde kein einziges Mal lachen wird. Aber zunächst schlüpft er in sein Kampfdress: schwarze weite Stoffhose, weißes T-Shirt. An den Füßen: Stoffschuhe der chinesischen Marke Feiyue.
Kung-Fu, das bedeutet aus dem Chinesischen übersetzt: „etwas durch harte Arbeit Erreichtes“. Für Lukas Strobel ist das mehr als nur der Name einer Kampfkunst, die er seit vielen Jahren praktiziert. Es sei für ihn, erklärt er, auch eine Art Lebensmotto: „Auch Kunst und Kreativität bedeutet ja oft harte Arbeit.“ Er sieht sich als jemand, der es sich ungern leicht macht – was vielleicht auch erklärt, wieso er so gar nicht wirkt wie ein herkömmlicher Rapper.
Alles fing an, als er „Kill Bill“ im Kino sah
Strobel geht nun in die Hocke und dehnt routiniert die Abduktoren, während er auch im Gespräch langsam warm wird. Er besucht heute keine Unterrichtsstunde beim Meister, sondern übt für sich allein.
Begonnen habe seine Liebe zum Kampfsport in der Kindheit. Seine Eltern, beide Künstler, lebten in der niedersächsischen Provinz. Damals brachte ihn seine Mutter zum Karate. Er hatte Talent, kämpfte sich schon mit zwölf zu einem der obersten Gürtel hoch. Aber dann kam er mit etwas in Berührung, das ihn noch mehr faszinierte: Kung-Fu. In einigen erfolgreichen Martial-Arts-Filmen jener Jahre, etwa „Tiger & Dragon“ oder „Kill Bill“, hatte die chinesische Kampfkunst einen großen Moment in der Popkultur. Sie sah für Strobel viel sanfter und runder aus als das eher abgehackte Karate. „Ich bin Künstler, mir gefallen schöne Dinge“, sagt er. Deshalb wechselte er damals auch aus ästhetischen Gründen die Sportart.

Im Studio in Schöneberg kommt jetzt Schwung in seine Bewegungen. Mit großen Ausfallschritten durchmisst Strobel den halben Raum – gefolgt von rhythmischen Tritten in die Luft. Beeindruckend: Er bekommt seinen Fuß problemlos bis auf Stirnhöhe! Und nicht nur das: Ist der Fuß an seiner höchsten Stelle, klatscht er mit beiden Händen an sein Fußgelenk. Ein paar Dutzend dieser Tritte, und Strobel steht der Schweiß auf der Stirn.
Entwickelt wurde Kung-Fu vor Jahrhunderten von buddhistischen Shaolin-Mönchen, zur Selbstverteidigung, aber auch als Achtsamkeitsübung. Die Mönche guckten sich damals die Bewegungen von Tieren ab, etwa dem Kranich oder dem Tiger: geschmeidige, langsame Figuren gefolgt von explosiven, blitzschnellen Attacken. Großmeister können damit Ziegelsteine durchschlagen. Lukas Strobel schätzt Kung-Fu sowohl als Sporteinheit – jede Stunde beginnt mit einem heftigen Kardio-Work-out –, aber auch, um zur Ruhe zu kommen.
Als Jugendlicher träumte er davon, nach China abzuhauen und im Shaolin-Kloster zu leben
Seine Jugend über sei es sein größter Traum gewesen, sich einfach aus der norddeutschen Provinz zu verabschieden und in ein Shaolin-Kloster zu gehen: „Einfach abhauen, Chinesisch lernen, meditieren und kämpfen.“ Aber wie das so ist, wenn man 15 Jahre alt ist, kamen Schule und Alltag dazwischen, und irgendwann auch die Popstar-Karriere. Statt in den Fernen Osten zog er nur ein paar Hundert Kilometer weiter östlich nach Berlin, machte eine Ausbildung zum Mediengestalter – und wurde Rapper.
Die Karriere als Alligatoah begann er mit der Band Trailerpark. Eher plumper Party- und Porno-Rap, der ein paar Jahre lang ziemlich angesagt war. Mit einem Soloalbum 2013 kam dann der Durchbruch: Es erreichte sofort Platz eins der Albumcharts. Darauf war auch der erfolgreiche Song „Willst du (mit mir Drogen nehmen)“, der inzwischen 71 Millionen Aufrufe auf Youtube hat und wohl bis heute als Ohrwurm durchs Hirn vieler Menschen hallt, die ihn damals als Kind gesehen haben. Was Alligatoahs Songs auszeichnet: Sie sind meist schlau, ironisch, doppelbödig, in der Wahrnehmung einiger Puristen, die im Rap gerne nach Authentizität suchen, allerdings auch etwas artifiziell und akademisch. Seine Alben folgen oft einem Konzept; er selbst tritt dann fast immer aufwendig kostümiert auf, die Shows sind halb Konzert, halb Musical.
Mit dem Beginn seiner Musikkarriere wurde Kung-Fu zwischenzeitlich von Party ersetzt, erzählt er: Er lebte „in einer WG voller Schimmel“, mit nichts als Bier im Kühlschrank. „Statt Meditation und Sport standen eher Exzess und Rausch im Mittelpunkt.“ Nun, mit Mitte dreißig, genieße er alles in Maßen – sowohl die körperliche Ertüchtigung als auch den Rausch. „So kann ich mir hoffentlich beides lange in meinem Leben behalten.“
Diese recht kontrollierte Herangehensweise an Leben und Leidenschaft passt dazu, dass Alligatoah auch noch als Popstar fast alles selbst macht: Er spielt eigenhändig alle Instrumente ein, dreht und schneidet die Videoclips, entwirft das Bühnendesign. Eine Art Ein-Mann-Fabrik, die allerdings gelegentlich andere Künstler zur Kollaboration einlädt. Auf dem neuesten Album, ein Konzeptalbum zu Ehren des Nu Metal, seiner Lieblingsmusik aus der Jugend, findet sich etwa ein Song mit dem leibhaftigen Fred Durst, Frontmann der US-Band Limp Bizkit. Die beiden haben sich backstage bei „Rock am Ring“ kennengelernt und den Song direkt vor Ort aufgenommen.
Seine Auftritte und Tänze sind legendär – und inspiriert von der Kampfkunst Kung-Fu
Im sonnigen Studio ist Strobel bei einer komplex und irrsinnig anstrengend aussehenden Kombination aus Tritt-, Schlag-, Hock- und Sprungbewegungen angekommen. Als man fragt, was genau da nun passiert, wiederholt er alles in Zeitlupe noch einmal und erklärt dabei schnaufend: „Man schlägt, man weicht aus. Man geht rein, man blockt, man greift, man reißt. Dann kommt ein Fußtritt. Und man geht raus mit dem gesamten Gewicht und leitet die Kraft des Gegners um.“

Das jahrzehntelange Training zeigt sich nicht nur in seiner Schnelligkeit und Dehnbarkeit hier im Studio, sondern auch bei fast jedem seiner Livekonzerte. Alligatoah-Auftritte sind unter Fans berühmt für ihre Choreografie und die Outfits. In diesem Sommer hüpfte er zum Beispiel in roter Stoffhose, rotem Rollkragenpullover und einem dicken Kunstpelzmantel durch ein komplettes 90er-Jahre-Großraumbüro, das als Kulisse auf den Festivalbühnen nachgebaut war. Seine Sprünge und Pirouetten erinnerten gelegentlich an die Bewegungen, die man aus Martial-Arts-Filmen kennt. Manchmal, sagt Strobel, fragten ihn Fans nach Konzerten, woher eigentlich die irren Tanzschritte kämen, die er da mache. „Aus China kommen die“, antworte er dann.
Dort, in dem Land, aus dem Kung-Fu, seine Leidenschaft, seinen Anfang nahm, war er übrigens bis heute noch nie. Dabei reise er total gern. Aber den Moment, in dem er endlich mal dorthin fahre, wo er sich als Teenager jahrelang sehnlichst hingewünscht habe, hebe er sich lieber noch eine Weile auf. Denn: „Wenn ich da hinreise, ist mein Leben gefühlt vorbei.“
Keine Leidenschaft ohne Utensilien! Das benötigt Alligatoah zum Kung-Fu:
Die Schuhe

„Leicht, eng anliegend und mit dünner Sohle: Diese Sneakers sind unter Kampfsportlern zu Recht sehr beliebt.“
Die Hose

„In den meisten Kung-Fu-Studios tragen die Schüler schwarze Hosen und weiße Shirts. Wichtig ist dabei ein luftiger Schnitt.“
Der Stock

„Kung-Fu kann man mit verschiedenen Waffen trainieren – von Schwertern bis Lanzen. Der Stock ist die erste Stufe davon.“
Bohnensalat zubereiten mit Jan Delay, Schallplatten hören mit Léa Linster, Kunst machen mit Wolfgang Niedecken: Weitere Folgen von „Meine Leidenschaft“ finden Sie hier.