Alkoholismus:Stille Nacht, nüchterne Nacht

A man sitting in the dark by a window in candlelight drinkin from a small glass A bottle beside him

Gepflegtes Genusstrinken - oder heimliche Sucht? Alkoholikern fällt die ehrliche Antwort schwer. (Symbolbild)

(Foto: imago/Mint Images)

An Weihnachten haben ehemalige Alkoholiker ein höheres Risiko, rückfällig zu werden. Doch es gibt Wege, wie sich die Feiertage trocken überstehen lassen.

Von Juri Auel

Zu Weihnachten musste es stets etwas Besonderes sein. André hatte dann immer ein starkes Bedürfnis, sich etwas Gutes zu tun. Getrieben von dieser Sehnsucht, besorgte er sich zum Fest die edelsten Tropfen - und machte sich damit selbst etwas vor. Er, ein Akademiker, konnte unmöglich ein Säufer sein. Säufer, das waren doch Menschen, die sich mit billigem Fusel von der Tanke zukippen und nicht - wie er - aus Genuss trinken. Die den Geschmack eines teuren Bordeaux oder Rioja nicht zu schätzen wissen.

Heute weiß André, wie falsch er lag. Der Radiologe aus Berlin-Schöneberg hat sich inzwischen eingestanden, dass er Alkoholiker ist. "Der Grund war meine tiefsitzende Lebensangst, die durch den Alkohol verstärkt und zementiert wurde", sagt André.

Es waren Menschen wie Wolfgang, die André damals verachtete. Wolfgang ist durch seine Sucht auf der Straße gelandet. Wenn seine Wut und die Trauer darüber zu groß wurden, griff er zum geklauten Wodka, um die Gefühle abzutöten. André saß in seiner Berliner Altbauwohnung, eine Hundert-Euro-Flasche Single Malt vor sich, und fühlte sich all den Wolfgangs da draußen überlegen. Weil sie in seinen Augen nur um des Saufens Willen soffen. Und weil sie unfähig waren, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Er war etwas Besseres als sie.

Wolfgang, der wie André seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat den Sprung von der Straße zurück in ein geregeltes Leben geschafft. Seit 18 Jahren ist der Brandenburger trocken, hat sich als IT-Spezialist selbständig gemacht. Als Obdachloser war die Zeit vor Weihnachten für ihn oft eine Qual. Die fröhlich wirkenden Familien in den geschmückten Passagen stimmten ihn wehmütig, die Adventsfeiern in der Notunterkunft konnten das, was er sich ersehnte, nicht ersetzen. Zu gekünstelt, zu aufgesetzt das Ganze.

"Die haben sich ja Mühe gegeben, aber der familiäre Charakter fehlte", sagt Wolfgang. "Mit Fremden kann man sich doch nicht über persönliche Dinge unterhalten." Wolfgang fühlte sich dann immer umso einsamer, obwohl er von anderen Menschen umgeben war.

André hat sein erstes nüchternes Weihnachten vor drei Jahren erlebt - eine Herausforderung für den Mediziner. Weil Alkohol an jeder Ecke zu haben ist. Und man als Alkoholiker jede Gelegenheit nutzt, in der man trinken kann, ohne aufzufallen. Aus Angst, der dauerpräsenten Versuchung nicht zu wiederstehen, verkroch André sich in seiner Wohnung. Weit weg von all den Weihnachtsfeiern und dem Geruch, den die Glühweinstände in den Straßen verströmten.

Wolfgang wundert es nicht, dass die Rückfallquoten bei Alkoholikern um die Feiertage besonders hoch sind. Auch er ist vor gut 20 Jahren schwach geworden, als er im Dezember immer noch in dem Obdachlosenheim fest saß, aus dem er schon lange ausgezogen sein wollte. Seine drei Schwestern hatten irgendwann den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil er sie ohnehin nur besuchte, wenn er wieder einmal Geld brauchte.

Für einen Rückfall braucht es nicht viel

Doch für einen Rückfall braucht es oft viel weniger als eine ausweglose Situation an Weihnachten. Oft reicht schon ein Satz, eine Bemerkung, ein Anruf, der nicht kommt - egal welche Jahreszeit gerade ist. Melanie Poppner ist Diplompsychologin und arbeitet beim Suchthilfeverein "Club 29" in München. "Ob und wann jemand rückfällig wird, hat mit seiner persönlichen Geschichte zu tun", sagt sie. Für einige sei Weihnachten eine kritische Zeit, andere drohten beispielsweise am Todestag ihres Partners wieder zur Flasche zu greifen.

"Wichtig ist, dass die Menschen ihre eigene Strategie entwickeln - und alte Rituale durch neue ersetzen", sagt die Suchtberaterin.

Gisela hat genau das getan. Früher scharte die 63-Jährige, die eigentlich anders heißt, an Heiligabend ihre ganze Familie um sich. "Bei mir stand der große Baum, ich hatte den Platz dafür", sagt sie. Ihr Mann, ein ausgesprochener Weinkenner, zelebrierte das Öffnen jeder einzelnen Flasche wie eine Zeremonie. Manchmal war Gisela über Weihnachten so betrunken, dass sie die Geschenke im Schrank vergaß. Nicht, dass sie den Rest des Jahres nüchterner gewesen wäre, aber ausgerechnet über die Feiertage solche Aussetzer zu haben, machte sie wütend und traurig.

AA "Gisela"

"Gisela" hat an einem Heiligabend bei den Anonymen Alkoholikern Halt gefunden.

(Foto: Juri Auel/SZ.de)

Am ersten Weihnachtsfest, nachdem sie ihrem Mann und dem Alkohol "Lebewohl" gesagt hatte, stand die Münchnerin vor einem Problem: Die vertrauten Rituale fehlten ihr. Um sich selbst zu schützen, wie sie sagt, ging sie zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. An Heiligabend. Die Selbsthilfegruppe, die nicht an Konfessionen gebunden ist, kennt keine Feiertage. Irgendwo findet immer ein Treffen statt. "Das hat mir geholfen. Da waren Menschen, denen ist es genau so gegangen wie mir."

Inzwischen geht Gisela zwar noch zu den Treffen, aber nicht mehr an Weihnachten. Mit einem neuen Partner kamen auch neue Traditionen für die Feiertage. An Heiligabend, so ist es jetzt Brauch, geht die 63-Jährige tanzen. Keine Chance für einen Rückfall, denn: "Tänzer trinken Wasser. Mit Alkohol kann man nicht tanzen", sagt sie.

Auch Wolfgang verbringt die Feiertage inzwischen anders als früher. Der Computerexperte ist einer der Administratoren eines Selbsthilfeforums für Alkoholiker. An Weihnachten und um Silvester betreut er mit anderen Freiwilligen einen Chat, in dem Betroffene Halt und Ablenkung finden können, wenn sie, wie Wolfgang es nennt, der "Saufdruck" plagt.

Am ersten Feiertag hat Wolfgang allerdings etwas anderes vor. Da trifft er sich mit seinen drei Schwestern zum gemeinsamen Essen. Aus Rücksicht auf ihn trinkt niemand am Tisch Alkohol. "Heute lebe ich so, wie die Menschen, die ich in meiner Zeit auf der Straße immer beneidet habe", sagt er.

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