Afghanistan:Erloschene Träume

Afghan Women

Aryana Sayeed, Sängerin, war Jurorin bei "The Voice of Afghanistan". Nach der Machtübernahme der Taliban konnte sie das Land in letzter Minute verlassen.

(Foto: privat)

Sie waren Sängerinnen, Politikerinnen, Unternehmerinnen und glaubten an eine Zukunft. Dann kamen die Taliban. Die Künstlerin Nahid Shahalimi lässt nun in einem Buch Afghaninnen über den Verlust ihrer Heimat sprechen.

Von Martina Scherf

Sie gaben ihr eine schusssichere Weste. "Wenn sie hierhin schießen, wird mir nichts passieren" - Aryana Sayeed dreht sich zur Kamera, deutet auf ihre Brust und zieht die Weste zu, bevor sie sich auf den Weg ins Fernsehstudio macht. "Es sei denn, sie schießen mir gleich in den Kopf." Sayeed, 36, ist Sängerin, Moderatorin, war Jurorin bei "The Voice of Afghanistan". Bis zum 15. August 2021, der Machtübernahme der Taliban. Seither sind Frauen wie sie aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sayeed ist eine der Frauen von Afghanistan, denen die Münchner Künstlerin und Aktivistin Nahid Shahalimi jetzt ein Buch und einen Kurzfilm gewidmet hat. Sie führte Videointerviews, ließ sich Fotos und Tagebuchnotizen schicken, zum Teil waren die Frauen da schon auf der Flucht. Aber sie wollen nicht schweigen.

"Es gibt Hunderte Frauen, die dieses Land in den vergangenen 20 Jahren geprägt haben", sagt Nahid Shahalimi an diesem verschneiten Novembermorgen, als sie im Büro ihrer Münchner Verlegerin Elisabeth Sandmann sitzt. "Politikerinnen, Ärztinnen, Journalistinnen und Richterinnen, Künstlerinnen, Unternehmerinnen, Ingenieurinnen. Wir dürfen nicht zulassen, dass deren Lebenswerk einfach so vernichtet wird." Deshalb dieses Buch, in wenigen Wochen nach dem Umsturz entstanden, Titel "Wir sind noch da".

Da ist Fauzia Kofi, zuletzt Parlamentsabgeordnete. "In der ersten Runde der Kandidatur sprachen die Leute darüber, wie ich mich kleidete, mit wem ich sprach, wie meine Schals aussahen oder ob ich Lippenstift trug", erzählt sie. Am Ende wurde sie Vizepräsidentin des Parlaments. Sie brachte Gesetze zum Schutz von Frauen auf den Weg und verhandelte schon mal in Doha mit Taliban-Vertretern. Jetzt ist sie im Exil.

bitte zuordnen.....

Fauzia Kofi, 46, war eine der vier Frauen bei den Friedensverhandlungen mit den Taliban 2020 in Doha.

Da ist Razia Barakzai, studierte Politikwissenschaftlerin. In den Tagen nach dem 15. August rief sie die Frauen in Kabul zu Protesten auf. Sie hatte sich am Morgen von ihrer Familie verabschiedet, nicht wissend, ob sie am Abend zurück kommen würde und stellte sich mit Transparenten vor die bewaffneten Männer. Sie lebt inzwischen versteckt an einem unbekannten Ort.

Afghanistan: Fatimah Hossaini, Fotografin und Journalistin, konnte Afghanistan verlassen.

Fatimah Hossaini, Fotografin und Journalistin, konnte Afghanistan verlassen.

(Foto: oh)

Da ist die junge Journalistin Fatimah Hossaini, die Shahalimi ein Foto-Tagebuch ihrer letzten Tage in Kabul schickte. Am Samstag traf sie sich noch mit Freundinnen in einer Bar und schmiedete Pläne für die kommende Woche - und als sie am Sonntag aufwachte, standen die Taliban in den Straßen. Ihre Zukunft war zerplatzt wie eine Seifenblase, ihr Leben bedroht. Weil sie eine Frau ist. Weil sie eine Kamera besitzt. Sie kämpfte sich durch die Menge zum Flughafen und konnte mit einer französischen Militärmaschine ausreisen. Ihre Freundinnen blieben zurück. Das Entsetzen steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Seit 2017 kann sich nicht mehr in ihre Heimat reisen

Fast vier Monate ist der Umsturz in Kabul jetzt her, und mit jedem Tag wächst die Verzweiflung. Nahid Shahalimi spricht schnell, schaut immer wieder auf ihr Handy, es kommen Nachrichten aus Kabul, aus Herat, aus Montreal und Washington. Sie war elf Jahre alt, als ihre Mutter mit ihr 1985 aus Afghanistan floh, über Pakistan bis nach Kanada. Sie studierte Kunst und kam vor 20 Jahren nach München, wo ihre beiden Töchter geboren sind. Doch Afghanistan ließ sie nie los. Seit 2011 reiste sie immer wieder in das Land ihrer Kindheit, oft mehrmals im Jahr, führte Interviews, fotografierte und filmte. 2017 erschien ihr Buch "Wo Mut die Seele trägt. Wir mutigen Frauen in Afghanistan". Danach konnte sie nicht mehr einreisen. Zu gefährlich.

Aber die vielen anderen, die jeden Tag für ein Stückchen mehr Freiheit kämpften, die schusssichere Westen anzogen, die Schikanen ertrugen, die Anschläge überlebten und am nächsten Tag einfach weiter machten - "all diese Frauen dürfen wir jetzt nicht allein lassen", sagt Shahalimi. "Wir sind keine Opfer. Wir brauchen kein Bedauern, wir brauchen Solidarität."

Und es ist ja nicht so, dass sie nicht gewarnt hätten. Shahalimi nimmt ihr Smartphone zur Hand, startet einen Film. Auftritt Maryam Safi am 8. März 2018, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York. Da sitzt eine Frau mit Kurzhaarschnitt und Jackett und warnt in klaren Worten vor dem Vormarsch der Taliban auf dem Land. Safi lehrte Politik an der American University of Afghanistan, verfasste empirische Studien über die Entwicklung der Zivilgesellschaft, verhandelte selbst schon mit Talibanvertretern. Vor der UNO berichtet sie von der Gewalt gegen Frauen und Kinder, vom wachsenden Einfluss des Haqqani-Netzwerks, einem besonders radikalen Flügel der Fundamentalisten.

bitte zuordnen.....

Nahid Shahalimi, 48, floh mit elf Jahren mit ihrer Mutter aus Afghanistan. Heute lebt sie in München.

(Foto: Isa Foltin/Getty Images)

Auch Nahid Shahalimi war an diesem Tag in New York dabei, ebenso in Brüssel, in Genf, immer wenn es wieder mal um die Lage in Afghanistan ging. "Doch wir stießen auf taube Ohren." Frauen seien als lästige Einmischung bei den Konferenzen betrachtet worden. Stattdessen verhandelten die Amerikaner schon damals mit den Taliban über einen Friedensprozess. "Und wozu hat es geführt? Es gibt keinen Friedensprozess ohne Frauen."

Die 48-Jährige blickt kurz aus dem Fenster, wo dicke Schneeflocken vorbei treiben. "So viele ,Experten' sprechen über uns und unser Land. Seit Jahren. Aber Expertisen aus erster Hand bekommen sie von uns."

"Wir müssen nicht vom Westen lernen, was Selbstbestimmung und Feminismus bedeuten"

Es gab im afghanischen Parlament eine Frauenquote, der Anteil weiblicher Abgeordneter war fast so hoch wie im deutschen Bundestag: beinahe 30 Prozent. Engagierte Politikerinnen waren regelmäßig im Fernsehen zu sehen. Journalistinnen drehten Reportagen über den Fortschritt im Land. "Aber in ausländischen Medien wiederholten sich die Bilder von Bomben und Panzern, von bärtigen Männern und verschleierten Frauen", findet Shahalimi. Manchmal im Laufe dieses Gesprächs füllen sich ihre Augen mit Tränen.

Jetzt wird in Doha wieder verhandelt. "Und wieder sitzen da weiße Männer in goldenen Fünf-Sterne-Hotels und reden mit anderen Männern, die vor Kurzem noch zu den meist gesuchten Terroristen zählten. Aber es geht dabei auch um unsere Körper, unsere Freiheit, unser Leben." Die Taliban seien abhängig von internationaler Anerkennung, "also zwingt sie dazu, ein paar Frauen am Tisch zu akzeptieren". Es gehe nicht darum, einen westlichen Lebensstil nach Afghanistan zu bringen. Viele Afghaninnen wollten ihr Kopftuch nicht ablegen. "Warum auch? Demokratie bedeutet nicht, seine kulturelle Identität aufzugeben. Wir müssen nicht vom Westen lernen, was Selbstbestimmung und Feminismus bedeuten."

Sie hält kurz inne und sagt dann plötzlich: "Aber es geht gar nicht nur um Afghanistan. Schau nach Polen, Ungarn, nach Texas, in die Türkei. Wir bewegen uns rückwärts." Die Pariser Bürgermeisterin wurde verklagt, weil sie zu viele Frauen beschäftigte. Shahalimi lacht kurz auf. "Da käme viel Geld zusammen, würde man alle ihre Vorgänger verklagen, weil sie nur Männer eingestellt hatten."

Ihr Netzwerk wächst. Und sie werden wieder vor der Tür stehen bei den nächsten Afghanistanpodien. Aber sie werden sich nicht mehr einfach an den Rand drängen lassen. "Vielleicht werden die Frauen jetzt wieder ins Dunkel gezwungen, vor Blicken versteckt, ihre Talente ihrem Land und ihren Gemeinschaften vorenthalten; aber das, was sie bereits wissen, lässt sich nicht mehr auslöschen", schreibt Margaret Atwood im Vorwort zu Shahalimis Buch.

Zur SZ-Startseite

Afghanistan
:"Nicht lernen zu dürfen, fühlt sich an wie ein Todesurteil" 

Frauen werden gezwungen, zu ihren gewalttätigen Ehemännern zurückzukehren, Mädchen bleiben ohne Schulbildung: Menschenrechtler ziehen eine verheerende Zwischenbilanz des Taliban-Regimes.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: