Afghanistan:„Ich gehe auf eine geheime Schule“

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(Foto: privat)

In Afghanistan dürfen Mädchen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen. Shokria ist 13 und geht in die siebte. Über die tägliche Gefahr, auf dem Schulweg entdeckt zu werden, die Ängste ihrer Mutter und wie es die Englischlehrerin schafft, den Ort geheim zu halten.

Interview von Kathrin Schwarze-Reiter

SZ: Gehst du gern in die Schule?

Shokria: Ich liebe die Schule. Dort treffe ich meine Freundinnen. Ich mag es, gemeinsam zu lernen. Lesen, schreiben, wie ich mit meinen Eltern umgehe – all das habe ich hier gelernt. Die vierte Klasse habe ich als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Da war ich schon ziemlich stolz. Nach der sechsten Klasse ist es Mädchen hier in Afghanistan verboten, in die Schule zu gehen. Das wollen die Taliban nicht, die hier das Sagen haben. Jetzt gehe ich auf eine geheime Schule. Ich bin in der siebten Klasse.

Was heißt geheim?

Mit meinen Freundinnen kann ich schon darüber reden, die meisten von ihnen gehen auch zur geheimen Schule. Bei anderen muss ich manchmal lügen. Wie stelle ich es heute an, auf dem Schulweg nicht entdeckt zu werden? Das Gefühl von Gefahr ist immer mit dabei. Ich bin jeden Morgen 40 Minuten zu Fuß unterwegs. Wie verhalte ich mich, wenn ich doch mal entdeckt werde? Manchmal, wenn es zu gefährlich wird oder das Klassenzimmer entdeckt wurde, ist Schluss. Dann fällt tagelang die Schule aus, bis wir einen neuen Raum haben.

Du bist 13 Jahre alt, in Deutschland stöhnen viele 13-Jährige über Mathetests, das Gebüffel, das frühe Aufstehen …

Irgendwie kann ich das schon auch verstehen. Andererseits: Spielen macht einen für den Moment glücklich. Etwas wirklich zu wissen, zu verstehen – das hält ein Leben lang. Ich will eine strahlende Zukunft. Manche hier sind nicht damit einverstanden, dass wir zum Beispiel Englisch lernen. Wofür soll man das brauchen, fragen sie. Ich glaube: Englisch ist sehr wichtig für mich. Ich will irgendwann normal leben können.

Setara, Sie sind die Mutter von Shokria. Warum schicken Sie Ihre Tochter in eine geheime Schule, haben Sie keine Angst?

Setara: Doch. Ich habe eine Höllenangst. Ich denke die ganze Zeit daran, was alles passieren könnte. Was, wenn sie heute das Klassenzimmer entdecken? Wie geht es dann weiter?

Lohnt es sich?

Ich selbst durfte nie zur Schule gehen. Keinen einzigen Tag. Ich will, dass meine Kinder nicht so leben müssen wie ich. Ich wünsche Shokria eine Zukunft voller Licht und Verstehen.

Hat Shokria manchmal Zweifel?

Sie ist ein mutiges Mädchen. Ich lobe sie jeden Tag.

(Foto: privat)

Shamsia, Sie sind die Englischlehrerin von Shokria. Wen und wie unterrichten Sie?

Shamsia: Ich unterrichte 20 Schülerinnen und ein paar Schüler in Englisch. Sie sind zwischen sieben und 24 Jahre alt. Eine davon ist Shokria. Ich unterrichte von 10 bis 13 Uhr. In vielen anderen geheimen Schulen wird in drei Schichten unterrichtet. Sonst wäre der Wissensstand der Schülerinnen zu unterschiedlich, der Raum zu klein. Unser Klassenzimmer ist ein ganz normaler Raum in einem ganz normalen Haus. Alles möglichst unauffällig. Die Schülerinnen sitzen im Schneidersitz auf dem Teppich, vorne gibt es eine Tafel. Wir haben Textbücher, Stifte und auch ein paar Schulranzen. Aber die Kinder tragen sie lieber nicht. Sie wollen unauffällig bleiben. Niemand soll auf die Idee kommen, dass sie zur Schule gehen. Und sie haben teils einen langen Schulweg, gehen bis zu einer Stunde zu Fuß. Die Taliban wollen keine weiblichen Lehrkräfte, in afghanischen Schulen soll kein Englisch und Mädchen sollen höchstens bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden. Was genau passieren würde, wenn sie uns entdecken, weiß ich nicht. Aber ich habe von anderen geheimen Schulen gehört, in denen die Taliban gewütet haben. Sie haben Klassenzimmer zerstört, manchmal auch die Familien der Schülerinnen bestraft. Der Vater, der Bruder, der Onkel, irgendjemand aus der Familie wird dann in der Öffentlichkeit verprügelt, manchmal auch wochenlang ins Gefängnis gesteckt. Natürlich habe ich Angst – um meine Schülerinnen, um ihre Familien, um mich, jeden Tag.

(Foto: privat)

Wie verhindern Sie, dass das Klassenzimmer entdeckt wird?

Es gibt gute Menschen hier. Die geben uns einen Raum, in dem wir unterrichten können. Es funktioniert nur, wenn wir darauf vertrauen, dass nichts passiert. Es ist nicht so, dass wir flüstern müssen, aber die Fenster haben wir zum Beispiel mit Folie abgeklebt und im Winter verzichten wir darauf zu heizen, selbst wenn wir mal Holz haben. Es sind oft verlassene Gebäude, in denen wir unterrichten. Und der Rauch könnte uns verraten.

Warum das Risiko, warum bleiben Sie nicht einfach zu Hause?

Ich will etwas tun, was sinnvoll ist. Ich glaube, es ist wichtig, dass Kinder in einem Rest von Normalität aufwachsen können. Und da gehört Bildung unbedingt mit dazu. Nur so können sie entscheiden, was gut und böse ist. Nur so können sie sich wehren. Nur so gibt es eine bessere Zukunft.

In Daikundi leben etwa 800 000 Menschen. Die Provinz liegt in Zentralafghanistan und ist etwa halb so groß wie die Schweiz. Es ist sehr bergig dort. Dörfer, gerade wenn sie in Seitentälern liegen, sind schlecht erreichbar. Im Februar 2022, ein paar Monate nach dem Kollaps der afghanischen Regierung, gründeten einige nach Deutschland geflüchtete Jugendliche in München den Verein „Ein Herz für Afghanistan“. Gemeinsam mit anderen Organisationen unterstützen sie Mädchen und Jungen, die sonst nicht in die Schule gehen könnten. Sie kaufen Schulbücher, Stifte, Hefte und bezahlen Lehrerinnen. Außerdem helfen sie bei der Suche nach geheimen Gebäuden. Allein in der Provinz Daikundi gehen jeden Tag Schülerinnen und Schüler auf insgesamt neun geheime Schulen. Mehr Infos unter: einherzfuerafghanistan.de

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