Süddeutsche Zeitung

Ärztin in Gießen:Angeklagt, weil auf der Website "Schwangerschaftsabbruch" steht

Lesezeit: 4 Min.

Eine Ärztin aus Gießen steht vor Gericht, weil sie von radikalen Abtreibungsgegnern angezeigt wurde. Sie will notfalls durch alle Instanzen gehen, um auf einen ihrer Meinung nach unsinnigen Paragrafen aufmerksam zu machen.

Von Oliver Klasen

Ihre Gegner vergleichen das, was Kristina Hänel als Ärztin tut, mit dem Völkermord der Nazis. "Damals KZs, heute OPs" steht auf einer Internetseite, die der radikale Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen betreibt. Zu sehen sind Bilder von schreienden Kindern und zerstückelten Föten, außerdem werden die Namen zahlreicher Ärzte aufgelistet, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.

Eine von ihnen ist Hänel, 61 Jahre alt, Allgemeinmedizinerin im hessischen Gießen. Annen und sein Verein "Nie wieder e. V." haben einen Prozess gegen sie angestrengt, der an diesem Freitag vor dem Landgericht in Gießen beginnt. Es wird dann um einen Passus gehen, der nur äußerst selten verhandelt wird: Paragraf 219a Strafgesetzbuch. Er verbietet die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche. Bis zu zwei Jahre Gefängnis oder Geldstrafe stehen darauf.

"Werbung" bedeutet in Hänels Fall, dass dort, wo sie auf ihrer Internetseite ihr Leistungsspektrum auflistet, auch das Wort "Schwangerschaftsabbruch" steht. Wegen dieser 23 Buchstaben ist sie angeklagt. Wer auf den Link klickt, kann seine E-Mail-Adresse angeben und erhält dann Informationsmaterial zugesendet.

Doch das genügt womöglich, damit sich Hänel strafbar macht. Das Recht lässt an dieser Stelle wenig Ermessensspielraum. Rechtswidrig handelt schon, wer lediglich allgemeine Hinweise über Schwangerschaftsabbrüche weitergibt und auf Stellen verweist, wo der Eingriff vorgenommen werden kann. Im Gesetzestext ist außerdem von einem strafwürdigen "Vermögensvorteil" die Rede. Der wird bei Ärzten angenommen, denn sie erhalten ein Honorar für den Schwangerschaftsabbruch. Beratungsstellen wie Pro Familia dagegen sind in aller Regel gemeinnützig, bekommen Steuermittel und dürfen deshalb Informationsmaterial für ungewollt schwangere Frauen ausgeben.

Weil Paragraf 219a so restriktiv formuliert ist, wird er von Abtreibungsgegnern seit Jahren genutzt, um Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, anzuzeigen und einzuschüchtern. Normalerweise stellen die Staatsanwaltschaften solche Fälle ein, weil die zugunsten der Mediziner annehmen, dass diese nicht wissen können, dass sie sich mit bloßen Informationen auf ihrer Internetseite strafbar machen.

Im Falle von Kristina Hänel greift diese Regelung allerdings nicht mehr. Denn es ist bereits das dritte Mal, dass sie angezeigt wurde. Zweimal wurde sie darauf hingewiesen, dass ihr Handeln rechtlich unzulässig ist. Nun, so heißt es in der Anklageschrift, habe ihr die "Auslegung des Tatbestandes" bekannt sein müssen.

Ihre Petionen hat mehr als 72 000 Unterstützer

Doch Hänel will den Kampf ausfechten und "notfalls durch alle Instanzen gehen". Schon vor Wochen hat sie klargemacht, dass sie eine Verurteilung nicht akzeptieren wird. Sie selbst ist derzeit nicht zu erreichen. Zu viele Anfragen und zu viel Aufregung vor dem Prozess am Freitag. Doch es hat sich eine Bewegung von Unterstützern formiert. Hänels Online-Petition, in der sie die Abschaffung des Paragrafen 219a fordert, haben sich inzwischen mehr als 72 000 Menschen angeschlossen. Zahlreiche Kollegen von Hänel bekunden in einem offenen Brief ihre Solidarität. Und auf der Titelseite der taz am Wochenende waren am vergangenen Samstag 27 Ärztinnen und Ärzte zu sehen. "Wir machen Schwangerschaftsabbrüche" lautete die Überschrift, in Anlehnung an das berühmte Stern-Cover aus dem Jahr 1971, als zahlreiche Frauen öffentlich machten, dass sie abgetrieben hatten.

"Ich finde es gut, dass die Ärzteschaft aus der Ecke kommt und für ihre Berufsfreiheit eintritt", sagt Kersten Artus, Vorsitzende von Pro Familia in Hamburg. Sie berät Hänel und wird auch zum Prozess nach Gießen fahren. Dort haben die Unterstützer der Ärztin gleich zwei Kundgebungen angemeldet. Möglicherweise werden auch Abtreibungsgegner demonstrieren.

In den vergangenen Jahren hat sich die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche wieder verschärft. Artus glaubt, dass das am Aufstieg von Parteien wie der AfD und Bewegungen wie Pegida liegt, "in deren Reihen evangelikale und radikalkatholische Kräfte an Einfluss gewinnen". Dahinter stehe "ein Frauenbild, das wir eigentlich lange glaubten, überwunden zu haben", sagt Artus.

Mitte der neunziger Jahre schien der Konflikt vorläufig beigelegt, als eine gesamtdeutsche Regelung gefunden wurde. Es war ein Kompromiss zwischen Frauenrechtlerinnen, liberalen und kirchlich-konservativen Kräften. Anders als vielfach angenommen, sind Abtreibungen in Deutschland weiterhin rechtswidrig. Allerdings bleibt die Frau straffrei, wenn der Schwangerschaftsabbruch vor der zwölften Woche vorgenommen wird und sich die Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten lässt.

Das Thema geriet auch deshalb in den Hintergrund, weil die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im Laufe der Jahre stetig zurückgegangen ist. Inzwischen liegt sie nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bei etwa 100 000 pro Jahr. Doch es gibt immer weniger Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig. So gehen immer mehr Mediziner in Rente, die in den siebziger Jahren die Auseinandersetzung um den Paragrafen 218 erlebt haben und aus "politischen Gründen" Frauen in Not helfen wollten. Es kommen nicht genügend nach; auch, weil Schwangerschaftsabbrüche nicht lukrativ sind. Einige Ärzte lehnen den Eingriff auch aus moralischen Gründen ab, dieses Recht haben sie. Andere, besonders niedergelassene Kollegen, fürchten juristische Auseinandersetzungen mit Abtreibungsgegnern.

Hänel ist in Gießen, einer 85 000-Einwohner-Stadt, nach eigenen Angaben die einzige Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche anbietet. Dass es in Deutschland kein Recht auf Abtreibung gibt, wurde vergangenes Jahr in Niedersachsen deutlich. Mehrere Kliniken in kirchlicher Trägerschaft kündigten an, künftig keine Eingriffe mehr vorzunehmen, es sei denn, das Leben der Frau sei in Gefahr.

Liberale Juristen halten § 219a für überholt

Was Hänel und ihre Unterstützer erreichen wollen, ist eine juristische Klärung und am besten eine Änderung des Gesetzes. Mehrere Politikerinnen von Linken und Grünen haben angekündigt, dass sie sich dafür einsetzen wollen. "Liberale Juristen sagen schon lange, dass Paragraf 219a der Rechtslogik widerspricht. Es kann nicht sein, dass medizinische Leistungen kriminalisiert werden", sagt Pro-Familia-Expertin Artus.

Für Hänel ist das Wichtigste, dass sich die Frauen neutral und selbständig informieren können, bevor sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Genau das verhindere die jetzige Regelung. "Niemand ist für Abtreibung", sagt die Gießener Ärztin, deshalb könne man für diesen Eingriff auch nicht im eigentlichen Sinne werben. Ein Kind nicht auszutragen, sei für jede Frau stets die letzte Möglichkeit in einer Notlage.

Radikale Abtreibungsgegner negieren, dass es solche Notlagen gibt und sind der Ansicht, dass jede Abtreibung Mord sei. Sie argumentieren mit dem Vergleich aus der Nazi-Zeit. Dabei ist das Gesetz, das sie verteidigen - Ironie der Geschichte - selbst von den Nazis geschaffen. Es stammt - in seiner alten Fassung - aus dem Jahr 1933.

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