Adoption:"Wie wenn man stirbt"

Mütter, die ihr Kind zur Adoption freigeben, werden als Versagerinnen geächtet und leiden meist ein Leben lang unter der Trennung.

Charlotte Frank

Das also war das Wunder, von dem alle erzählt hatten. Warm und zerknautscht lag es in ihrem Arm und atmete und nuckelte an seinen Fingern und lebte: ihr Sohn. Als er sie anblinzelte und mit winzigen Händen nach ihr griff, flüsterte sie ihm zu, dass sie ihn nicht mehr hergeben würde, nie mehr. Kurz darauf musste Eva Jahn sich von ihrem Baby trennen. Die Schwestern nahmen es mit, das Kind schrie, für die Mutter schrie die ganze Welt.

Adoption

Es ist nicht selbstverständlich, dass Frauen das Kindeswohl über ihr eigenes Mutterglück stellen - genau das tun Frauen, die sich für die Freigabe ihres Kindes entscheiden.

(Foto: Foto: dpa)

"Die Adoptiveltern holten ihn schon am nächsten Tag ab, so hatte ich es mir für mein Kind gewünscht", erzählt sie, hebt die Kaffeetasse zum Mund und trinkt dann doch nicht, als hätte sie den Kaffee schon wieder vergessen über die Erinnerung an den Abschied. Sie hat die glückliche Familie damals zum Parkplatz begleitet, für ein Foto in die Kamera geblickt, dann dem Auto hinterher. Seit diesem Moment vor zwei Monaten befindet sie sich im freien Fall, sagt Jahn, die ihren richtigen Namen nicht nennen will. Dann endlich nimmt sie einen Schluck Kaffee.

Ihr fehlt die Kraft

Sie hatte vorgeschlagen, während des Gesprächs in der Bochumer Adoptionsvermittlungsstelle "Findefux" zu frühstücken, aber dann hat sie gar keinen Hunger, raucht nur und trinkt Kaffee, sitzt kerzengerade da, raue Stimme, müde Augen, ein fast magerer Körper. Eva Jahn hat ihr Kind zur Adoption gegeben - aus Überforderung, ihr fehlt die Kraft.

Es gibt nur noch wenige Frauen wie sie in Deutschland, die sich aus freien Stücken zu so einem Schritt entscheiden. Im Jahr 2006 zählte das Statistische Bundesamt - abzüglich der Verwandtschafts-, Stiefkind- und Auslandsadoptionen - gerade einmal 829 Kinder unter drei Jahren, die an eine neue Familie abgegeben wurden. Ein Großteil von ihnen nicht freiwillig, sondern nach Einschreiten des Jugendamts. Insgesamt ist die Zahl der Adoptionen in zehn Jahren um 37 Prozent gesunken, gleichzeitig wollen immer mehr Paare ein Kind adoptieren. Inzwischen kommen auf jedes Kind zehn Bewerber.

"Mein Sohn hat es so besser"

Dieses Missverhältnis liegt nicht nur daran, dass ungewollte Schwangerschaften nur noch selten vorkommen und dass, wenn doch, Abtreibung heute für viele ein Ausweg ist. 2006 entschieden sich dafür 32.800 Frauen. "Sein Kind zur Adoption zu geben ist gesellschaftlich verpönt", sagt Christine Swientek, Adoptionsforscherin und emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften in Hannover. "Man gibt sein Baby nicht weg", laute die Regel. Wer es doch tut, gelte als Monster, als Egoistin oder Versagerin. Adoptiveltern genießen dagegen das Image von Wohltätern, die ein armes Kind vor der Rabenmutter retten. Soweit die Vorurteile.

Die Wirklichkeit sieht meist anders aus, aber nach der, sagt Eva Jahn, fragt ja keiner. "Stattdessen erklärt mir jeder, dass ich das schon irgendwie geschafft hätte mit Kind". Zum Beispiel die Krankenschwester im Kreißsaal: "So etwas kann eine Mutter doch nicht übers Herz bringen", hat die gesagt.

Als würde sich Eva Jahn nicht selbst schon genug mit solchen Zweifeln quälen. "Ich bereue die Adoption nicht, mein Sohn hat es so besser", meint sie. Und: "Er ist ja nicht mein Eigentum, das ich behalten darf, um selbst nicht traurig zu sein". Ihr Verstand weiß das alles.

Isoliert, abgekämpft - und schwanger

Aber dann sind da noch ihre Gefühle, die immer wieder Oberhand gewinnen, da kann sich der Verstand noch so sicher sein. "Ich habe keine Reserven mehr, um einem Kind gerecht zu werden", sagt Jahn. Sechs Jahre lang hat sie neben ihrem Job als Buchhalterin bis zur Selbstaufgabe ihre demente Mutter und den nierenkranken Vater gepflegt. Kein Tag begann nach fünf Uhr morgens, es gab kein Wochenende, keine Ferien, keine Hilfe.

Als zuerst die Mutter und kurz darauf ihr Vater starb, war auch Jahn am Ende. Isoliert, abgekämpft, aufgebraucht - und im sechsten Monat schwanger. Sie hatte die Gewichtszunahme auf den Stress geschoben und das Ausbleiben der Periode auf ihr Alter, 41 Jahre. Eine Abtreibung kam nicht mehr in Frage.

Im zweiten Abschnitt: Was sich in der Adoptionspraxis verändert hat - und wie es den Müttern nach der Freigabe geht.

"Wie wenn man stirbt"

"Fast alle Schwangeren, die eine Adoption in Erwägung ziehen, sind über den Gedanken an Abtreibung hinaus, aus Notwendigkeit oder aus Überzeugung", sagt Patrizia Pawlik von der Adoptionsvermittlungsstelle "Findefux". Die Sozialarbeiterin kämpft seit Jahren für mehr Anerkennung für abgebende Mütter. "Das sind meist sehr reflektierte Frauen, die sich viele Gedanken über die Bedürfnisse eines Ungeborenen machen und sich fragen, ob sie diesen gerecht werden können", sagt sie. In Zeiten, in denen das Jugendamt fast täglich verwahrloste Kinder aus ihren Familien holen muss, in denen überforderte Eltern ihre Babys dramatisch vernachlässigen und die Supernanny auf dem Bildschirm von vierjährigen Marvins verhauen wird, ist das nicht selbstverständlich.

Leiden - ein Leben lang

Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Frauen das Kindeswohl über ihr eigenes Mutterglück stellen, aber genau das tun Patrizia Pawlik zufolge Schwangere, die sich für die Freigabe ihres Kindes entscheiden. Danach leiden sie ein Leben lang unter der Trennung.

Dabei hat sich in der Praxis schon einiges getan. Seit den achtziger Jahren hat sich die "halboffene Adoption" etabliert, bei der die Mütter die neuen Eltern selbst aussuchen und über die Vermittlungsstelle mit ihnen in Verbindung bleiben können. Zudem gibt es den Weg der "offenen Adoption", bei der die leibliche Mutter, das Kind und die Adoptiveltern in regelmäßigem Kontakt stehen. "Das beugt falschen Erwartungen und bohrender Ungewissheit vor", erklärt der Mainzer Psychologe Hans-Jürgen Stapelmann. Von anonymen "Inkognito-Adoptionen" hingegen wisse man, dass die schmerzhaften Fragen nie aufhörten.

"Wie sieht sie aus? Wie geht es ihr? Wie groß ist sie?", mit diesen Zweifeln hat die Duisburgerin Maike Runge 19 Jahre lang gelebt, bis sie ihre Tochter das erste Mal sehen dufte. Bis dahin war alles, was sie von ihr hatte, die Erinnerung an einen Schrei, gleich nach der Entbindung. Dann verboten die Adoptiveltern den Kontakt. 30 Jahre ist das her, aber Runge - auch sie heißt eigentlich anders - fühlt noch immer die gesellschaftliche Missbilligung, die auf ihr lastet, weil sie ihre eigene Tochter weggegeben hat. Dabei war sie damals erst zwölf Jahre alt, ein Kind, das ein Kind bekam. "Der Freund meiner Mutter hat mich vergewaltigt, seit ich acht war. Mit elf wurde ich schwanger", sagt sie, ihre Tapferkeit wirkt trotzig.

Mutterseelenallein

Sie hat sich durchgekämpft, sie hat heute einen liebevollen Mann, ein Haus mit Garten und eine Terrasse voller Blumen und Spielzeug. Sie blinzelt in die Sonne, versucht ein Lächeln und erklärt, dass sie nach den Verletzungen ihrer Kindheit nicht mehr schwanger werden kann. Ihr Mann und sie haben drei Pflegekinder aufgenommen und den eigenen Babywunsch begraben. Das ist natürlich längst keine so schöne Geschichte wie die des kinderlosen Paares aus Runges Nachbarstadt, das damals ihr Baby aufnahm; ihm eine Familie und ein Pferd und Sicherheit gab. "So etwas passt besser in unser verkitschtes Mutterbild", spottet die Hannoveraner Professorin Swientek. Die andere Seite der Adoption dagegen schweige man tot, sie ist ja auch tragisch und einsam und erzählt von einem zerplatzten Lebenstraum, und wer will das schon hören?

In Bochum am Frühstückstisch möchte Eva Jahn ihren zerplatzten Traum trotzdem noch loswerden. "Früher wollte ich immer eine Fußballmannschaft voll Kinder, wollte verheiratet sein und auf einem Bauernhof leben", erzählt sie. Das alles fiel ihr wieder ein, als sie vor zwei Monaten aus dem Krankenhaus nach Hause kam, in die leere Wohnung. "Mein ganzes Leben zog nach der Adoption vor meinem inneren Auge vorbei, wie wenn man stirbt", sagt sie. Da bemerkte sie erst, was alles nicht geklappt hatte, wie viel schiefgegangen war, die ganzen kaputten Illusionen: Kein Bauernhof, sondern eine Wohnung im Ruhrgebiet. Kein Mann, sondern nur Liebe ohne Gegenliebe. Keine Fußballmannschaft - sondern nur eine Mutter ohne Kind, mutterseelenallein.

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