Adoption:Russlands Waisenkinder bleiben zu Hause

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Mila und Mischa (Foto: Julian Hans)

Das Adoptionsverbot für Amerikaner war eine politische Kaltherzigkeit. Doch es half auch, die Situation zu verbessern - zum Beispiel das Leben von Mila und Mischa.

Von Julian Hans

Große Veränderungen beginnen manchmal mit banalen Dingen. Die Geschichte, die das Leben von Mila und Mischa veränderte, beginnt mit einem ausrangierten Fernseher. Das war vor sechs Jahren; ein Moskauer Klub sammelte Hilfsgüter für soziale Projekte, und Mila Lipner brachte ihr altes Gerät vorbei. Die Organisatoren standen vor vollen Kisten mit Büchern, Kleidern und Lebensmitteln und stellten fest, dass es bei den Hauptstädtern zwar eine große Bereitschaft gab zu teilen, aber niemand hatte daran gedacht, wie man so viele Sachen zu denen bringen soll, die sie brauchen. Mila hatte einen Mini Cooper.

Ein paar Tage später fuhr sie in ihrem vollgepackten Auto Richtung Tula. Vier Stunden von Moskau nach Süden. Den Weg sollte sie bald im Schlaf kennen; das Behindertenheim, für das die Fuhre bestimmt war, hat sie seitdem immer wieder besucht. Fünf Jahre lang. Nie habe sie daran gedacht, einmal eines der Kinder zu sich zu nehmen, sagt Mila Lipner. "Aber am liebsten hätte ich gleich alle hundert adoptiert. Weil das nicht geht, bin ich eben regelmäßig zu ihnen gefahren."

Mila Lipner ist eine schöne Frau, 34 Jahre alt, Schauspielerin, ihr dunkles Haar trägt sie streng zurückgesteckt. Acht Jahre lang stand sie auf der Bühne des jüdischen Theaters Schalom, nebenher hat sie einen Abschluss in Psychologie gemacht. Jetzt sitzt sie auf einer Bank in der Eingangshalle einer Moskauer Sonderschule und wartet auf Michail, der ihr Leben verändert hat. Und sie seines.

Sie verbringt ihre Tage jetzt mit Fahrten zur Schule, ins Museum, zur Nachhilfe, ins Schwimmbad und immer wieder zu Ärzten. Mischa hat zum ersten Mal in seinem zehnjährigen Leben eine Mutter, die für ihn da ist. "Mila", ruft er ihr zu, als er über den Gang kommt. "Er nennt mich nicht Mama", sagt Mila Lipner, "er war ja schon groß, als er zu mir kam. Er kann sich gut an das Kinderheim erinnern und weiß auch, dass er noch eine leibliche Mama hat."

Auf amerikanische Einreisesperren für mutmaßliche Mafiosi sollten Ausreiseverbote für russische Waisen die Antwort sein.

Kinder wie Michail sind die größte Sorge russischer Wohlfahrtsorganisationen, seit die Regierung vor drei Jahren Amerikanern die Adoption russischer Waisen verbat. Gesunde Neugeborene und Kleinkinder finden inzwischen auch in Russland relativ leicht eine Familie. Aber es gibt wenig Frauen wie Mila Lipner (und noch weniger Männer), die sich zutrauen, ein chronisch krankes Kind aufzunehmen und in Russland großzuziehen.

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Seit das Adoptionsverbot im Dezember 2012 verabschiedet wurde, ist es unter Russlands Regierungskritikern als "Gesetz der Schufte" bekannt. Mit den Schuften sind die Abgeordneten gemeint, die einen politischen Streit auf dem Rücken hilfebedürftiger Kinder austrugen. Der US-Kongress hatte zuvor Einreiseverbote und Kontensperrungen für 18 russische Beamte und Privatpersonen verhängt, die dringend verdächtigt werden, Millionen aus der russischen Steuerkasse gestohlen und über ein kriminelles Netzwerk ins Ausland verschafft zu haben. Als der Steuerexperte Sergej Magnizki dahinter kam und mit seinen Vorwürfen an die Öffentlichkeit ging, wurde er verhaftet. Ein Jahr später starb er nach schweren Misshandlungen in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis.

Auf amerikanische Einreisesperren für mutmaßliche Mafiosi sollten Ausreiseverbote für russische Waisen die Antwort sein. Zehntausende demonstrierten dagegen in Moskau. Selbst der stets auf Kreml-Linie ausgerichtete Außenminister Sergej Lawrow sprach sich gegen das Adoptionsverbot aus. Seit dem Ende der Sowjetunion hatten Ausländer - allen voran US-Amerikaner - etwa 60 000 Kinder aus Russland adoptiert. Besonders hoch war der Anteil von Auslandsadoptionen bei kranken Kindern, deren Eltern alkohol- oder drogensüchtig waren, die mit dem HI-Virus infiziert oder behindert waren. Als die Duma das Gesetz ungerührt durchwinkte, waren Hunderte Adoptionen angebahnt, Dutzende Kinder hatten ihre zukünftigen Eltern schon getroffen und warten seitdem vergeblich darauf, abgeholt zu werden.

Offiziell war nicht die Magnizki-Liste der Anlass für die harsche Reaktion, sondern die Sorge um das Wohlergehen der russischen Kinder im Ausland: Der einjährige Dima Jakowlew war gestorben, als seine amerikanischen Adoptiveltern ihn in der Mittagshitze im verschlossenen Auto allein gelassen hatten. Dass in Russland Jahr um Jahr anderthalbtausend Mädchen und Jungen an den Folgen von Misshandlungen sterben, wurde als Argument nicht gelten gelassen. Das Verbot trat zum 1. Januar 2013 in Kraft. Ein halbes Jahr später erlag das erste Kind, dessen Adoption bereits vorbereitet war, einem Herzfehler.

Und drei Jahre danach? Was haben die Kampagnen bewirkt, die Moskau startete, um die Bürger zu Adoptionen zu ermuntern? Hat sich die Einstellung der Gesellschaft zu ihren Waisenkindern gewandelt? Die Behörden melden Erfolge. Waren Ende 2012 etwa 120 000 Kinder zur Adoption freigegeben, sind es Anfang 2016 nur noch 69 000. Ein Erfolg des Gesetzes der Schufte?

Ein Hinterhof im Zentrum der russischen Hauptstadt. In einem niedrigen Gebäude aus der Zarenzeit arbeitet die Stiftung "Freiwillige helfen Waisenkindern". Grauer Linoleumboden, bunte Kinderzeichnungen an den Wänden. Elena Alschanskaja hat die Organisation vor zwölf Jahren gegründet, nachdem sie gesehen hatte, in welchen Zuständen Kinder leben müssen, die von ihren Eltern zurückgelassen werden. Eine Frau mit rundem Gesicht und zupackenden Armen sitzt auf einem Hocker im Spielzimmer und beginnt mit ruhiger Stimme zu erzählen. Sie muss ein bisschen ausholen, denn die Lage der Waisen in Russland hängt von mehr ab als nur vom Dima-Jakowlew-Gesetz, um das es so viel Streit gab.

Bis Anfang der 2000er Jahre sei die Situation in der Tat sehr schlecht gewesen, erzählt sie. Die Russen haben kaum Kinder adoptiert, eine Adoption durch Ausländer war fast die einzige Chance, eine neue Familie zu finden. Die neuen Regeln des Kapitalismus wirkten in Kombination mit den Überresten des sozialistischen Systems auf üble Weise zusammen: Im Sozialismus galt eine Erziehung im Kollektiv als Ideal, in den frühen Tagen der Sowjetunion wurde gar dafür geworben, Kinder in Heime zu geben, um sie von der Gesellschaft erziehen zu lassen statt von der bürgerlichen Familie.

Als die Welt nach der Öffnung des Landes mit Entsetzen sah, welche Zustände in den Kinderheimen herrschten, gab es zwar den Willen zur Veränderung, aber keine Erfahrung und kein Geld. Adoptionsagenturen verdienten daran, kinderlosen Paaren im Westen zu ihrem Glück zu verhelfen. Und korrupte Beamte verdienten daran, für die Formalitäten ein kleines Extra einzustreichen.

Der Staat versuchte dann, die eigenen Bürger mit Werbung und mit Geld zu Adoptionen zu motivieren. "Es gab einen regelrechten Wettbewerb zwischen den Regionen, einige zahlten bis zu einer Million Rubel, das waren damals noch 25 000 Euro", sagt Elena Alschanskaja. Erst 2011 wurden verpflichtende Elternschulen eingeführt. "Vorher wurden die Eltern nicht nur mit Geld gelockt, es wurden auch keinerlei Anforderungen gestellt." Man konnte ein Kind annehmen, das Geld einstreichen und das Kind nach einer Weile wieder abgeben, wenn es sich als zu anstrengend herausstellte. Gleichzeitig wurden schon damals Adoptionen durch Ausländer eingeschränkt.

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Die Kampagne zeigte Wirkung: Tatsächlich nahmen seit Mitte der Nullerjahre mehr und mehr Bürger Waisen auf. Gleichzeitig kämpften Initiativen wie Alschanskajas Stiftung für einen neuen Umgang mit den allein gelassenen Kindern. 2011 beschloss der Gesellschaftsrat, ein beratendes Gremium der russischen Regierung, dem auch Elena Alschanskaja angehörte, eine Reform: Wichtigstes Ziel ist es, Eltern so zu unterstützen, dass sie ihre Kinder gar nicht erst weggeben. Wenn sie es doch tun, sollen die Einrichtungen den Kontakt zwischen Eltern und Kindern fördern.

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"Wir gingen davon aus, dass es viele Jahre dauern wird, bis diese Beschlüsse umgesetzt würden", sagt Elena Alschanskaja. "Aber dann hat das Dima-Jakowlew-Gesetz den Prozess beschleunigt." Wieder stand Russland vor der ganzen Welt als ein Land dar, das sich nicht gut um seine Kinder kümmerte. Aber diesmal war Geld da und Erfahrung. "Natürlich war das Gesetz eine politische Entscheidung, die mit den Waisen gar nichts zu tun hatte. Aber die große Aufmerksamkeit hat geholfen, die bereits beschlossenen Reformen umzusetzen." Seit 2015 werden auch die Waisenhäuser neu organisiert: An die Stelle großer Gruppen mit zwanzig und mehr Kindern sollen familienähnliche Einheiten mit höchstens sechs Kindern treten.

Die Veränderung brauche Zeit, sagt Alschanskaja: "Die Erzieher sind dafür nicht ausgebildet, gerade wurde der erste Studiengang für spezialisierte Pädagogen eingerichtet", aber die Richtung der Reform, die Bürgerinitiativen mit dem Staat ausgehandelt haben, sei richtig.

Wenn sie entscheiden dürfte, würde sie Auslandsadoptionen nur für Kinder erlauben, die nur im Ausland behandelt werden können, sagt Elena Alschanskaja. Zumindest für eine gewisse Zeit. So will es auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen: An erster Stelle stehen die leiblichen Eltern. Wenn sie das Kind nicht versorgen können, sollte es am besten von Verwandten aufgenommen werden. Fallen diese auch aus, bleibt eine Pflege am Heimatort, damit zumindest der Kontakt zur Familie möglich ist. Erst wenn das nicht gelingt, käme eine Adoption im Land oder als letzte Option ins Ausland in Frage. "Wenn wir wissen, in welchem Land ein Kind behandelt werden kann, soll es dorthin ausreisen dürfen. Am Ende ist es wichtiger zu überleben, als Kontakt mit der Oma zu haben."

Große Veränderungen werden manchmal durch banale Dinge ausgelöst, und manchmal bewirkt das Schlechte sogar das Gute. Auch in der Politik: Ein kaltherziger Zug in der Konfrontation mit den USA hat der Situation der Waisen in Russland die Aufmerksamkeit gebracht, die notwendig war, um lange vorbereitete Reformen umzusetzen. Heute werden weniger Kinder von ihren Eltern weggegeben, ihre Betreuung wird neu organisiert und mehr Russen sind bereit zu einer Adoption.

Dem staatlichen Meinungsforschungszentrum Wziom zufolge kann sich inzwischen jeder Fünfte im Land vorstellen, ein Kind zu adoptieren. Dass die absolute Zahl der Adoptionen neuerdings trotzdem rückläufig ist, hat laut der Stiftungsleiterin zwei einfache Gründe: "Es werden weniger Kinder in Obhut gegeben. Und die begehrten Kinder sind schon vergeben." Das sind die jungen, gesunden, wie sie die Kampagne Usynovite.ru ("Adoptieren Sie") des Bildungsministeriums zeigt. Auf der Strecke bleiben ältere und chronisch kranke Kinder wie Michail.

Als Mila Lipner ihn im Dezember 2013 kennenlernte, war er neu in das Internat in Tula gekommen. Dort werden geistig zurückgebliebene Kinder betreut. "Mir fiel aber schnell auf, dass Mischa zwar schlecht aussah - aufgerissene Haut, kaum Haare und Zähne -, aber geistig war er fit." Besuche und Spenden halfen da nicht, die richtige Förderung konnte der talentierte Junge nur bekommen, wenn Mila ihn zu sich nahm. Seine genetische Erkrankung betrifft fasst alle Organe: Die Wimpern wachsen ihm ins Auge, zwei Mal im Jahr braucht er eine neue Zahnprothese. Mischas Körper kann die Temperatur nicht regulieren, im Sommer muss er sich vor Überhitzung schützen. "Er wäre so gern Feuerwehrmann geworden, aber das geht nicht."

Mila Lipner arbeitet jetzt nur noch am Wochenende. Sonst steckt sie alle Kraft in die Förderung ihres Sohnes: Englischkurse, Schwimmen, Malen. Der Staat zahlt einen Unterhalt. "Wann heiratest du eigentlich?", fragt Mischas Klassenkamerad frech. "Hey, so etwas fragt man nicht, das ist unhöflich", antwortet Mila Lipner. Auch ihre Eltern hätten sie vor der Adoption gewarnt, erzählt sie: "Du verdirbst dir dein Leben, niemand wird dich heiraten." Mila Lipner hat das nicht beirrt: "Einen Mann, der nicht mit einem behinderten Kind umgehen kann, den brauche ich auch gar nicht."

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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