Süddeutsche Zeitung

Adoption:Der Herzenswunsch

Ein Paar möchte ein Kind adoptieren. Es wendet sich an das Jugendamt, besucht Elternkurse und schreibt Lebensläufe. Nach einigen Monaten sollen sie beiden tatsächlich ein Kind bekommen. Doch dann kommt alles anders.

Von Heike Nieder

An einem grauen Nachmittag im November sitzt Anja Hoffmann in ihrer Praxis vor ihrem zweitletzten Patienten und kann sich nur schwer auf ihn konzentrieren. Dabei geht es der Ergotherapeutin so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr. Denn bald wird sie Mutter. Gestern hatte sie das Mädchen, von dem sie glaubt, es bald adoptieren zu dürfen, das erste Mal im Arm. Ein unglaublicher, nicht in Worte zu fassender Moment. "Das ist meine Tochter", dachte sie. Und dass es sich so anfühlen muss: Mutter sein.

In wenigen Tagen wird sie die Kleine mit zu sich nach Hause nehmen dürfen. Das hofft sie, seitdem Frau Wagner vom Jugendamt ihr vor sechs Wochen gesagt hat, dass es dieses Baby geben wird, dessen leibliche Mutter seit Beginn der Schwangerschaft beteuert, es abgeben zu wollen. Dieses Baby könnte das Baby der Hoffmanns werden, hatte Frau Wagner gesagt.

Gerade erst hatte das Muttersein angefangen. Und jetzt ist es schon wieder vorbei

Anja Hoffmann, die so viele Jahre geduldig auf ein Kind gewartet hat, kann es heute gar nicht schnell genug gehen. Die Dokumentation zu jedem Patienten schreibt sie normalerweise gewissenhaft abends zu Hause, doch an diesem Tag notiert sie alles bereits während der Sitzungen. Die Heizung hat sie schon abgestellt, die Jalousien heruntergelassen, damit sie nach dem letzten Patienten sofort los kann zu den Pflegeeltern, bei denen das Mädchen zur Zeit untergebracht ist.

Da klingelt das Telefon. Ihr Mann ist dran, seine Stimme zittert. Die Frau vom Jugendamt hätte versucht, ihn zu erreichen. Ob sie zurückrufen könnte? Da durchfährt Anja Hoffmann eine Ahnung. Und so hört sie schließlich Frau Wagner auf der anderen Seite des Apparats sagen: "Die leiblichen Eltern wollen das Kind doch behalten." Anja Hoffmann sackt zusammen. Gerade erst hatte das Muttersein angefangen. Und jetzt ist es schon wieder vorbei.

Anja Hoffmann, die wie alle anderen Personen in diesem Text in Wirklichkeit anders heißt, spricht mit ihrem Mann Andreas schon früh über die Möglichkeit, Pflegekinder aufzunehmen oder ein Kind zu adoptieren. Sie selbst hat nicht nur vier leibliche Geschwister, schon ihre Eltern hatten zwei Kinder zur Pflege. Als das Paar sich kurz nach der Hochzeit ein eigenes Kind wünscht, klappt es nicht. Die beiden bleiben entspannt, Anja Hoffmann ist ja noch jung. Als sie Ende zwanzig ist und im Freundeskreis immer mehr Babys unterwegs sind, wird der Wunsch drängender. In ihrem neu gebauten Einfamilienhaus in einer süddeutschen Kleinstadt planen sie Platz für zwei Kinderzimmer ein, die Wand neben der Haustür tapezieren sie mit Babybildern aus dem Bekanntenkreis. Die Hoffmanns besuchen ein Kinderwunschzentrum, entscheiden sich dann aber aus ethischen Gründen gegen eine künstliche Befruchtung.

Schließlich wenden sie sich ans Jugendamt, um ein Kind adoptieren zu können. Das Paar schreibt Lebensberichte, füllt Fragebögen aus, besucht ein Elterntraining und eine mehrwöchige Seminarreihe für angehende Adoptiveltern. Die Hoffmanns erfahren, dass leibliche Eltern, die ihr Baby zur Adoption freigeben wollen, nach der Geburt bis zu acht Wochen Zeit haben, sich doch für das Kind zu entscheiden. Noch während das Paar den Kurs besucht, bekommen gleich zwei Paare kurz hintereinander ein Kind vermittelt. "Da ist dem Andreas und mir echt die Düse gegangen", sagt Anja Hoffmann und lacht. Die beiden sind so aufgeregt, dass sie zuerst auf den Anrufbeantworter gucken, wenn sie nach Hause kommen. Hat sich das Jugendamt gemeldet? Gibt es auch für uns ein Kind?

Dann, an einem Nachmittag im Oktober, klingelt das Telefon. Anja Hoffmann ist auf dem Sprung, sie muss zum Hausbesuch und hat schon den Mantel an. Frau Wagner vom Jugendamt braucht noch eine ausführliche Beschreibung der Hoffmanns, die sie den leiblichen Eltern mitgeben könne. Es stellt sich heraus: Eine Schwangere, 28 Jahre, mit Mann und Job, Geburtstermin Ende November, will ihr Kind abgeben.

Nach dem Gespräch denkt Anja Hoffmann: in sechs Wochen ein Kind? Was, wenn doch nicht? Warum will die Frau ihr Kind abgeben? Was müssen wir bedenken? Sie ist überrascht, wie wenig Freude plötzlich dabei ist.

Auf dem Speicher der Hoffmanns steht die Wiege des Neffen und Babykleidung, seit Jahren in Kisten verpackt. Sie holen noch nichts herunter, zu groß ist die Angst, alles unbenutzt zurückstellen zu müssen. Aber eine Woche nach der Nachricht von Frau Wagner kaufen sie eine Babyschale fürs Auto. Es fühlt sich gut an, endlich mal was tun zu können. Anja Hoffmann macht ein Bild von ihrem Mann und der Schale. Eine Art Beweisfoto.

Es wird ein Mädchen. Und bald haben sie es lieb gewonnen, obwohl es noch nicht geboren ist

Bald erfahren sie: Es wird ein Mädchen. Sie bekommen den genauen Geburtstermin mitgeteilt und das Prozedere: Das Kind soll nach der Entbindung zunächst für eine Woche in eine Pflegefamilie. Um der leiblichen Mutter den Druck zu nehmen. Von Frau Wagner wissen sie, dass die Mutter nach wie vor das Baby abgeben möchte, weil sie glaubt, ihm das nicht geben zu können, was es braucht. Aber gleichzeitig große Angst hat, es zu vermissen, wenn sie nach Hause kommt.

Zerrissen zwischen zwei Gefühlen - "Es ist unser Kind" und "Es ist nicht unser Kind" - zählen sie die Tage bis zum Geburtstermin. Sie haben das Mädchen, das noch nicht geboren ist, bereits lieb gewonnen. In ihr Tagebuch schreibt Anja Hoffmann: "Ich möchte, dass sie bei uns aufwachsen kann. Aber sie soll die Eltern kriegen, die richtig sind für sie. Es kann sein, dass wir das nicht sind."

Dann ist der Geburtstermin da - und nichts passiert. Kein Anruf, keine Nachricht vom Jugendamt. Eine Woche nach dem errechneten Datum meldet sich Frau Wagner, das Kind ist auf der Welt. Hat sie sich umentschieden? ruft Anja Hoffmann in den Hörer. Nein, beruhigt Frau Wagner, und gibt ihr die Telefonnummer der Pflegefamilie. Wann können wir sie sehen, jetzt, heute, morgen?

"Noch nicht", antwortet die Pflegemutter bestimmt. "Das Kind muss ja erst mal hier ankommen." Anja Hoffmann fühlt sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Um sich abzulenken, macht sie das, was sie eigentlich erst machen wollte, wenn das Kind da ist: Sie holt die Babysachen vom Speicher. Wäscht sie. Hängt sie auf die Leine zum Trocknen. Wartet. Zwei Tage später ist es so weit: Die Hoffmanns halten das Mädchen zum ersten Mal in den Armen. Ihr Mädchen. Als sie das Haus der Pflegefamilie wieder verlassen müssen, weint sie hemmungslos. Das Paar kann vor Aufregung nicht schlafen.

Und schließlich die Nachricht: "Die Eltern wollen das Kind behalten." Für die Hoffmanns bricht die Welt zusammen. Bis das Telefon nach drei Monaten und drei Tagen erneut klingelt. Frau Wagner sagt, die leiblichen Eltern des Mädchens würden es doch nicht schaffen. Die Entscheidung sei nun endgültig. Ob sie sich vorstellen könnten, das Kind immer noch aufzunehmen? Und ob sie morgen Zeit hätten, es vom Jugendamt abzuholen?

Am Abend holt das Paar die Kleider, die Wiege, die Babyschale vom Speicher. Sie telefonieren die halbe Nacht, um noch das Nötigste organisieren zu können.

Der leibliche Vater ist da, er will das Paar kennenlernen. Aber was soll man da jetzt sagen?

Am nächsten Tag im Jugendamt bittet Frau Wagner sie in einen Nebenraum, der leibliche Vater sei da und wolle sie kennenlernen. Das Paar fühlt sich überrumpelt, damit haben sie nicht gerechnet. Im Zimmer liegt das kleine Mädchen in einer Babyschale und schläft. Daneben steht ein Mann im Kapuzenpullover und mit Baseballkappe. Die Hoffmanns wissen nicht, was sie sagen sollen, stehen angespannt nebeneinander. Der Mann hingegen redet und redet. Welche Creme sie braucht, wenn sie einen wunden Po hat. Welche Milch sie bisher bekommen hat. Welches Spielzeug sie mag. "Passen Sie gut auf sie auf", sagt er schließlich. Als er sich von dem Mädchen verabschiedet, weint er. Am nächsten Tag besiegeln die leiblichen Eltern ihren Verzicht auf das Sorgerecht beim Notar.

Heute, ein Jahr später, sitzt Anja Hoffmann im Wohnzimmer ihres Hauses auf dem türkisfarbenen Sofa, neben ihr steht das Babyfon. Unter dem Fenster steht ein Laufstall, darin Bauklötze, eine Kugelbahn, Bilderbücher, Kuscheltiere. An den Wänden hängen nun auch Fotos von ihrem Kind. Anja Hoffmann ist gerade in Elternzeit, und ihre Stimme zittert, als sie vom leiblichen Vater erzählt. "Ich hatte das Gefühl, er hat sie sich vom Herzen reißen müssen", sagt sie. "Aber ich bewundere die beiden für ihren Mut. Sie haben gemerkt, dass sie es nicht schaffen, und sich dafür entschieden, ihr Kind wegzugeben." Es war eine Entscheidung aus Liebe. Das Kind sollte es woanders einfach besser haben.

Dann schlägt Anja Hoffmann ein Fotoalbum auf, das sie und ihr Mann für ihre Tochter zusammengestellt haben. Darin sind Bilder von allen Menschen, die das Kind ins Herz geschlossen haben. Auf der ersten Seite sieht man Anja und Andreas Hoffmann. Auf der zweiten Seite: Eine Frau mit halblangen braunen Haaren und einen Mann mit Baseballkappe.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2015
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