Abhängig von Crystal:Vater, Mutter, Meth

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Plakatkampagne in Dresden. (Foto: plainpicture/Millennium/David Blackmore/SZ-Montage)

Sind jetzt schon ganze Familien auf Drogen? Eine Plakatkampagne erzählt nur die halbe Wahrheit. Zu Besuch bei einer Crystal-Familie.

Von Jan Stremmel, Dresden

Als das Babyfon Alarm gibt, zählt Cora gerade ihre Freunde. Sie sitzt neben Ralf am Esstisch in dem überheizten, gelb gestrichenen Wohnzimmer, in dem sie jeden Morgen mit ihren Kindern frühstückt, und reibt sich mit dem linken Zeigefinger die Nase. Mal überlegen: Wer ist noch übrig aus ihrem Freundeskreis? Olaf, Thomas, Marcel - im Knast, weil sie das Zeug verkauft haben. Alex und Miri - nicht mehr ansprechbar, weil sie es sich inzwischen in die Venen spritzen; nach 15 Jahren Crystal-Schnupfen ist die Nasenschleimhaut kaum mehr als ein entzündetes Stück Leder. Und die restlichen Freunde? "Nu ja, zwei haben sich letztes Jahr aufgehängt", sagt Cora. "Nee, drei", sagt Ralf.

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Solange es Menschen gibt, berauschen sie sich. An Cannabis, Alkohol und anderen Drogen. Schadet die Abhängigkeit unserer Gesellschaft oder ist der Konsum von Rauschmitteln nur allzu menschlich?

Auf der Wachstischdecke vor ihnen liegt eine Schale mit getrockneten Ahornblättern und Kastanien, die die Kinder letzte Woche gesammelt haben. Das Babyfon knackt, im Nachbarzimmer schreit der Säugling. Cora steht auf und geht rüber.

Im Sommer hängte die Stadt Dresden großformatige Plakate in die städtischen Leuchtkästen. Sie zeigten eine vierköpfige Familie beim fröhlichen Rumturnen auf einem Teppich. Darüber der Satz: "Karriere, Kinder, Haushalt? Schaffen wir . . . ohne Crystal!" Jan Böhmermann teilte ein Foto davon auf Twitter, Blogs und Nachrichtenseiten berichteten, und spöttische Kommentare fluteten das Netz: Im Osten sind jetzt schon heile Familien auf Meth? Wie krass ist das denn.

Geplant war keines der vier Kinder

Cora Bülow ist 25, Ralf Bornitz 30, sie kommen aus Dresden, seit mehr als zehn Jahren sind sie abhängig von Crystal Meth. Weil sie den Rest ihres Lebens ändern wollen, um nicht zu enden wie ihre Freunde, von denen niemand mehr da ist, sind ihre Namen in diesem Text geändert. Das gelb gestrichene Wohnzimmer gehört zur Familienstation einer Suchtklinik im sächsischen Großrückerswalde, eine halbe Stunde von Chemnitz entfernt. Hier leben drogensüchtige Eltern gemeinsam mit ihren Kindern in einem Flachbau am Ende einer schmalen, steilen Straße auf der Spitze eines Hügels, von dem man jetzt im Herbst eine herrliche Aussicht über das Erzgebirge hat. Vorausgesetzt, man findet noch irgendwas im Leben herrlich.

Cora und Ralf sehen das pragmatisch: Sie sind hier, um ihre Familie zu retten. Die sechs Monate in der Therapieeinrichtung sind ihre letzte Chance, hat das Jugendamt gesagt, "sonst sehen wir die Kleenen nie wieder." Cora und Ralf haben zwei gemeinsame Kinder: einen Einjährigen und einen Säugling, der vor fünf Wochen zur Welt gekommen ist. Für die Geburt durfte Cora ein paar Tage rüber ins Kreiskrankenhaus. Ralf hat außerdem noch eine zwölfjährige und Cora eine fünfjährige Tochter aus früheren Beziehungen. Geplant war keines der vier Kinder.

Nebenan im Schlafzimmer hängt ein Foto an der Pinnwand, alle sechs zusammen, eine Sozialpädagogin hat es vor ein paar Wochen gemacht. Das Foto ist für Cora und Ralf eine Mahnung: Wenn sie die Therapie nicht abschließen und danach nicht dauerhaft drogenfrei leben, wachsen die Kinder in Pflegefamilien auf. "Dann war's das", sagt Ralf.

Einen Stock höher steht Uwe Wicha, 53, ein Mann mit lauter Stimme und freundlichen Augen, am Fenster seines Besprechungsraums und guckt nach draußen aufs Rauchereck. Zehn Männer und Frauen in Kapuzenpullis saugen heftig an Zigarettenfiltern. Wicha leitet die Suchtklinik in Großrückerswalde. Sie haben hier Platz für 60 Abhängige, die sie "Klienten" nennen, während sie sie in sechs Monaten auf dem Hügel entgiften, therapieren und auf ein Leben ohne Drogen vorbereiten. Eigentlich ist die Klinik für Süchtige aller Art gedacht - aber weil seit ein paar Jahren kaum noch Klienten mit anderen Abhängigkeiten kommen, ist sie unfreiwillig zu einer Crystal-Spezialklinik geworden. Deutschland hat eine neue "Leitdroge", wie Uwe Wicha sagt.

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Der Drogenbericht der Bundesregierung vermeldet in diesem Jahr viel Gutes - weniger rauchende Jugendliche, weniger Alkoholvergiftungen. Doch schon im Vorwort des Berichts fällt das große Aber: Crystal Meth. Die Verbreitung: nimmt zu. Der "erstauffällige Konsum": steigt an. Das Bundeskriminalamt hat auf einer Deutschlandkarte alle Orte mit einem roten Pünktchen markiert, an denen die Polizei im letzten Jahr Crystal sichergestellt hat. Auf der Karte sieht Ostdeutschland aus, als hätte es schwere Akne.

Die Plakate in Dresden mit der auch ohne Crystal glücklichen Familie hingen da nicht ohne Grund. "Wir wollten nicht stigmatisieren", sagt Kristin Ferse, die Suchtbeauftragte der Stadt. Die typischen Bilder von zerfallenen Gesichtern, den "Faces of Meth", hält sie für kontraproduktiv: "Wir sollten nicht mehr so tun, als sei diese Droge eine Randerscheinung." Ferse wollte ein positives Signal setzen. Denn die Konsumenten werden mehr, sie werden älter, und sie werden schwanger.

Die Zahl der Crystal-Babys in Dresden hat sich verzehnfacht

Die Uniklinik Dresden hat kürzlich die durch Crystal geschädigten Neugeborenen der letzten Jahre zusammengezählt und ein Diagramm erstellt: links das Jahr 2007, rechts das Jahr 2014. Die Kurve sieht aus wie ein Tsunami, dessen Spitze noch nicht mal sichtbar ist. Die Zahl der Crystal-Babys in Dresden hat sich verzehnfacht, auf mehr als 70 im Jahr. Überall entlang der deutschen Ostgrenze sieht es ähnlich aus.

Trotzdem war Uwe Wicha überrascht, als er die Plakate in Dresden sah. Moderne Eltern zwischen Karriere, Kindern und Haushalt, die sich mit Crystal leistungsfähiger machen? "Diese Klienten sind ein Mythos", sagt er. "Es gibt sie schlichtweg nicht." Es ist kurios: Spätestens seit im vergangenen Jahr ein SPD-Bundestagsabgeordneter öffentlich seinen Crystal-Konsum gestand, liest man von Putzfrauen und Paketboten, die auf Crystal Doppelschichten machen, von Managern und sogar Doktoranden, die sich damit für Abgabefristen dopen. Aber wenn man Therapeuten fragt, die überall in Deutschland täglich an Hotlines sitzen und Süchtige beraten, kennt kaum jemand solche Fälle.

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Die Zahl der Drogentoten ist im Jahr 2014 wieder leicht angestiegen - entgegen dem Langzeittrend. Die meisten Süchtigen starben durch eine Überdosis Heroin. Doch die Zahl der Todesfälle nach dem Konsum von Crystal Meth, Kräutermischungen und Badesalz hat sich erhöht.

In der öffentlichen Wahrnehmung hat Deutschland eine Modedroge, die perfekt zum Modethema der letzten Jahre passt: Burn-out. Aber für Therapeuten wie Uwe Wicha ist das ein Mythos, der gefährlich ist, weil er die Sache nur noch schlimmer macht.

"Die Süchtigen merken das ja", sagt er. "Sobald sie von Überlastung und Leistungsdruck sprechen, bekommen sie höchste Zustimmungsraten." Wicha nennt das den "sozialpädagogischen Wackeldackel-Effekt": Verständnis aus falsch verstandenem Mitgefühl, das letztlich niemandem etwas bringt - außer den Abhängigen einen neuen Grund, warum sie nichts gegen ihre Sucht tun können.

Wicha fragt seine Klienten dann gerne, wann sie denn zum ersten Mal Crystal konsumiert haben. "Und, oh Wunder: Es ist nie der Montagabend vor der Klausur oder der Mittwochmorgen vor der Doppelschicht", sagt er. "Es ist immer der Freitagabend vor der Party."

Cora und Ralf kommen aus demselben Viertel. Sie wuchs in einer Scheidungsfamilie auf, der Stiefvater war ein gewalttätiger Choleriker. "Bei mir war es umgekehrt", sagt Ralf, "ich durfte immer alles." Als er in der sechsten Klasse ein Zeugnis voller Sechsen und Fünfen nach Hause bringt, kaufen die Eltern ihm trotzdem ein neues Fahrrad. Dann fliegen sie mit ihm in den Urlaub. Damals kennen sich Cora und Ralf noch nicht, er ist fünf Jahre älter, aber ihr Leben verläuft zeitlich versetzt genau parallel: Mit zwölf fangen sie jeweils an zu trinken, ein Jahr später kiffen sie regelmäßig. Mit 15 hält ihnen zum ersten Mal jemand einen Teller mit einer Linie aus weißem Pulver hin. Cora denkt, es heißt "Christel".

Trend zur Hochleistungsparty

Wenn Crystal Meth überhaupt die Folge eines gesellschaftlichen Trends sei, sagt Uwe Wicha, dann des Trends zur Hochleistungsparty. Also dem Trend, in der Dorfdisco von Freitag bis Montag durchzutanzen. Die Droge zerstöre vor allem das Leben einer Gesellschaftsschicht, die sehr weit weg von leistungsbereiten Managern und Doktoranden sei, nämlich bildungsfernen Jugendlichen aus überforderten Elternhäusern. "Aber das klingt leider so schrecklich unspannend", sagt Wicha und lächelt.

Mit 19 wird Cora das erste Mal schwanger. Sie nimmt fünf Mal pro Woche Crystal, sie hat die Hauptschule abgebrochen und danach eine Malerlehre. Ihre Mutter schleppt sie zum Frauenarzt und hält ihr ein Ultraschallbild hin: "Willst du dem Kind das wirklich antun?" Und Cora hört mit der Droge auf. Sogar mit Rauchen. Acht Monate ist sie clean, sie entbindet ihre Tochter - und wird depressiv. Sie kann das Kind nicht stillen, ihre Mutter übernimmt den Säugling. "Ab da hatte ich wieder Freiheit in meinem Kopf", sagt Cora. Zwei Wochen nach der Geburt zieht sie wieder Crystal.

Haushalt, Kinder, Karriere? Cora verschwindet wochenlang von zu Hause, lebt bei ihrem Freund in einer vermüllten Wohnung - das gemeinsame Kind sehen sie alle drei Monate mal, wenn es gerade passt. "Das Geschirr stapelte sich bis zur Wand", sagt sie, "dann haben wir wieder Crystal gezogen und alles ruckzuck geputzt." Sie fahren regelmäßig nach Tschechien und holen Nachschub. Mit dem Verkauf verdienen sie 5000 Euro im Monat, ein Therapeut hat das neulich für sie zusammengerechnet. "Schon krass", sagt Cora.

Sie lernt Ralf kennen. Und wird von ihm schwanger. Und hört wieder auf mit der Droge. Ein Jahr lang sind die beiden clean, sie nehmen den Kontakt zur Familie wieder auf, Cora trifft ab und zu wieder ihre Tochter, die bei Coras Mutter lebt, sie legen sich zwei Hunde zu. Ihr Sohn kommt zur Welt. Und dann ist Silvester. "Wir hatten den Kleinen zur Oma geschafft und wollten mal wieder ordentlich feiern", sagt sie. Im Vollsuff ziehen sie bei Freunden eine Nase. Dass Cora zu dem Zeitpunkt schon wieder schwanger ist, erfahren sie erst Wochen später.

Ralf läuft draußen am Putenstall vorbei und seufzt. Zur Suchtklinik auf dem Hügel gehört ein kleiner Bauernhof mit Schweinen und Geflügel. Die meisten Crystal-Süchtigen seien so jung, dass sie sich nach dem Entzug mit Mitte 20 zum ersten Mal als Erwachsene nüchtern erleben, sagt Uwe Wicha, "entwicklungstechnisch auf dem Stand von Kindern". Mit den Tieren sollen sie lernen, was Verantwortung ist.

Das Jugendamt nimmt das Baby mit

Die Wochen nach der Silvesternacht nennt Ralf "die schlimmste Zeit meines Lebens". Am 13. Januar, morgens um 9 Uhr, rief das Jugendamt an. Unangekündigter Drogentest. Üblich bei Müttern, bei deren Entbindung man illegale Substanzen im Blut gefunden hat. Noch am selben Tag kommt ein Mitarbeiter des Jugendamts und nimmt Cora und Ralf ihren zwei Monate alten Sohn weg. Bis zum Frühjahr dürfen sie ihn nur einmal die Woche für zwei Stunden besuchen. Dann fangen sie die Therapie in Großrückerswalde an.

In ein paar Wochen sind sie fertig, dann ziehen Cora und Ralf zurück in ihre alte Mietwohnung. Ihre Mütter bereiten die Wohnung gerade für die Rückkehr vor, streichen die versifften Wände, werfen die kaputten Möbel weg. Ralfs zwölfjährige Tochter freut sich schon, sagt er. Auf die Eltern und auf die beiden kleinen Geschwister. Ralf schreibt diese Woche gemeinsam mit einem Therapeuten Bewerbungen für Jobs als Hilfsarbeiter. In seinem Lebenslauf klafft eine Lücke von 15 Jahren, sein halbes Leben. "Nu ja", sagt Ralf, "wenn sie fragen, werd' ich denen das ganz offen erklären."

Er guckt rüber zu den Puten, dahinter leuchtet das Erzgebirge. "Was ist denn so schlimm daran, wenn man sein Leben ändern will?" Es klingt noch ein bisschen auswendig gelernt, aber ein paar Wochen hat er ja noch.

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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