Süddeutsche Zeitung

Abenteuer:Kalter Start

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Warum die deutsche Unternehmerin Judith von Prockl bei Eis und Schnee Grönland auf dem Fahrrad durchquert hat.

Von Titus Arnu

Auf dem Fahrrad quer durch Grönland? Im Winter? Das klingt nach einer irren Idee. Es erscheint ungefähr so realistisch wie Tauchen in der Sahara, Bergsteigen auf den Malediven oder Skifahren in Bangladesch. In Grönland gibt es keine einzige Straße, die zwei Ortschaften verbindet, ganz zu schweigen von Radwegen. Die größte Insel der Welt, eine Fläche von 2,1 Millionen Quadratkilometern, ist größtenteils von Eis und Schnee bedeckt; ein denkbar ungeeignetes Terrain für Radtouren.

Grönland, Anfang März: Zehn Frauen steigen auf ihre Fahrräder und radeln los. Sie haben vor, den Süden der Insel zu durchqueren, mit Fatbikes - Mountainbikes mit besonders großen und breiten Reifen, mit denen man im Schnee vorankommt. Von Kangerlussuaq, einem Ort im Landesinneren, wollen die Frauen auf dem Arctic Circle Trail bis nach Sissmiut an der Westküste fahren. Die 170 Kilometer lange Strecke ist im Sommer ein Fernwanderweg, der parallel zum Polarkreis verläuft. Zum ersten Mal versucht ein Frauenteam, diese Route mit dem Fahrrad zu schaffen. Mit dabei: die deutsche Unternehmerin Judith von Prockl, die aus Konstanz stammt und derzeit in Singapur lebt.

Den Zeitpunkt für die Expedition haben die Frauen bewusst gewählt, denn im Januar und Februar ist es zu dunkel und zu kalt in Grönland.

Von Mitte März an taut das Eis, und die Überquerung von Flüssen, Fjorden und Gletscherspalten wird zu gefährlich. Judith von Prockl hat ein Faible für Eiswüsten, sie war schon in der Antarktis, in Nordnorwegen, Patagonien und hat mal zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Mann eine Nacht auf einer Eisscholle verbracht, umzingelt von Pinguinen und Orcas. Sie kann mit Entbehrungen und Kälte umgehen, aber die Radtour durch Grönland ist auch für sie eine besondere Herausforderung. Beim Start in Kangerlussuaq zeigt das Thermometer minus 33 Grad an.

Vereiste Haare, gefrorene Wimpern und strahlende Augen

Vereistes Geröll, hartgefrorener, windgepresster Schnee, weicher Pulver: Radfahren in Grönland ist äußerst anstrengend. Wegen der extremen Kälte gelten besondere Regeln. Das Motto beim Losfahren: "Be bold, start cold", sei mutig, starte kalt. Denn wer sich zu dick einpackt, muss nach kurzer Zeit anhalten und sich umziehen. Die Pausen sind maximal zwei Minuten lang, schnell etwas trinken und in einen Energieriegel beißen, dann geht es weiter, sonst friert alles ein. Die Etappen sind 22 bis 60 Kilometer lang, eine Woche lang radeln die Frauen täglich sechs bis acht Stunden durch die eiskalte Einsamkeit.

Da stellt sich vor allem eine Frage: Warum? Zusatzfrage: Macht so etwas Spaß? Um herauszufinden, was Menschen zu solchen Wahnsinnsaktionen treibt, muss man Judith von Prockl in Singapur anrufen. Dort lebt sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann, nachdem sie zuvor im Silicon Valley, in London, Paris und Shanghai für verschiedene Firmen als Managerin gearbeitet hatte. Auf den Fotos von der Arktis-Expedition sieht man sie mit vereisten Haaren, gefrorenen Wimpern und strahlenden Augen, dick eingepackt in Daunenjacke, Gesichtsmaske und Mütze.

Beim Skype-Interview sitzt sie im ärmellosen T-Shirt vor dem Computer. Während sie von der Eiswüste schwärmt, ist es bei ihr jetzt tropisch warm. Die Antwort auf die Warum-Frage hat zum Teil mit einem guten Zweck zu tun: Mit ihrer Expedition haben die Fahrradfrauen Spenden für UN Women gesammelt, das Geld fließt in Hilfsprojekte für in Not geratene Frauen.

Der andere Teil der Antwort hat mit einem Lebensgefühl zu tun, mit der Sehnsucht nach Abenteuer. Prockl hat ein eigenes Reiseunternehmen gegründet, das luxuriöse Kulinarik-Trips anbietet, aber privat zieht es sie eher in unwegsames Gelände. "Ich vermisse die Berge sehr", sagt sie, "der größte Hügel hier ist nur 114 Meter hoch." Die Gegensätze zwischen der tropischen Insel Singapur und der arktischen Insel Grönland könnten kaum krasser sein. Singapur hat 5,6 Millionen Einwohner, ist 27 Kilometer breit und 50 Kilometer lang, in Grönland leben 56 000 Menschen auf einer Fläche, die sechsmal so groß ist wie Deutschland.

"Man hört nur das Knacken des Eises"

Judith von Prockl sieht ziemlich fit aus, die 51-Jährige treibt jeden Tag Sport - Laufen, Segeln, Surfen, Schwimmen, bei ihren Besuchen in Europa geht sie auch gerne Bergsteigen und Skifahren. Auf die Grönland-Expedition konnte sie sich in Singapur nur begrenzt vorbereiten: "Einmal habe ich mir ein Fatbike ausgeliehen und bin damit am Strand gefahren, das war ähnlich anstrengend wie im Schnee."

Judith von Prockl war schon immer eine Abenteurerin. Sie hat mehr als 50 Länder bereist, den Kilimandscharo und den Mera Peak bestiegen, einen Sechstausender in Nepal. Aber die Radtour in Grönland erlebt sie als besondere Herausforderung. Der Start am Russell-Gletscher ist beeindruckend, es geht an 60 Meter hohen Eiswänden vorbei über weite, gleißende Ebenen, die Räder wühlen sich durch Matsch, Schnee und Eis. "Mich faszinieren die Weite und die Stille solcher Landschaften", sagt Prockl, "man hört nur das Knacken des Eises, den Wind und den eigenen Atem." Sie lebe gerne in Singapur, sagt sie, aber in wüstenartigen Landschaften fühle sie sich frei und lebendig.

Bei den Übernachtungen in den Selbstversorgerhütten entlang des Arctic Circle Trails wird es oft eng und angenehm warm. Die Tage sind geprägt von Weite, Stille und Konzentration auf sich selbst. Gepäck und Proviant werden von Begleitfahrzeugen transportiert, die Frauen haben nur Tee und Tagesverpflegung in den Rucksäcken. Die Sportlerinnen begegnen ab und zu Inuit, die mit ihren Schlittenhunden unterwegs sind. Während der Fahrt ist es über Stunden absolut ruhig. "Man sagt ja immer, dass Frauen so kommunikativ sind", erzählt Judith von Prockl, "nicht aber beim Radfahren in Grönland." Das liegt zum einen daran, dass die Frauen hintereinander herfahren, zum anderen an den Temperaturen.

Es ist schlicht zu kalt, um den Mund aufzumachen.

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SZ vom 09.05.2020
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