Abenteuer Arktis (7):Überleben unter null

Ich bin in der Endphase der Vorbereitungen für meinen Pol-Trip. Was, wenn ich Fehler mache? Ein Expeditionsarzt über Erschöpfungstod und Überlebenswillen.

Birgit Lutz-Temsch

Christoph Kruis hat bereits mehrere Expeditionen in den Himalaya als Arzt begleitet. Der Mediziner kennt den Umgang mit Erfrierungen - auch aus eigener Erfahrung.

Abenteuer Arktis (7): Der beste Weg, Erfrierungen zu vermeiden: Die Komplettvermummung.

Der beste Weg, Erfrierungen zu vermeiden: Die Komplettvermummung.

(Foto: Foto: oh)

sueddeutsche.de: Was passiert, wenn ein Körperteil erfriert?

Christoph Kruis: Grundsätzlich führt Kälteeinwirkung zum Zusammenziehen der Blutgefäße - weil der Körper versucht, seinen Gesamtorganismus zu schützen. Deshalb begrenzt er den Wärmeverlust und nimmt dafür in Kauf, die körperfernen Zonen zu gefährden.

sueddeutsche.de: Dann kommt es zu diesen berühmten Bildern von Bergsteigern, die schwarze Zehen haben ...

Kruis: Im Extremfall, ja. Das Ausmaß der Erfrierung ist immer erst nach der Wiedererwärmung feststellbar. Bei Erfrierungen ersten Grades ist die betroffene Region blass und gefühllos. Im zweiten Grad bilden sich nach der Wiedererwärmung Blasen, weil die Zellen zerstört sind - deswegen tritt Zellwasser aus, es kommt zur Schwellung. Diese beiden Stadien heilen normalerweise ohne Verluste ab. Im dritten Grad wird Gewebe zerstört. Das sind dann die von Ihnen genannten Bilder. Es tritt eine Mumifizierung ein. Man wartet allerdings sehr lang mit Amputationen, um das Erholungspotential voll auszuschöpfen. Unter den schwarzen Krusten ist oft noch gesundes Gewebe vorhanden, und man muss wesentlich weniger entfernen, als es am Anfang scheint.

sueddeutsche.de: Was macht man, wenn ein Körperteil erfroren ist?

Kruis: Dieser Prozess ist äußerst schmerzhaft. Deshalb beginnt man im lauwarmen Wasser und steigert die Temperatur durch Hinzugießen von heißem Wasser bis maximal 38 Grad. Insgesamt sollte das etwa 30 Minuten dauern. Eventuell sind hier starke Schmerzmittel erforderlich. Dann tupft man den Bereich vorsichtig trocken und verbindet ihn möglichst steril und dick gepolstert. Entscheidend ist, dass die betroffene Region nicht erneut Kälte und Druck ausgesetzt wird. Wenn es also passiert ist, sollte man sich erst dann wieder erwärmen, wenn man auch im Warmen bleiben kann. Wichtig ist, viel zu trinken, um das Blut dünnflüssig zu machen, damit die Regionen wieder gut durchblutet werden. Und dann sollte man schleunigst von einem hierin erfahrenen Mediziner behandelt werden.

sueddeutsche.de: Wie vermeidet man Erfrierungen, wenn man sich in extremer Kälte bewegt?

Kruis: Das fatale bei Erfrierungen ist: Wenn Sie kalte Füße haben, spüren Sie das, weil das weh tut. So lange passiert aber nichts. Gefährlich wird es, wenn sie nichts mehr spüren. Dann vergessen Sie, dass Ihnen eigentlich kalt an den Füßen war. Und stellen erst hinterher fest, dass etwas passiert ist. Sie müssen sich selbst und Ihre Partner also ständig kontrollieren, sich gegenseitig fragen: Wie geht es deinen Zehen, was machen deine Finger? Genauso wie Sie gegenseitig kontrollieren müssen, ob Sie weiße Flecken im Gesicht haben.

sueddeutsche.de: Neben den örtlichen Erfrierungen gibt es auch die allgemeine Unterkühlung, die Hypothermie. Ab wann ist man unterkühlt?

Kruis: Man spricht von einer Hypothermie, wenn die Körperkerntemperatur unter 35 Grad fällt. Wobei auch die Unterkühlung in mehreren Stadien abläuft, mit fließendem Übergang. In der ersten Phase, in der sich der Körper mit voller Kraft gegen die Unterkühlung wehrt, ist man hellwach, ist in einem Erregungszustand, zittert. Der Körper steigert den Grundumsatz, um durch eine erhöhte Wärmeproduktion gegen die Kälte anzukämpfen.

sueddeutsche.de: Was passiert dann?

Kruis: Wenn die Kälteeinwirkung andauert und die körpereigenen Kräfte sich erschöpfen, kommt es zu einer Erregungsabnahme und der Mensch wird apathisch. Die körperlichen Grundfunktionen, der Herzschlag, die Atmung, aber auch der psychische Status reduzieren sich. Der Mensch wird teilnahmslos und empfindet in diesem Stadium keine Kälte mehr.

sueddeutsche.de: Warum?

Kruis: Weil sich der Körper geschlagen gegeben hat. Das kenne ich aus eigenem Erleben. Man empfindet in dieser Übergangsphase von der Apathie bis zum Hinüberdämmern keine Kälte. Es wird immer wieder beschrieben, dass Menschen dann sogar Kleidung ablegen. Dieser apathische Zustand geht in einen Dämmerschlaf über, der langsam in einen Scheintod und schließlich im irreversiblen Tod resultiert. Dieser Prozess kann sich über Stunden oder länger hinziehen.

sueddeutsche.de: Bis in welches Stadium ist das Leben wiederherstellbar?

Kruis: Die niedrigste Körperkerntemperatur, bei der erwiesenermaßen eine erfolgreiche Rückführung stattgefunden hat, liegt bei 13 Grad, also sehr tief.

sueddeutsche.de: Wie geht man mit Kälteopfern um?

Kruis: Hier ist es wichtig, die inneren Vorgänge zu kennen: Wenn sich der Körper nicht mehr durch Aktivitätssteigerung gegen die Kälte wehren kann, zentralisiert er. Das heißt, er gibt die Körperperipherie, die Haut, Muskeln und Knochen verloren. Er versucht somit, das Körperinnere und schlussendlich nur noch die Achse der lebenswichtigen Organe und des Gehirns mit möglichst warmem Kernblut zu versorgen. Deswegen ist es wichtig, dass Unterkühlte nicht bewegt werden. Sie müssen wie eine Mumie eingepackt, abtransportiert und isoliert werden.

sueddeutsche.de: Wärmt man dann zuerst die Extremitäten auf?

Kruis: Umgekehrt. Die Erwärmung der Körpers erfolgt von innen nach außen, und man muss dabei unbedingt vermeiden, dass man durch Bewegen Körperkern- und Körperschalenblut miteinander vermischt.

sueddeutsche.de: Sonst kommt es zum sogenannten Bergetod ...

Kruis: ... der auch Afterdrop heißt, ja. Wenn sich das relativ warme mit dem kalten Blut vermischt, fällt die Temperatur unter die kritische Grenze, es kommt zum Kammerflimmern - und dann stirbt der Mensch.

sueddeutsche.de: Warum gibt es immer wieder Fälle, in denen Menschen sehr lang unterkühlt überleben?

Kruis: Mit der Tiefe der Temperatur sinkt der Sauerstoffverbrauch. Bei 37 Grad Körpertemperatur hat das Gehirn nach fünf Minuten ohne Sauerstoff Dauerschäden. Bei 16 bis 18 Grad "überlebt" das Gehirn 60 Minuten. Diesen Effekt nützt man bei Herzoperationen ohne Herz-Lungen-Maschine. Der Patient wird ausgekühlt, das Herz steht still. Es wird operiert, wieder aufgewärmt und das Herz wird mittels Elektroschock reaktiviert.

sueddeutsche.de: Es gibt auch Situationen, in denen Menschen sich selbst nicht mehr erwärmen können.

Kruis: Dann droht der sogenannte Erschöpfungstod. Dieser resultiert aus einem Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren, an dessen Ende die Leute aufgrund von körperlicher Erschöpfung derart ausgebrannt und energetisch leer sind, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Wenn Sie hochgradig erschöpft sind, können sie sich noch so viel in Schlafsäcke verpacken - sie werden buchstäblich nicht mehr warm. Solche Leute brauchen eine äußere Wärmezufuhr.

sueddeutsche.de: Sie sind selbst viel auf Expeditionen unterwegs. Was sind die ausschlaggebenden Faktoren, bei denen sich Fehler fatal auswirken?

Kruis: Im Wesentlichen sind es fünf Punkte: Die Ausrüstung, die körperliche Fitness, die taktische Komponente, die Ernährung und die mentale Fitness. Um einer Auskühlung vorzubeugen, ist bei der Ausrüstung die Beachtung des Windchill-Effekts wichtig. Schon bei geringen Windstärken sinkt die "gefühlte Temperatur" auf der Hautoberfläche dramatisch - und damit steigert sich der Effekt. So entspricht zum Beispiel der Effekt von null Grad bei einem Wind von 36 Stundenkilometern dem Effekt von 15 Grad minus bei Windstille. Die Bekleidung muss also neben der Isolation unbedingt auch die Windstopperfunktion erfüllen.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie mit taktischer Komponente?

Kruis: Da fließt alles ein. Reinhold Messner sagte schon vor Jahrzehnten: Expeditionsbergsteigen heißt acht Stunden steigen, acht Stunden kochen, acht Stunden schlafen. Wenn sie ein schlechter Bergsteiger sind und für eine Etappe zwölf statt acht Stunden brauchen, dann fehlen ihnen vier - beim Kochen, Schlafen. Dazu kommt im Sinne einer negativen Addition, dass derjenige, der eine Etappe zwischen zwei Hochlagern schnell abwickelt, wahrscheinlich weniger erschöpft ist als derjenige, der zwölf Stunden dafür braucht. Das ist in der Arktis nicht anders. Die körperliche Fitness ist also ein die Taktik wesentlich beeinflussender Faktor. Wer in einer guten körperlichen Verfassung ist, kann sich diese auch erhalten und wird auch kritische Situationen im Regelfall meistern.

sueddeutsche.de: Ansonsten ergibt sich unter Umständen ein Teufelskreis ...

Kruis: ... ja, weil man sich nicht ausreichend erholen kann. Der ausgepowerte Bergsteiger kühlt aus, wird apathisch, lässt sich gehen. Das heißt: Er kocht nicht - Kochen ist anstrengend unter diesen Bedingungen -, er trinkt nicht. Schafft sich vielleicht auch keine ausreichenden äußerlichen Bedingungen, baut sich keine Schneehöhle, kühlt deshalb noch mehr aus. Derjenige, der fit ist und noch Reserven hat, kann sich die besseren äußeren Bedingungen schaffen, kochen und sich mit Flüssigkeit und Nahrung versorgen - und sich dementsprechend besser erholen. Bei dem anderen kann sich der Teufelskreis in einer Abwärtsspirale fortsetzen - bis hin zum Tod.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt die Ernährung?

Kruis: Eine große. Sie brauchen eine große Flüssigkeitszufuhr, weil die den Kreislauf aufrechterhält, insbesondere die Durchblutung in den körperfernen Partien. Wenn Sie sich stark körperlich anstrengen, kommt es zu einer Bluteindickung, speziell in der Kälte. Denn ab minus zehn Grad ist die Luft praktisch trocken. Sie müssen die Luft, die sie einatmen, mittels Energie auf 37 Grad erwärmen, und zu 100 % mit Wasserdampf sättigen. Auf diese Weise können allein durch die Atmung mehrere Liter Wasser pro Tag verlorengehen. In der Folge drohen Austrocknung, Bluteindickung und Erfrierungen in Fingern und Zehen.

sueddeutsche.de: Steigt der Kalorienbedarf bei Kälte?

Kruis: Dass er ansteigt, ist unstrittig, aber um wie viel, das kann man nicht sagen. Kälte zehrt auf Dauer, klar.

sueddeutsche.de: Welche Bedeutung hat die mentale Vorbereitung?

Kruis: Die geistige Fitness ist eminent wichtig. Sie verlieren immer zuerst im Kopf, in jeder Extremsituation. Und wenn der Kopf verliert, kommt der Körper hinterher, das ist aus etlichen Expeditionsberichten ersichtlich. Man kann sich außerdem buchstäblich an die Kälte gewöhnen, man kann Kälteresistenz trainieren. Wer völlig unvorbereitet in eine Biwaksituation kommt, kann damit im Regelfall wesentlich schlechter umgehen als jemand, der das regelmäßig macht oder sich geistig mit der Möglichkeit dieser Situation vorher auseinandergesetzt hat.

sueddeutsche.de: Wie steht es mit Alkohol - dem berühmten Gipfelschnaps, oder dem Rum, den die Bernhardiner im Fass um den Hals tragen?

Kruis: Sehr schwierig: Alkohol hat physiologisch den Effekt, dass er die körperfernen Blutgefäße erweitert - daher das Wärmegefühl. Das hat möglicherweise aber einen fatalen Nachteil: Nämlich, dass durch das Weitstellen der Körpergefäße auch der Wärmeverlust für den Gesamtorganismus steigt. Im Zusammenhang mit Kälte sollte man Alkohol also nur in sehr gesicherter Umgebung zu sich nehmen. Heißt: in der Hütte. Oder im Tal.

sueddeutsche.de schickt eine Reporterin ins arktische Eis - am 23. März geht es los. In der wöchentlichen Kolumne "Abenteuer Arktis" werden die Vorbereitungen begleitet. Ab sofort können Sie alle Kolumnen auch bookmarken, um sie schneller zu finden: Unter www.sueddeutsche.de/arktis. Nächste Woche: In der Arktis Urlaub machen - darf man das?

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: