77 Dinge, die ein Läufer wissen muss:Der missverstandene Läufer

Joggen ist zum Volksport geworden. Dennoch werden Läufer mit Vorurteilen und Ammenmärchen konfrontiert. Sportarzt Matthias Marquardt räumt mit einigen auf.

Mirja Kuckuk

Natürlich ist Matthias Marquardt selbst begeisterter Marathonläufer und Triathlet. So viel Überzeugung liest sich schnell aus seinem Buch "77 Dinge, die ein Läufer wissen muss" heraus. Darin will der Mediziner mit lästigen Vorurteilen und Halbwahrheiten rund um seinen Lieblingssport aufräumen.

laufen, joggen

Abkehr vom Sozialleben? Nur extreme Läufer entsprechen dem Klischee, alles dem Training unterzuordnen.

(Foto: Foto: iStockphotos)

sueddeutsche.de: 16 Millionen Menschen laufen - man sollte denken, sie gehören wie selbstverständlich zum Gesellschaftsbild. Dennoch beklagen Sie Vorurteile, mit denen Läufer zu kämpfen haben. Welche?

Matthias Marquardt: Gern wird der Läufer als großer Asket dargestellt, der nur noch auf den nächsten Marathon hintrainiert und alles in seinem Leben diesem Ziel unterordnet: Er vernachlässigt seine Familie, seine Freunde. Wer in der Kantine eine Currywurst isst, wird von dem laufenden Gesundheitsapostel belehrt. Sicherlich gibt es einige dieser Prototypen. Aber das Gros der Läufer sind Freizeitsportler, die neben Job und Familie abends ihre Runden drehen und gern auch mal ein Glas Rotwein trinken.

sueddeutsche.de: Unter den Sportlern selbst kursieren Ammenmärchen, die gerade Anfänger auf den falschen Weg bringen können. Wie verbreiten sich solche Halbwahrheiten?

Marquardt: Um sich leicht zu verbreiten, müssen Ammenmärchen plakativ und auf den ersten Blick einleuchtend sein. Und: Sie lassen sich leicht auf den Alltag des Läufers übertragen und dienen gern als Entschuldigung für ein bestimmtes Verhalten. Nehmen wir das Beispiel: "Gummibärchen sind gut für die Gelenke." Die Dinger sind lecker und deshalb hört man diese These gern. Die vermeintliche Erklärung: Das Fruchtgummi hat eine Konsistenz wie ein Gelenkknorpel - weich und elastisch. Das leuchtet dem Schuhverkäufer genauso wie dem Läufer und manchem Arzt ein. Die halbseidene wissenschaftliche Begründung: Gummibärchen ähneln den Eiweißbausteinketten des Knorpels. Diese werden im Magen-Darm-Trakt zerlegt und nach Bedarf im Körper wieder neu aufgebaut. Das ist richtig, doch bestehen diese Kollagene aus Gelatine, also Schlachtabfällen. Dieselben Eiweißketten finden Sie aber auch in Kartoffeln oder Schnitzel. Essen Sie lieber ein Stück Fleisch - da stecken viel hochwertigere Eiweiße und weniger Zucker drin.

sueddeutsche.de: Man sagt, auf Asphalt zu laufen schädige die Gelenke. Oder ist das auch nur so ein Ammenmärchen?

Marquardt: Da steckt keine wissenschaftliche Begründung hinter. Unter Sportmedizinern herrscht allgemeiner Konsens: Laufen schadet den Gelenken nicht. Studien zeigen, dass Läufer mit exzessiven Laufumfängen kein erhöhtes Arthroserisiko haben verglichen mit der Normalbevölkerung. Warum sollte die natürlichste Bewegung unserem Körper schaden? Klar, Elitetrainer gehen mit Laufprofis gern auf weichem Pinienwaldboden trainieren - weil dort das Verletzungsrisiko generell niedriger ist als auf Asphalt. Aber auch hier zeigen Studien: Läufer, die auf Asphalt unterwegs sind, haben kein größeres Verschleißrisiko als solche, die im Wald trainieren, denn der Körper hat eigene Dämpfungsmechanismen. Wer aber den ganzen Tag auf dem Bürostuhl sitzt, bekommt auf jeden Fall leichter Gelenkprobleme.

sueddeutsche.de: Was ist daran so gefährlich?

Marquardt: Die Behauptung, dass Laufen den Gelenken schade, geht auf eine falsche Vorstellung zurück: Der Gelenkknorpel funktioniere wie ein Autostoßdämpfer. Tut er aber nicht. Man kann nicht Metalle und andere Werkstoffe mit belebtem Gewebe vergleichen. Wenn ich mit meinem Auto ausschließlich 200 Stundenkilometer fahre, geht es schneller kaputt. Der Knorpel aber braucht die Bewegung, denn er befindet sich in einer schwierigen Ernährungslage: Er ist weder durchblutet, noch führen Nerven durch ihn hindurch. Durch Bewegung bildet sich Gelenkschmiere, die in das Knorpelgewebe eindringen muss. Das geschieht durch Kompression und Dekompression, also durch Be- und Entlastung. Wie ein Schwamm saugt sich der Knorpel bei der Entlastung voll. Das heißt, wer den ganzen Tag sitzt, der regt seinen Gelenkstoffwechsel nicht an. Wer aber regelmäßig läuft, lässt seinen Knorpel arbeiten - und das schützt ihn vor Verschleiß.

sueddeutsche.de: Sie wollen Läufern und solchen, die es werden wollen, Orientierung geben und haben dafür 77 Dinge, die ein Läufer wissen muss, zusammengetragen. Sind das nicht immer noch ganz schön viele Verhaltensnormen?

Marquardt: Natürlich können Sie einfach draufloslaufen. Für den Trainingsstart muss man nicht gleich alles wissen. Für Anfänger gibt es zehn Tipps - die Technik betreffend. Wenn man dann das erste Mal ins Fachgeschäft geht, kann man sich vorher das Kapitel "Ammenmärchen beim Schuhkauf" durchlesen. Wer seinen ersten Marathon laufen will, bekommt in einem gesonderten Kapitel Tipps.

sueddeutsche.de: Man kann es also auf eine Faustformel runterbrechen?

Marquardt: Für Einsteiger ja. Anfängern wird viel Unsinn erzählt - zum Beispiel, dass man beim Laufen keine Pausen machen darf wegen des Fettstoffwechsels. Oder dass man gar nicht erst mit dem Laufen anfangen braucht, wenn man nicht regelmäßig drei Mal die Woche trainiert. Beim "Nüchternlauf" am frühen Morgen soll schnell viel Fett verbrannt werden - die wenigsten aber wissen, dass dabei auch wertvolle Eiweiße angegriffen werden. Beliebt auch: Atemübungen und gymnastische Übungen bei Seitenstichen. Nutzlos! Sie sind ganz einfach zu schnell gelaufen und müssen das Tempo drosseln.

Auf der nächsten Seite: "Das Runner's High gibt es nicht" und "Läufer sind schlechte Liebhaber.

Läufer sind schlechte Liebhaber

sueddeutsche.de: Das klingt alles ganz locker und ermutigend. Dennoch schreiben Sie Dinge, wie "Das Runner's High gibt es nicht" und "Läufer sind schlechte Liebhaber". Das klingt weniger motivierend.

Sportarzt und Lauftrainer Matthias Marquardt; Südwest Verlag

Matthias Marquardt arbeitet in der internistischen Abteilung einer Klinik in Hannover. Außerdem gibt er Laufseminare.

(Foto: Foto: Südwest Verlag)

Marquardt: Ich will unnötige Illusionen nehmen. Läufer lesen in Büchern und Zeitschriften von dem Phänomen "Runner's High" und schon denken sie, sie kämen nach ein paar Laufrunden völlig befreit von Kummer und Stress zurück. Doch das sind leider mystische Erzählungen von Exzessläufern, die 280 Kilometer in der Wüste zurückgelegt haben. Aber selbst Läufer, die an der Weltspitze mitlaufen und den Iron Man auf Hawaii bestehen, sprechen eher von Quälerei als von Hochgefühlen. Wer sich auf 42 Kilometer vorbereitet, weiß sehr wohl, dass das unangenehm werden kann. Und klar ist auch, dass nach anstrengenden Trainingstagen oder nach einem langen Tag im Büro mit anschließendem Zehn-Kilometerlauf wohl kaum jemand zum rasanten Liebhaber mutiert. Das ist ganz natürlich. Mir geht es darum, dass die Leute trainieren - und es locker angehen.

sueddeutsche.de: Ist Joggen denn wirklich ein Jedermann-Sport?

Marquardt: Die meisten Deutschen sind zu dick. Deshalb würde grundsätzlich jedem Laufen guttun. Aber es gibt natürlich Ausnahmen: Wenn jemand eine schwere Gelenkfehlstellung - etwa ein schlimmes O-Bein - oder einen Gelenkschaden hat. Auch mit einer schweren Stoffwechselstörung, einem Diabetis mellitus zum Beispiel, muss man das Laufen genau mit dem Arzt absprechen. Wenn jemand schwer übergewichtig ist, sollte er erst mal mit einem Geh-, Schwimm- oder Radtraining beginnen, ehe er zum effektiveren Laufen übergeht.

sueddeutsche.de: Was halten Sie von den großen Volksläufen?

Marquardt: Manchmal tun mir tatsächlich die Augen weh, wenn ich besonders krude Laufstile oder völlig falsches Schuhwerk bei Marathonläufern sehe. Da muss sich noch einiges tun. Als die Nordic-Walking-Welle auf ihrem Höhepunkt war, hat jeder, der das lernen wollte, von seiner Krankenkasse einen Kurs bezahlt bekommen. Will aber jemand mit dem Laufen beginnen - einer sehr viel effektiveren Sportart - heißt es: Kauf dir Schuhe und lauf mal los. Es findet keine professionelle Beratung statt. Dennoch ist es mir lieber, die Leute tun etwas für sich. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, durch Sport 2000 Kilokalorien zusätzlich zu verbrauchen, als wir ohnehin umsetzen. Bringt es jemand mit nicht ganz regelmäßigen Läufen auf 1200 oder 1500 verbrannte Kalorien, ist das auch völlig in Ordnung. Er tut in jedem Fall etwas für sein Herz-Kreislauf-System.

sueddeutsche.de: Was halten Sie von Laufmagazinen? Sind sie verantwortlich für die Ammenmärchen, mit denen Sie aufräumen wollen?

Marquardt: Ich selbst schreibe hin und wieder für ein Triathlon-Magazin. Natürlich sind Journalisten dazu angehalten, immer wieder plakative Dinge vorzuführen - um gehört und gelesen zu werden. Dazu kommen ökonomische Abhängigkeiten - zum Beispiel Anzeigenkunden, die Schuhtests sponsoren. Die Fachpresse ist nicht grundsätzlich schlecht. Die Läufer wollen sich über die neuesten Schuhmodelle auf dem Markt informieren und wechselnde Experten äußern sich dazu. Natürlich wird aufgrund von Verkürzungen hin und wieder auch Falsches geschrieben, aber ebenso auch Richtiges und Kritisches.

Matthias Marquardt: "77 Dinge, die ein Läufer wissen muss". Südwest Verlag, 176 Seiten, 14,95 Euro

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