68er-Bewegung:Elf Dinge, die uns die 68er-Bewegung hinterlassen hat

Rainer Langhans

Rainer Langhans bei seiner Festnahme auf dem Kurfürstendamm in Berlin; Archivfoto vom 30.September 1967. Langhans war Bewohner der 'Kommune 1' - welche noch heute Sinnbild für die sexuelle Befreiung und neue Wohnformen ist.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Befreite Sexualität, Rock, Kinderläden, Reformunis, Emanzipation, Drogenexperimente, linker Terrorismus. Das wahre Erbe der 68er.

Von SZ-Autoren

"1968 fing der Planet Feuer", sagte Daniel Cohn-Bendit einmal und bezeichnete damit eine politische und kulturelle Revolte, die nationale Grenzen sprengte. Für den ehemaligen Anarchisten, Studentenführer und früheren grünen Europapolitiker ist die damalige Bewegung, die fast alle westlichen Staaten erfasste, ein Symbol für den Aufbruch in eine bessere, gerechtere, und ja, schönere Welt.

"Wir haben uns immer mit den edlen Verlierern der Geschichte identifiziert", so Cohn-Bendit vergangenes Jahr im Spiegel. Das Eintreten für die Unterdrückten in aller Welt war ein wichtiges Motiv für viele, die in der 68er-Bewegung aktiv waren. Dabei habe man sich keiner starren Ideologie unterordnen wollen. Man lehnte sowohl das kapitalistische System unter Führung der USA als auch den real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und seinen Satellitenstaaten strikt ab.

Wohin die Bewegung führen sollte, war vielen damals Beteiligten unklar. Man sprach - in Marx'scher Diktion - von der historischen Notwendigkeit, mit der der Kommunismus kommen würde und von der Revolution, die unmittelbar bevorstünde. Doch die konkreten Ziel bleiben wolkig. Selbst Rudi Dutschke, der Anführer der Studentenunruhen in Berlin, ließ das Ziel des Protestes bewusst offen.

50 Jahre 68er-Bewegung - ein Schwerpunkt

Vom tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg über die Massendemonstrationen bis zum blutigen Terror der RAF: Alle Analysen, Interviews und Fotos zur 68er-Bewegung finden Sie hier.

So richtig viel ist von den "Irgendwas-mit-Sozialismus"-Ansätzen der 68er nicht geblieben: Weltweit gibt es kein überzeugendes linkes Projekt auf Staatsebene. Die Studentenbewegung zersplitterte schnell in viele kleine, oft untereinander verfeindete Gruppen, von denen sich die meisten irgendwann auflösten. Größer war die Wirkung, die die 68er auf die Alltagsgesellschaft, die Popkultur und unsere Moralvorstellungen hatten. Der Philiosoph Jürgen Habermas, der die rebellischen Kräfte in der Hitze der Auseinandersetzungen einmal "Linksfaschisten" nannte, revidierte später seine Aussage und deutet die 68er-Bewegung heute als Triebfeder für die "Fundamentalliberalisierung" der deutschen Gesellschaft.

Dieses Verdienst wird seit einigen Jahren infrage gestellt, von konservativen Kulturkritikern wie dem ehemaligen Spiegel-Journalisten Matthias Matussek und von neorechten Kräften um AfD und Pediga, die in den 68ern die Zerstörer der guten Sitten sehen, die die Deutschen letztendlich einem riesigen Umerziehungsprojekt unterworfen haben. Was also bleibt 50 Jahre später noch von den 68ern? Eine Bestandsaufnahme:

"Befreite" Sexualität

Freie Liebe, weibliche Lust, Orgasmus für alle - die Zeit war Ende der sechziger Jahre reif für eine sexuelle Revolution, die Erwartungen entsprechend hoch. Da gab es die Pille, die das Ausleben der Lust ohne Angst vor Konsequenzen ermöglichte. Da war Rainer Langhans, Mitbegründer der Kommune I in Berlin, der eifrig Ekstase-Erfahrung sammelte, Beziehungsarbeit praktizierte und in seinem Umfeld nicht nur Privateigentum und Monogamie abschaffte, sondern auch gleich die Klotüren aushängte. Und natürlich Uschi Obermaier, die schöne Gefährtin aus München-Sendling, deren Brüste sich so wunderbar als politisches Signal eigneten.

Für die 68er-Generation war die Unterdrückung der sexuellen Triebe gleichbedeutend mit einer Deformierung der Persönlichkeit, vielen galt sie gar als Ursache für die Gräueltaten im Dritten Reich. Was ist aus der sexuellen Revolution geworden? Längst haben sie die Klotür wieder eingehängt, jede von Langhans' Haremsdamen lebt heute in ihrer eigenen Wohnung. Und der Kommunarde gestand 50 Jahre später: "Ich fand es schrecklich, jeden Tag Sex haben zu müssen."

Was damals undenkbar war, ist heute normal: die wilde Ehe. Der "Kuppeleiparagraf" wurde 1974 abgeschafft. Auch der sogenannte Schwulenparagraf wurde 1969 erstmals entschärft und 1973 reformiert, so dass Homosexuellen keine Verfolgung mehr drohte - endgültig gestrichen wurde er 1994.

Heute, so scheint es, muss sich niemand mehr befreien. Jeder kann und darf wie und mit wem er will, niemand muss sich mehr verstecken. Das ist gut, kann aber auch anstrengend sein: Die Möglichkeit, jederzeit seine sexuellen Bedürfnisse auszuleben, ist zur Pflicht geworden. Überdruss und Leistungsdruck liegen mit im Bett, kein Wunder bei dem Überangebot.

Eine Befreiung von der sexuellen Befreiung - womöglich wäre das die Lösung.

(Violetta Simon)

Schlussstriche und Nebenwidersprüche

Aufarbeitung der NS-Zeit

Die Aufarbeitung der NS-Zeit ging in den ersten beiden Jahrzehnten der Nachkriegsrepublik unter. Angestoßen durch den Marshall-Plan vollbrachte der westliche Teil Deutschlands ein kaum für möglich gehaltenes Wirtschaftswunder, 1954 wurde die Fußball-WM gewonnen, man richtete sich ein und war wieder wer.

Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald

Aufarbeitung der NS-Zeit: Tor des KZ Buchenwald

(Foto: picture alliance / dpa)

Die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg 1945/1946 waren für die Mehrheit der Deutschen Siegerjustiz, bereits vier Jahre nach der Befreiung wurden Zehntausende Täter amnestiert und 1951 durften ehemalige NSDAP-Mitglieder ganz offiziell in den Staatsdienst zurückkehren. Die Adenauer-Regierung betrieb die Wiedereingliederung ehemaliger Nazis offensiv, alte Seilschaften funktionierten - und bald saß wieder die frühere Elite an den Schalthebeln von Verwaltung, Justiz und Gesellschaft. Darunter Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt und 1935 Kommentator der Nürnberger Rassegesetze. 1966 wurde das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger gar Kanzler. Das kann man als "großartige Integrationsleistung" verstehen, wie sogar der SPD-Politiker Egon Bahr lobte. Oder auch als unerträgliche Schlussstrich-Mentalität, wie viele Stundeten das in den sechziger Jahren sahen.

Zwar waren sie nicht die Ersten, die die Verdrängung der NS-Verbrechen anprangerten. Ende 1963 begann in Frankfurt der Prozess gegen 22 Täter von Auschwitz. Die entscheidende Rolle spielte dabei der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Auch wenn er starken Gegenwind ertragen musste und die Urteile später ernüchternd ausfielen: Viele junge Menschen fingen nun an, ihre Eltern zur Rede zu stellen. Danach war klar, dass 1933 keine braunen Männchen von einem fremden Planten auf die Erde geschwebt kamen, die sie 1945 wieder fluchtartig verlassen hatten. Erst die radikale Thematisierung der NS-Zeit durch die neue Generation ließ die einzigartige Monstrosität von Auschwitz ins Bewusstsein der Deutschen eindringen.

(Lars Langenau)

Emanzipation

Obwohl sich die Studentenbewegung um die Befreiung der Gesellschaft drehte, stand die Emanzipation der Frau zunächst hinten an, wurde von den männlichen Aktivisten gar als "Nebenwiderspruch" abgetan, der schon irgendwie gelöste werden würde, wenn die große Revolution eines Tages käme. An Diskussionen, Sit-ins und Aktionen konnten sich Studentinnen mit Kindern nur selten beteiligen, denn Betreuungsangebote gab es kaum. Die Mütter, nicht die Väter, mussten sich um Haushalt und den Nachwuchs kümmern.

68er-Bewegung: Erste zaghafte Emanzipationsbewegung: Der Film "Zur Sache Schätzchen" kam 1968 ins Kino

Erste zaghafte Emanzipationsbewegung: Der Film "Zur Sache Schätzchen" kam 1968 ins Kino

(Foto: EPD)

Politische Forderungen der Frauen gingen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dem Motor der Studentenbewegung, unter. Studentinnen mussten stattdessen auch innerhalb der Bewegung Kaffee kochen und in kurzen Röcken Flugblätter verteilen. Erst Helke Sanders berühmte Rede legte 1968 den Grundstein für die Neue Frauenbewegung: Die Sprecherin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau kritisierte die SDS-Männer auf einer Delegiertenkonferenz, weil sie die Diskriminierung der Frauen ignorierten. Die Antwort der Männer? Sie beachteten Sanders Rede nicht. Aus Protest flogen aus den Reihen der Frauen Tomaten in Richtung SDS-Vorstand. Medien griffen den Vorfall auf, in allen deutschen Universitätsstädten bildeten sich als Folge Frauengruppen. Sie gründeten feministische Medien und Diskussionskreise, setzten sich mit teils spektakulären Aktionen für die Gleichberechtigung von Frau und Mann ein - eine Pionierarbeit, die Jahre später erste Erfolge zeigen sollte, auch wenn das Ziel der Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht ist.

(Olivia Kortas)

Der Ausbau der Universitäten

Einst trugen Professoren Talare, genau wie Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Pastoren. Diese Tradition stammte aus dem Mittelalter, sie wurde in der Nazizeit weitergeführt und war bis tief in die sechziger Jahre auch an den Universitäten verankert. Symbol für den Protest gegen verkrustete und autoritäre Strukturen wurden die späteren SPD-Politiker Detlev Albers und Gert Hinnerk Behmler, die am 9. November 1967 im Audimax der Hamburger Universität ein Protestbanner mit dem Slogan: "Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren" hochhielten. Angeblich stammt der schwarze Stoff des Banners vom Trauerzug für Benno Ohnesorg.

Tatsächlich haben erst die sozialliberalen Bildungsreformen in Folge der 68er-Bewegung es ermöglicht, dass mehr Arbeiterkinder Universitäten besuchen konnten. So wird 1971 BAföG für Schüler und Studenten eingeführt, bereits ein Jahr später wurde fast die Hälfte der Studenten damit unterstützt. Mitte/Ende der sechziger Jahre entstanden Reformuniversitäten in Bochum, Lübeck, Ulm, Bielefeld, Augsburg, Passau oder Regensburg. Nie zuvor und nie danach wurde so viel Geld und Beton in die Hochschulbildung investiert. Auch die alten Unis öffneten sich, wurden ausgebaut und vergrößert. Studierten damals weniger als zehn Prozent eines Jahrgangs, sind es heute mehr als 40 Prozent.

Studentenführer machte Partei- und Uni-Karriere - Detlev Albers tot

'Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren': Protest von Studenten der Uni Hamburg

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Vollends erfolgreich war die Bildungsexpansion trotzdem nicht: Auch 50 Jahre nach den Studentenprotesten ist die soziale Auslese gravierend: So beginnen laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung nur 24 von 100 Kindern von Nichtakademikern ein Studium - im Gegensatz zu 71 Kindern von 100 Akademikern.

(Lars Langenau)

Reformierte Polizei

Natürlich setzen Polizisten auch heute noch Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein, wo die Verantwortlichen es für nötig halten. Meist obliegen diese Einsätze der Bereitschaftspolizei, aber selbst die geht heute meist weit besonnener vor, als man auf alten Fernsehaufnahmen sieht. Die Polizei ist Teil der Exekutive in einem demokratisch verfassten Staat.

Die in den sechziger Jahren eingesetzten Polizisten waren vielfach noch militärisch ausgebildet: strammstehen, marschieren, Meldung machen. Bis Anfang der achtziger Jahre sei auch noch "das Werfen von Handgranaten Teil der Ausbildung" gewesen, sagt Oliver Malchow, Chef der Gewerkschaft der Polizei.

Der Satz aus Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 - "Wir wollen mehr Demokratie wagen" - galt auch für die Polizei. Doch das war ein langer Weg. Der Satz, "die Waffe des Polizisten ist das Wort", wurde erst Jahre später Leitlinie der deutschen Polizei. Die Polizei heute, so Malchow, setze auf soziale Kompetenz und auf Rhetorik. "Polizeiliches Handeln und polizeiliches Einschreiten wird inzwischen transparent gemacht und noch während des Einsatzes kommuniziert, auch mit Hilfe der sozialen Netzwerke", so der Polizeigewerkschafter. Die schwere Schutzausrüstung der eingesetzten Beamten, oft als provokatives Auftreten diffamiert, sei übrigens auch ein Teil des Lernprozesses infolge der Studentenunruhen. "Jeder Ausrüstungsgegenstand, vom Helm bis zu den Sicherheitsschuhen ist das Ergebnis schwerster Verletzungen, die einzelne Gewalttäter den Beamten zugefügt haben", sagt Malchow.

(Lars Langenau)

Verständigung zwischen Ost und West

Eigentlich geht die "Neue Ostpolitik", die nach Meinung vieler Historiker die deutsche Einheit vorbereitete, nicht von der Studentenbewegung aus, sondern von dem vorher schon erwähnten Egon Bahr. Der hatte einige Jahre vorher, am 15. Juli 1963, an der Evangelischen Akademie in Tutzing eine wegweisende Rede unter der Überschrift "Wandel durch Annäherung" gehalten.

Bahr schwebte vor, die Überwindung der Blockkonfrontation gerade dadurch zu erreichen, dass man die Existenz des anderen deutschen Staates anerkannte und sich in die Lage der gegnerischen Seite hineinversetzte. Das war im streng antikommunistischen Nachkriegsdeutschland in der Ära Adenauer ein Tabubruch. Es dauerte Jahre, bis sich das Konzept nach 1969 in die Wirklichkeit umsetzen ließ, unter Kanzler Willy Brandt, dessen wichtigster Berater und Überlieferungen zufolge einzig echter politischer Freund Egon Bahr wurde. Mit der Sowjetunion, Polen, der DDR und der Tschechoslowakei schloss die damalige Bundesregierung Verträge, die zu einer Normalisierung der Beziehungen zu diesen Staaten führten.

Symbolisch erfahrbar wurde die neue politische Ausrichtung mit dem Kniefall von Warschau 1970 und dem Friedensnobelpreis für Brandt ein Jahr später. Wenn Bahr das Gehirn der Neuen Ostpolitik war und Brandt das Herz, dann waren die 68er zumindest die Beine. Denn ohne ein verändertes gesellschaftliches Klima hätten Brandt und Bahr ihr Programm wohl nur schwer durchbringen können.

(Oliver Klasen)

Antiautoritäre Erziehung

"Müssen wir schon wieder spielen, was wir wollen?" Dieser aus der Kita überlieferte Satz von gelangweilten, "selbstbefreiten" Kindern ist zum Bonmot geworden. Ganz sicher klebten an den Wänden der Kitas und Kinderläden nicht immer Spaghetti und Doktorspiele waren da auch nicht die Regel. Aber möglich war das schon. Ohne Sanktionen.

Wo wären wir heute wohl ohne den britischen Pädagogen Alexander Sutherland Neill, der mit seiner Summerhill-Schule alles auf den Kopf stellte, was Jahrhunderte als richtige Erziehung galt? Wohl noch immer in einer autoritär strukturierten Gesellschaft mit einem ausgeprägten Untertanengeist und Angepasstheit. Dem zu widerstehen, das war auch das Ziel des 1965 erschienenen schmalen Büchleins "Erziehung nach Auschwitz" von Theodor W. Adorno, dessen erster und zentraler Satz folgender ist: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung." Auch der große Mann der Kritischen Theorie beschrieb wie Neill das Ziel, Kinder zu mündigen, kritik- sowie glücksfähigen und selbstbestimmten Menschen zu erziehen. Dazu gehört als zentraler Bestandteil die Fähigkeit zum Widerstand.

Dass das an der reformorientierten Odenwaldschule so furchtbar schiefgelaufen ist und dort Kinder über Jahre sexuell missbraucht wurden, sieht der Sozialphilosoph Oskar Negt im SZ-Gespräch als Folge des geschlossenen Raumes dieser Schule. Dort habe sich der Schulleiter Gerold Becker der Öffentlichkeit verschlossen und einem falschen Ideal der Antike gefrönt. Mit den bekannten furchtbaren Folgen, die heute von rechts so gern benutzt werden, um die ganze Idee zu diskreditieren.

Doch die "Erziehung zum Ungehorsam", so der Titel eines Films von 1969, zeigte das Gegenmodell der regulären Kindergärten, in denen zu dieser Zeit Kinder noch festgebunden wurden. Schließlich nutzten Erzieher und Lehrer bis 1973 ihr Recht zur körperlichen Züchtigung. Das lehnten zu dieser Zeit bereits viele Eltern für ihre Kinder ab und zudem gab es - wie heute - einen Mangel an staatlichen Kindergärten. Also bauten eben Elternkollektive erste Kinderläden auf. Etwas, das auch heute wieder massenhaft in Zeiten des Mangels entsteht: Eigeninitiative! Und wenn es dabei auch nicht völlig antiautoritär zugeht: Festbinden und Schlagen sind heute gesellschaftlich geächtet. Was für ein Fortschritt!

(Lars Langenau)

Protestsongs

Okay, die Popkultur war schon rebellisch bevor die 68er kamen. Es gab Bob Dylan, die Rolling Stones oder die Beatles. Aber die Beatles sangen lange Zeit vor allem über Liebe und ihre LSD-Erfahrungen, das Rebellentum der Stones war zu einem beträchtlichen Teil bloß Attitüde und die Protestsongs von Dylan konnten damals viele mit ihrem mittelmäßigen Schulenglisch nicht erfassen.

Es brauchte also Bands, die die Revolution für das deutsche Publikum übersetzten. Die Mitglieder der Kölner Polit-Combo Floh de Cologne etwa waren im Sozialistischen Deutschen Studentenbund engagiert, traten später in die kommunistische DKP ein und integrierten die Marx'sche Dialektik in die Rockmusik.

Textauszug gefällig? "Der Unternehmer heißt Unternehmer, weil er etwas unternimmt. Der Arbeiter heißt Arbeiter, weil er arbeitet. Würden die Arbeiter etwas unternehmen, müssten die Unternehmer arbeiten."

(Oliver Klasen)

Drogenexperimente

"High sein, frei sein, Terror muss dabei sein", das war eine bekannte Losung in linksradikalen Kreisen Ende der sechziger und in den siebziger Jahren. Für die meisten war das nur ein flotter Spruch, um ihr Rebellentum zu umschreiben, nur bei einer kleinen Minderheit mündete das Aufbegehren tatsächlich in Gewalt. Doch der experimentelle Drogenkonsum war unter den 68ern weit verbreitet. Und im Gegensatz zum politischen Protest, dem zumeist die harte Hand des Staates entgegenschlug, konnten all die Marxisten, Anarchisten, Kommunarden und Maoisten ihrem Rausch anfangs relativ ungehindert nachgehen.

Woodstock

Woodstock im August 1969: Rockmusik war die schärfste Waffen des Wiederstandes

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PR)

1967/68 gab es in vielen westlichen Staaten keine Gesetze, die Haschisch oder LSD, die damals am weitesten verbreiteten Drogen, unter Strafe stellten. Die Band Grateful Death etwa verteilte am Anfang ihrer Karriere noch LSD-Trips unter den Zuschauern ihrer Konzerte. Doch der Staat reagierte, 1971 etwa wurde in Deutschland das Betäubungsmittelgesetz verschärft.

Eines der Verdienste der 68er und der linksalternativen Bewegungen in der Zeit danach ist es, auf die Doppelmoral in der Drogenpolitik hingewiesen zu haben. Während der Konsum von Drogen kriminalisiert wurde, verdient der Staat am Konsum der legalen Drogen Alkohol und Nikotin kräftig mit. Die linke taz - gegründet 1978 und dominiert von (Alt-)68ern - brachte das im Jahr 1997 in einem satirischen Beitrag über das Münchner Oktoberfest auf den Punkt: "Massenintoxikation in München. Heute beginnt auf der Theresienwiese der bayerischen Hauptstadt der weltweit größte Rauschmittelexzess. Polizei rechnet mit Toten und Schwerstverletzten."

(Lars Langenau)

Du statt Sie

Bevor sich infolge des 2. Juni 1967 die Studentenbewegung an den bundesdeutschen Universitäten durchsetzte, siezten sich die Studenten zumeist untereinander. Universitätsrektoren und -dekane ließen sich gar mit Eure Magnifizienz (Großartigkeit), beziehungsweise Eure Spektabilität (Ehrwürdigkeit) ansprechen. Es ist, je nach Sichtweise, das Verdienst oder die Schuld der 68er-Generation, die strengen Gepflogenheiten aufgeweicht und die Umgangsformen gelockert zu haben. Heute ist das "Du" nicht nur zwischen Studenten, sondern etwa auch unter Kollegen oft die Standardanrede.

Hippies 1967 in San Francisco

Hippies 1967 in San Francisco: Psychedelische Selbstbefreiung

(Foto: picture alliance / -/UPI/dpa)

Für Zweifelsfälle haben findige Formulierungskünstler Sonderformen erschaffen: Das Hamburger Sie ("Patrick, Ihr Leitartikel hat mir hervorragend gefallen") gehört genauso dazu wie das Kassiererinnen-Du ("Frau Müller, bringst Du mir mal bitte den Stornoschlüssel") oder das Berliner Wir ("Haben wer och ne jültige Fahrerlaubnis?"). Und wer auf eine strenge Distanz bedacht ist, der kann es noch immer machen wie der holländische Fußballtrainer Louis van Gaal, der sich selbst von seinen Töchtern siezen lässt. Das geht dann als liebenswerte Schrulligkeit durch.

(Oliver Klasen)

Linker Terrorismus

Brandsätze und Waffen lösten in den siebziger Jahren friedliche Protestformen wie lange Haare und satirische Flugblätter ab. Schon Jahre zuvor war in einigen Kreisen innerhalb der 68er-Revolte eine gewisse Gewaltbereitschaft erkennbar. Einige sprachen von einer "Stadtguerilla", sie spielten mit Worten wie "Anschlag" und "Attentat". Und bereiteten so den Boden für "linken Terrorismus".

Anschlag Generalbundesanwalt Buback

Bleiernde Zeit: Anschlag der RAF auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977

(Foto: dpa)

Schließlich blieben Erfolge der Studentenbewegung aus: die Amerikaner intervenierten weiter in Vietnam, der Bundestag erließ die Notstandsgesetze, Axel Springer wurde nicht enteignet. Frust und Wut mischten sich, als ein Polizist am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration erschoss. Die Stimmung in der Bewegung kippte, ein knappes Jahr später setzten linksextreme Aktionisten zwei Kaufhäuser in Frankfurt in Brand.

Kleingruppen gingen in den Untergrund, formten linksterroristische Gruppierungen wie die Tupamaros West-Berlin und die Tupamaros München. In den frühen siebziger Jahren gründeten sich Terrororganisationen wie die "Bewegung 2. Juni" und die "Rote Armee Fraktion" (RAF). Bei ihren Brandanschlägen, Entführungen und Bombenattentaten kamen bis 1998 mehr als 30 Menschen ums Leben.

(Olivia Kortas)

Was von den 68ern bleibt
68er Revolte

Vom tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg über die Massendemonstrationen bis zum blutigen Terror der RAF: SZ-Texte, Interviews und Fotos zur 68er Bewegung finden Sie hier.

  • Vietnam-Demonstrationn im Februar 1968 in Berlin Von der Notwendigkeit sich zu engagieren

    RCDS, SPD, Linke. Student, Mittelbau, Alt-68er: Drei Generationen, drei politische Einstellungen. Was bleibt von der Studentenrevolte - und was können wir von 1968 lernen?

  • Rainer Langhans die uns die 68er hinterlassen haben

    Befreite Sexualität, Rock, Kinderläden, Reformunis, Emanzipation, Drogenexperimente, linker Terrorismus. Das wahre Erbe der 68er.

  • Vietnam Demonstration Rudi Dutschke Erich Fried "Eine falsche Vorstellung von Freiheit"

    Sozialphilosoph Oskar Negt im Gespräch über den Tod von Benno Ohnesorg heute vor 50 Jahren, die Studentenbewegung von 1968 - und ob ihm die AfD und Trump den Optimismus ausgetrieben haben.

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