Süddeutsche Zeitung

600. Geburtstag von Frankreichs Nationalheiliger:Die Legende von Jean d'Arc

Ein einfaches Bauernmädchen, die Retterin Frankreichs, eine Heilige - und in Wahrheit ein Mann? Transgender-Aktivisten sehen im Mythos von Jeanne d'Arc eines verkannt: ihre männliche Identität.

Lena Jakat

Bauernmädchen aus Lothringen, fromme Jungfrau, tapfere Kriegerin - das ist der Mythos Jeanne d'Arc. Doch nicht nur das: Jeanne könnte auch Jean gewesen sein, ein Mann. Zumindest ihrer sexuellen Identität nach. Das wenigstens glauben einige Transgender-Aktivisten, die sich für die sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung einsetzen.

Die junge Frau, die im Mai 1429 in nur zehn Tagen vollbrachte, was eine ganze Armee zuvor sechs Monate lang vergeblich versucht hatte - die Stadt Orléans aus der Hand der Engländer zu befreien - , war und ist für viele Gruppen Vorbild und Projektionsfläche, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Frankreichs Linke sieht sie als Schutzpatronin der Armen, die Konservativen feiern sie als Begründerin des Nationalbewusstseins und die Rechtsextremen der Front National versuchen sie als Galionsfigur für Kampagnen gegen Immigranten und den Euro zu missbrauchen. Mit ihr identifizieren sich Frauenrechtlerinnen und fromme Christen ebenso wie im Zweiten Weltkrieg Anhänger der Résistance - und Menschen, die sich für die Überwindung von Geschlechtergrenzen einsetzen.

Während Historiker wie Walter Rost behaupten, Jeanne sei in Wahrheit schlicht ein Mann und alle anderslautenden Berichte nichts als Kriegslist gewesen, wird immer wieder auch darüber spekuliert, ob sie intersexuell oder transgender gewesen sein könnte: Also kein biologisch eindeutiges Geschlecht beziehungsweise eine männliche Identität hatte. So argumentieren etwa die Aktivistin Leslie Feinberg und auch die transsexuelle Autorin Joan Roughgarden.

Die US-Biologin Roughgarden beschreibt Johanna in ihrem aufsehenerregendem Werk Evolution's Rainbow als Transgender-Person mit männlicher Identität, die sich bis zu ihrem grausamen Tod weigerte, ihre Männerkleidung abzulegen. Und die so überzeugend maskulin auftrat, dass ihre Henker die Kohlen von ihrer nackten Leiche schoben, um den Menschen ihre Weiblichkeit zu beweisen.

Als Belege für die Intersexualitätsthese wird angeführt, dass la Pucelle - die Jungfrau - während ihres Prozesses mehrfach medizinisch untersucht worden sei. Ein Argument, das der Historiker und ausgewiesene Jeanne-d'Arc-Experte Gerd Krumeich entschieden zurückweist: "Die Engländer hatten für diesen Zweck extra hohe Damen eingeschifft", erläutert er. "Falls die irgendetwas in diese Richtung entdeckt hätten, wäre das sicherlich bekannt geworden. Körperlich war Johanna eindeutig eine Frau." Das belegten zahlreiche historische Quellen. Soldaten zum Beispiel, die in den Prozessen aussagten.

Kaum eine andere Biographie des Mittelalters ist so gut dokumentiert und wissenschaftlich durchleuchtet wie das kurze Leben des Mädchens aus dem lothringischen Domrémy. Und dennoch wird über kaum eine Figur derart viel spekuliert, "herumvermutet", nennt das Krumeich. Zu ihrer geschlechtlichen Identität sagt Krumeich: "Sind wir nicht alle irgendwie irgendwo ein bisschen transsexuell?" Sicher ist, dass Jeanne d'Arc eine sehr emanzipierte Frau war. Im 15. Jahrhundert waren die Frauen in vieler Hinsicht emanzipierter als später", sagt der Johanna-Biograph, "und sie hatte eine sehr entschiedene Art, mit Männern umzugehen." Man weiß, dass ihre Erscheinung nicht sonderlich auffällig war. Und, dass sie Männerkleider und die schwarzen Haare kurz wie ein Soldat trug.

Hing das auch damit zusammen, dass sie sich als Mann fühlte, wie es manche Transgender-Aktivisten auslegen? "Ihre Männerkleidung war kein Emblem, sie trug sie, um unter den Soldaten nicht als Frau aufzufallen, um unbefangen mit ihnen umgehen zu können", erläutert Krumeich. "Sie war extrem züchtig." Das musste sie auch sein - es war, zunächst jedenfalls, ihre Lebensversicherung.

In der religiösen Mystik des Mittelalters gab es für außergewöhnliche, ja schier unglaubliche Taten wie die von Jeanne d'Arc zwei mögliche Erklärungen: Entweder wurde jemand von Gott gelenkt - oder vom Satan. Die Jungfräulichkeit war jedoch ein eindeutiger Beweis für eine göttliche und gegen eine teuflische Mission.

Natürlich war es im Mittelalter ein Affront ohnegleichen, en passant Geschlechter- und Standesgrenzen einzureißen. Doch dabei wog fast schwerer, dass sie, eine einfache Bäuerin, mit den Herrschenden in Kontakt trat. Was die Verwerflichkeit von Männerkleidern angeht, war selbst die höchste moralische Instanz, die Kirche, uneins. Während ihre Gegner und die Engländer ein solches Verhalten als pauschal unsittlich brandmarkten, werteten ihre Verteidiger das Tragen von Hosen und Rüstung in Extremsituationen als verzeihliche Sünde.

Sowohl ihre maskulinen Züge als auch ihre Weiblichkeit dürften Schicksal und Kult der Johanna von Orléans entscheidend geprägt haben: Nur durch ihr resolutes, dominantes Auftreten konnte sie sich bei den Männern, die mit ihr die Stadt und schließlich ganz Frankreich zurückeroberten, durchsetzen. Ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung hat sie nach Einschätzung von Krumeich aber gerade ihrer Weiblichkeit zu verdanken. Die Legende, dass eine Jungfrau Frankreich retten würde, existierte bereits lange vor Johannas Geburt. In einem Bauernmädchen aus Lothringen, mit dem Kleidern und dem Mut eines Soldaten, erfüllte sich die Geschichte.

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