Volkskrankheit Migräne:Vom falschen Umgang mit Kopfschmerzmitteln

Fast neun Millionen Deutsche leiden an Migräne. Doch der richtige Umgang mit der Krankheit fällt vielen schwer. Jeder Zweite nimmt die Medikamente falsch ein.

Musste ein Patient vor 6000 Jahren zur Migränetherapie, konnte dies beinahe schmerzhafter werden als das Leiden selbst: Denn, so wird vermutet, die "Heilung" von Kopfschmerzen bestand damals darin, Menschen Löcher in den Schädel zu meißeln - wahrscheinlich, um die schmerzhaften bösen Geister entweichen zu lassen.

Volkskrankheit Migräne Kopfschmerzen

Volkskrankheit Migräne: Fast neun Millionen Deutsche leiden daran.

(Foto: Foto: ddp)

Der Meißel ist passé, doch die Schmerzen sind geblieben. Acht bis zwölf Prozent der Weltbevölkerung leiden Schätzungen zufolge an Migräne, hierzulande sind es nach Angaben der "Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft" acht bis neun Millionen Menschen.

Allerdings nimmt jeder zweite Migräne-Kranke in Deutschland seine Kopfschmerzmedikamente falsch ein, wie Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel berichtet.

Dies liegt nach Angaben des Klinik-Leiters am Misstrauen gegenüber Migränemitteln. Die Medikamente wirkten mittlerweile sehr gut, aber spezifisch. "Deshalb muss der Patient seine Form der Migräne genau kennen", sagt Göbel.

250 Arten von Kopfschmerzen

Aber wer soll sich da auskennen? Über 250 verschiedene Kopfschmerztypen zählt die "Internationale Klassifikation der Krankheiten". In dieser sind 13 Hauptgruppen und 36 Unterkategorien aufgelistet.

Dabei ist vor allem zu unterscheiden, ob es sich um primären oder sekundären Kopfschmerz handelt: Letzterer ist die Folge von anderen Erkrankungen, die Ursachen können von einer Grippe bis zum Hirntumor reichen. Da er letztlich nur ein Symptom dieser Krankheiten ist, wird er auch symptomatischer Kopfschmerz genannt.

Treten primäre Kopfschmerzen auf, so handelt es sich in fast 90 Prozent der Fälle um Migräne oder Spannungskopfschmerzen. Beide unterscheiden sich vor allem durch die Länge: Ein Migräneanfall ist nach spätestens 72 Stunden vorbei, Kopfschmerzen vom Spannungstyp können sich unbehandelt von 30 Minuten bis zu sieben Tagen hinziehen.

Weitere Kennzeichen der Migräne sind oft Brechanfälle und Sehstörungen.

Doch Migräne richtig zu diagnostizieren und die passenden Medikamente zu verschreiben, ist für einen Arzt oft zeitaufwendig: "Die einzige Möglichkeit ist, sich eine halbe bis dreiviertel Stunde mit dem Patienten hinzusetzen und über seine Symptome zu sprechen", erklärt Roland Brand von der Migräne und Kopfschmerzklinik Königstein.

Viele Ärzte können sich diese Zeit nicht nehmen - und viele Betroffenen finden den Weg in die Praxen erst gar nicht. "Dadurch, dass sie nur hie und da Schmerzen haben, erkennen sie Migräne nicht als Krankheit an", sagt Brand.

Ähnliche Verhaltensmuster zeigen sich bei der Einnahme der Arzneien. "Viele Patienten wollen keine unnötigen Medikamente schlucken und warten deshalb damit, bis die Migräne-Attacke ihren Höhepunkt hat", erläutert Andreas Straube von der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz -Gesellschaft, "doch dann wirken die Mittel schlechter."

Die Angst vor Nebenwirkungen ist Straubes Meinung nach unbegründet: "Eigentlich gehören Migräne-Medikamente zu den sichersten Medikamenten überhaupt." Allerdings sollte man sie trotzdem nicht regelmäßigeg auf eigene Faust einnehmen, da dies dazu führen kann, dass die Mittel nicht mehr wirken.

Fehlfunktion bei der Signalübertragung

Auch wer komplett ohne Medikamente der Krankheit entgegentritt, tut sich keinen Gefallen - denn der Schmerz kann dann chronisch werden. Dies führt wiederum zu nicht-medizinischen Langzeitfolgen. "Zunächst hat man nur ein Kopfschmerzproblem, aber später kommen soziale und berufliche Probleme dazu, weil man ständig ausfällt.", erläutert Göbel.

Viele Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass die Fehlfunktion von Ionenkanälen bei der Entstehung der Krankheit eine große Rolle spielt. Ionenkanäle sind Proteine in der Zellwand, die für die Übertragung von Signalen von Zelle zu Zelle zuständig sind, indem sie die Konzentration geladener Teilchen innerhalb und außerhalb der Zelle ausgleichen. Funktioniert dies nicht richtig, können beispielsweise Schmerzimpulse nur schlecht verarbeitet werden.

Bei der vererblichen Form der Migräne (der familiären hemiplegischen Migräne) wird bereits ein Zusammenhang zu einer Genmutation vermutet, die zur Störung der Ionenkanäle, der sogenannten Channelopathie, führt. "Wir sind in der Forschung in den vergangenen Jahren sehr weit gekommen", sagt Straube. "Allerdings wissen wir nicht, wieso es bei Patienten in spezifischer Situation zur Attacke kommt."

Klar ist: Obwohl Momente wie psychischer Stress, emotionale Anspannung oder Erschöpfung einen Anfall auslösen können, handelt es sich bei der Migräne um keine psychosomatische Erkrankung. Die Folgen für die Psyche der Betroffenen sind jedoch sind kaum zu unterschätzen: Mehr als 60 Prozent der Migränepatienten litten an schweren Depressionen, erklärt Göbel und ergänzt: "die Suizidrate ist zehn Mal höher als in der Normalbevölkerung".

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