Reportage:Am Wasser gebaut

In Berlin, Hamburg und Leipzig entstehen ganze Siedlungen mit Hausbooten. Für manche Bewohner sind die schwimmenden Häuser ein Ausweg - für andere ein Albtraum.

Von Verena Mayer

Sobald Uta Eisenhardt ihre Berliner Wohnung betritt, ist sie im Urlaub. Direkt auf dem Wasser, vor ihrem Küchenfenster kräuselt sich graublau der Fluss. Enten und Schiffe ziehen vorbei, und wenn Eisenhardt im Bett liegt, hört sie, wie die Wellen gegen ihre vier Wände schwappen. Dabei wohnt Eisenhardt mitten in der Großstadt. Rundherum gläserne Bürotürme, eine S-Bahnbrücke, und dazwischen ragt eines der meistfotografieren Berliner Wahrzeichen hervor, die drei riesigen silbernen "Molecule Men", die aussehen, als würden sie auf dem Wasser tanzen.

Dass das Leben hier wie auf einer Urlaubsinsel ist und zugleich auf eine Weise urban, die jedem Stadtmenschen die Tränen der Rührung in die Augen treibt, liegt an Eisenhardts Wohnung. Ein Schiff, das früher mal für DDR-Bauarbeiter gedacht war, 32 Meter lang, hundert Tonnen schwer, die Helene. Vier Zimmer, Wohnküche, Terrasse, fest verankert in bester Hauptstadtlage, Eisenhardts Nachbarn sind Diplomatenfamilien, die in den Townhouses am Ufer leben. Oder eben Besitzer von Hausbooten, die entweder schlicht und weiß oder mit Holz verkleidet sind und aussehen wie luxuriöse Ferienbungalows. In eines davon ist unlängst ein Club-Besitzer eingezogen.

In wenigen Jahrzehnten schon werden 80 Prozent aller Menschen in der Stadt wohnen

Hausboot - das klingt erst einmal sehr speziell. Nach Aussteigern und Abenteuer, Mississippi und Huckleberry Finn. Doch auf den Hausbooten leben inzwischen meistens Städter. Grund dafür sind die Metropolen selbst, die teurer und vor allem voller werden. Wenn es nach den Zukunftsprognosen geht, werden in wenigen Jahrzehnten 80 Prozent der Weltbevölkerung Städter sein. Das wiederum verlangt nach immer ausgefalleneren Wohnformen. Man bezieht aufgelassene Schlachthöfe, ehemalige Flughafengebäude oder alte Bunker aus dem Krieg. Und jetzt sind eben die Schiffe dran. In London sieht man inzwischen Tausende Hausboote, in Amsterdam gehören ganze Schiffssiedlungen zum Stadtbild. Nur: Wie lebt man dauerhaft auf einem Boot? Und was passiert, wenn das alle wollen? Sind Schiffe der Ausweg aus der Wohnungsnot oder ein Zeichen dafür, dass die Metropolen keinen Plan mehr haben, wie sie ihre Bewohner unterbringen sollen?

Uta Eisenhardt wuchtet eine schwere Schiffstür auf und geht durch einen engen Flur, in dem es nach Metall riecht. Ein Bad, ein begehbarer Schrank, zwei Kinderzimmer, und dann steht man in einem riesigen Raum, der mehr von einer Dachgeschosswohnung hat als von einer früheren Kajüte. Holzboden, Kamin, ein helles Sofa, offene Küche, durch große Fenster und das halb verglaste Dach fällt Licht herein. Dass man auf einem Schiff ist, merkt man nur daran, dass die Wellen im Sonnenlicht tanzende Schatten an die Wände werfen. Und wenn draußen ein Ausflugsboot vorbeibrettert, schwankt die Lampe über dem Esstisch hin und her.

Eisenhardt, 47, aufgewachsen in Ostberlin, studierte Soziologin, beginnt auch gleich zu schwärmen. Von der Freiheit, die man auf einem Schiff hat, von der Nähe zur Natur. Dass ihre beiden Jungs im Sommer vom Wohnzimmer ins Wasser springen können. Und wie sie es im Winter knacken hört, wenn der Fluss zufriert, bis er ein einziger Teppich aus Eis und Schnee ist. Eisenhardts Sohn, 14, sitzt währenddessen mit dem Smartphone auf dem Sofa. Er blickt kurz auf und sagt, dass das Leben auf dem Schiff eigentlich ganz normal sei. Nur, als er ganz klein war, mussten er und sein Bruder immer Schwimmwesten tragen, wenn sie an Deck waren. Und seine Kumpels und Schulfreunde - beneiden ihn die nicht? Das schon, sagt er. "Aber die sehen nicht die Nachteile." Bevor man noch überlegen kann, was wohl die Nachteile einer Wohnform sein könnten, die schön und verhältnismäßig günstig ist und durch Solararzellen und ein eigenes Windrad auch noch energieautark, hat er schon geantwortet. "Das langsame Internet hier ist echt krass."

Aha, na gut. Uta Eisenhardt fallen noch ein paar andere Dinge ein. Dass sie nie gleichzeitig den Toaster und die Waschmaschine anstellen darf, weil das die Schiffsbatterie nicht schafft. Um ihre Abwässer loszuwerden, müssen sie ein Entsorgungsschiff kommen lassen. Und da ist noch die viele Arbeit, "das ist wie ein Haus, da ist immer etwas". Reparaturen, Bürokratie, und die Erlaubnis, an ihrem Liegeplatz zu sein, müssen sie jedes Jahr neu beantragen. Einmal mussten die Eisenhardts mit ihrer Helene schon umziehen. Da hat in dem Berliner Hafen, in dem sie bis 2005 lagen, der Eigentümer gewechselt, und die Eisenhardts erhielten eine Räumungsklage.

Uta Eisenhardt hat das in einem Buch aufgeschrieben. Es heißt "Vier Zimmer, Küche, Boot" und handelt von einem Traum, den Eisenhardt und ihr Mann Felix, beide begeisterte Segler, lange hatten. Vor allem aber erzählt Eisenhardt von einer Odyssee. Wie sie von Behörde zu Behörde weitergereicht wurden, zum Schifffahrtsamt, zu den Bezirken, zur Senatsverwaltung, und nirgendwo fühlte man sich zuständig. Als die Familie 2004 endlich beginnen durfte, ihr Boot zu renovieren, war das so exotisch, dass sie von einem Kamerateam begleitet wurden, das eine Doku-Soap fürs Privatfernsehen drehte.

Inzwischen sind Hausboote Teil der Stadtplanung. Deutsche Kommunen setzen auf schwimmende Häuser, Wasser gibt es ja meistens selbst dort, wo der Wohnraum knapp ist. In der Hauptstadt, in die jedes Jahr 50 000 Leute neu zuziehen, wächst in der Rummelsburger Bucht gerade eine ganze Wasserstadt aus dem Boden. Jedes bewohnbare Fleckchen soll dort genützt werden, die ersten Familien haben bereits ein aufgelassenes Gefängnis bezogen. Und mitten auf dem Wasser könnten irgendwann Lofts schwimmen, formschöne Kuben aus Holz und Glas, die auf Beton-Pontons aufgesetzt werden. Ein Prestigeprojekt des Berliner Senats, mit Sonnenenergie und viel Schilf. Allerdings hängt es seit einiger Zeit in der Berliner Bürokratie fest.

Manche Hausboote sehen aus wie gediegene Ökohäuser, andere wie Kunstmuseen

In Bitterfeld bei Leipzig ist man schon weiter. Nach der Wende wurde der Braunkohle-Tagebau geflutet und es entstand eine idyllische Wasserlandschaft. Jetzt kann man die ersten Musterschiffe zum Wohnen besichtigen. Drei Stockwerke, Fußbodenheizung, Dachterrasse, eines Tages soll hier ein ganzes Resort aus Hausbooten schwimmen. Am weitesten sind sie in Hamburg. Am Eilbekkanal reihen sich Hausboote aneinander, die mal aussehen wie ein gediegenes Ökohaus, mal wie ein modernes Kunstmuseum. Die Hausboote sind ein Politikum, in einem ehrgeizigen Senatsplan ist von Hunderten schwimmenden Häusern die Rede. Sogar einen kommunalen Hausboot-Koordinator gibt es.

Die Nachfrage sei riesig, sagt Christian Sternke. Er vertreibt Hausboote für eine Berliner Firma, sein Büro ist ein Schiff auf dem Müggelsee. Eigentlich sei das Phänomen alt. Städter hätten immer mal wieder auf Booten gewohnt. Als nach dem Krieg alles zerstört war, richteten sich viele übergangsweise auf alten Schiffen ein, später entdeckten die Hippies das Leben auf dem Boot, so wie in der Bucht von San Francisco. Neu sei jedoch die Klientel. Das seien keine Aussteiger mehr, sagt Sternke. Sondern durchwegs "sehr betuchte Leute", die für ein schwimmendes Haus auch schon mal eine Million Euro hinlegen, letztens hatte er eine Anfrage aus den Arabischen Emiraten. Das Wohnschiff ist die neue Villa. Meine Frau, mein Auto, mein Hausboot.

Doch das Leben auf dem Wasser kann auch ein Albtraum sein. In London etwa. Dort wohnt Annette Dittert, 53, Journalistin. Dittert war lange Auslandskorrespondentin der ARD, zuletzt hat sie aus London berichtet. Sie ist noch immer viel unterwegs, man erreicht sie am Telefon. Vor dem Interview mailt sie Fotos des Londoner Kanals, in dem sie seit einigen Jahren auf einem Hausboot lebt. Ein schmaler Flussarm, gesäumt von Bäumen, deren Äste in das grünlich schimmernde Wasser hängen. Links und rechts Hausboote, keines breiter als zweieinhalb Meter. Little Venice heißt das, kleines Venedig.

Doch die Idylle täuscht. Die Leute auf den Kähnen sind oft nicht freiwillig hier, sondern weil sie sich in London keine andere Unterkunft mehr leisten können. Selbst wenn sie aus der urbanen Mittelschicht kommen, so wie Annette Ditterts Nachbarn. Da sind etwa ein Richter und eine Krankenschwester, ein paar Boote weiter wohnen ein emeritierter Oxford-Professor und junge Gutverdiener aus der Werbebranche. Es sind inzwischen so viele, dass die Hausboote dicht gedrängt in zwei Reihen nebeneinanderliegen. Wer außen wohnt, muss immer erst über das Schiff des Nachbarn klettern.

Boote werden ja gerne als Metaphern für den Zustand einer Gesellschaft benutzt. Dass alle im selben Boot sitzen, man sich in unsicheren Gewässern befindet oder aber das Boot voll ist. In London erzählen die Boote davon, was mit einer Metropole passiert, wenn Wohnraum nur mehr zum Spekulieren dient. Sobald Annette Dittert ihre schwankenden 18 Quadratmeter verlässt, für die sie am Ufer 2000 Euro zahlen würde, sieht sie überall leer stehende Häuser. Schöne Altbauten oder Villen, sie gehören reichen Arabern, Russen oder Chinesen. Leuten, die Geld anlegen wollen oder es waschen müssen. Aber es wohnt niemand darin, wenn hin und wieder das Licht angeht, dann macht das eine Zeitschaltuhr. Die Häuser werden einfach alle paar Jahre umgebaut und dann noch teurer weiterverkauft. Selbst wenn man sie verrotten ließe, wäre das noch immer lukrativer, als sie zu vermieten. "Früher dachte man: Mit dem Internet kann man überall arbeiten", sagt Dittert. "Aber alle wollen in die Städte, und die gehen langsam an dem vielen Geld zugrunde."

In London kostet jetzt selbst eine Bootsanlegestelle so viel wie anderswo eine ganze Wohnung

Das Boot sei für sie eine "Mischung aus Traum und Notwendigkeit" gewesen, sagt Dittert. Nach Ende ihrer Korrespondententätigkeit wollte sie nicht mehr weg, und ein Boot "war die einzige Möglichkeit, in London zu bleiben, ohne Banker oder Multimillionär zu sein". Sie entwarf ein Schiff und ließ es für knapp 100 000 Euro in einer Werft in Nordengland bauen. Während sie erzählt, mailt Dittert noch ein paar Fotos von ihrer Emilia durch. Man sieht Dittert, wie sie mit Strohhut und kariertem Jackett an Deck sitzt und eine Tasse Tee trinkt, rundherum Töpfe mit Küchenkräutern, und durch ein Bullauge guckt eine Katze. Dittert erzählt, wie schön es ist, morgens wach zu werden und aufs Wasser zu gucken, und das im Zentrum von London. Dass einen diese Wohnform dazu bringe, sich auf das Wesentliche zu beschränken, "ich komme inzwischen mit zwei, drei Hosen über den Winter." Und da sei noch die "eingeschworene Gemeinschaft". Ständig sei man zu einem Barbecue oder einer Party eingeladen, und ab dem fünften Bier an Deck muss man jemanden aus dem Wasser fischen.

Doch selbst in Klein-Venedig ist das Leben nicht mehr idyllisch. So hat die Stadt den Kanalarm an einen privaten Betreiber verkauft, der als Erstes die Miete für die Liegeplätze um 350 Prozent erhöhte. Eine winzige Bootsanlegestelle kostet in London jetzt so viel wie anderswo eine Zweizimmer-Wohnung, 650 Euro. Dabei können die Leute froh sein, dass sie überhaupt noch fest ankern können, sagt Annette Dittert. Es gibt nämlich keine freien Plätze mehr auf dem Wasser, so viele Menschen leben in London inzwischen auf Schiffen. "Der Kanal ist voll."

Und die Stadt? Gibt es einen politischen Willen, daran etwas zu ändern? Nein, sagt Dittert, "hier herrscht der wild gewordene Kapitalismus". Als sie einmal versuchte, eine Art Bürgerinitiative auf die Beine zu stellen, wie sie das aus Deutschland kennt, hätten ihre britischen Nachbarn nur milde gelächelt. Und gesagt, das bringe doch ohnehin nichts. Dittert protestierte dann zumindest im Namen aller Nachbarn bei den Kanalbetreibern gegen die Erhöhung der Liegegebühren. In dem Brief, den sie zurückbekam, stand nur: Wenn ihr etwas nicht passe, könne sie ja abhauen. "Da war nicht einmal mehr britische Höflichkeit."

In einem Film, den Dittert über ihr Leben auf dem Wasser gedreht hat, sitzt sie einmal mit einem jungen Mann zusammen. Der ist Bühnenbildner, in London geboren und aufgewachsen. Jetzt sucht er ein Schiff zum Wohnen. Ohne Boot müsse er seine Heimat verlassen, sagt er, "niemand aus meiner Generation kann sich diese Stadt noch leisten". Er wird dann als sogenannter Continuous Cruiser unterwegs sein. Was nach Kreuzfahrtsromantik klingt, ist eine besonders bizarre Form des urbanen Nomadentums. Hausboote nämlich, die keinen festen Liegeplatz mehr finden und deswegen rund um die Uhr über die Kanäle schippern müssen. Im vergangenen Jahr sei es besonders schlimm geworden, sagt Dittert. Sie merkt das daran, dass fast kein Wasser mehr im Kanal ist, weil die Schleusen ständig für Schiffe geöffnet werden müssen. Jede Nacht fahren mindestens 50 Boote bei ihr vorbei, darauf Studenten, Künstler oder junge Freiberufler, die nirgendwo mehr ankommen können. Fast so wie einst der Fliegende Holländer. Nur, dass kein Fluch sie zur Rastlosigkeit zwingt, sondern die ganz normale Wohnungsnot.

In Berlin sitzt die Familie Eisenhardt jetzt auf der Terrasse ihres Schiffs. Die Abendsonne spiegelt sich golden im Wasser, immer wieder tuckert ein Partyboot vorbei. Technomusik weht über das Wasser, einer der Feiernden ruft: "Ist das eure Wohnung?" Die Eisenhardts nicken, Felix Eisenhardt erzählt, dass er demnächst seine Arbeit aufs Wasser verlegen möchte. Er ist ausgebildeter Veranstaltungskaufmann und Matrose und gerade dabei, ein Schiff zu bauen, auf dem man Konferenzen und Meetings abhalten kann. Die Schiffe werden dann wohl auch in der Hauptstadt zum Alltag gehören. Jedenfalls, solange die Boote nicht voll sind.

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