Familientrio:Geklaute Verse

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Ein Enkel hat seinem Großvater ein Gedicht aus dem Internet als sein eigenes Werk präsentiert. Wie reagieren? Drei Meinungen.

Mein Enkel, 12, hat mir ein Gedicht geschenkt. Auf meine bewundernde Frage: "Hast Du das selbst geschrieben?", antwortete er zögernd mit Ja. Später fiel mir die gekonnte Rhythmik des Textes auf, die mir absolut nicht altersgemäß erschien. Bei einer Suche im Internet stieß ich dann direkt auf den Text. Soll ich ihn mit meiner Entdeckung konfrontieren? Und in welcher Weise?

Dietrich S. aus Hamburg

Kirsten Fuchs:

Kirsten Fuchs ist Schriftstellerin und lebt mit zwei Töchtern, Mann und Hund in Berlin. Sie schreibt vor allem Kurzgeschichten und Romane, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch "Mädchenmeute" erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis. (Foto: Stefanie Fiebrig)

Für mich steht in der Erziehung Ehrlichkeit immer ganz weit oben, weil sonst das Vertrauen flöten geht, und dann wird's schwierig. Andererseits brauchen Kinder auch ihre Geheimnisse. Man kann Kindern aber den Unterschied erklären zwischen Geheimnissen, die sich gut anfühlen und solchen, die sich schlecht anfühlen. Vielleicht können Sie mit Ihrem Enkel darüber sprechen, und er könnte dann allein für sich überlegen, ob er ein Geheimnis hat, dass sich gut oder schlecht anfühlt. Sie könnten auch nebenbei einfließen lassen, dass Sie sich gefreut haben, egal, ob das Gedicht nun von ihm war oder nicht, weil er Ihnen ja mit den Worten ja etwas sagen wollte. Ansonsten würde ich bei diesem Geschenk versuchen, das Positive zu sehen und nicht auf ein polizeimäßiges Verhör zu setzen.

Herbert Renz-Polster:

Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor von Erziehungsratgebern und des Blogs "Kinder verstehen". Er hat vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau und jüngstem Kind in Ravensburg. (Foto: Verlag)

Lügen werden oft als moralische Bankrotterklärung gesehen, aber sie haben auch einen ganz banalen Kern: Wir Menschen lügen umso mehr, je höher die Kosten der Wahrheit sind. Das gilt erst recht für Kinder. Übersetzt: muss ein Kind damit rechnen, dass es sich durch die ehrliche Antwort eine ganze Ladung Abwertung, Beschämung oder Beziehungskrach einhandelt, wird es eher die Lügen-Karte ziehen. Die erste Frage würden Sie also am Besten an sich selber stellen: Hat es mein Enkel vielleicht deshalb nicht geschafft, mir ein Amateur-Gedicht vorzulegen, weil er meine hohen Ansprüche kennt - und fürchtet? Auch ein "soziales" Motiv wäre denkbar: Vielleicht konnte er in dem Moment nicht mit der Wahrheit herausrücken, weil es das Geschenk verdorben hätte? Oder, eine andere Möglichkeit: war das mit dem Gedicht vielleicht gar nicht seine eigene Idee - und er ist deshalb daran gescheitert? Wenn es Ihre Beziehung zu Ihrem Enkel hergibt, darüber offen - und selbstkritisch - zu reden: nur zu. Ansonsten würde ich die Geste dahinter in den Vordergrund stellen: Ihr Enkel hat Ihnen etwas Gutes tun wollen. Und ja, dabei hat er sich irgendwo verrannt. Aber er hat sich auf den Weg gemacht.

Collien Ulmen-Fernandes:

Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter wohnt in Potsdam und hat den Kinderbuch-Bestseller "Lotti und Otto" und den Elternratgeber "Ich bin dann mal Mama" verfasst. (Foto: Anatol Kotte)

Lieber Dietrich S.: Das ist ja das schöne am Austausch zwischen den Generationen, das jede der anderen etwas beibringen kann, und zwar nicht nur in eine Richtung. Sie können ihm vom Wiederaufbau, den 68ern, der kommunistischen Gefahr erzählen; er Ihnen von Fortnite, Tik Tok und Fridays for Future. Und so bringt Ihnen Ihr Enkel etwas sehr zeitgemäßes bei, denn er bedient sich sehr frei des Internets, hat Ihnen mit viel Mühe ein Gedicht ergoogelt und Sie für eine kleine Sequenz sehr glücklich gemacht. Er benutzt die Infrastruktur des Netzes für die Inszenierung eines Gesamtkunstwerks namens "Enkel schenkt Opa Gedicht." Damit handelt er in der Tradition von Bertolt Brechts "Factory", der sich sehr frei seinen weiblichen Zuliefererinnen bedient hat. Haben Sie Ihre 8-bändige Brecht-Leinen-Ausgabe deshalb weggeworfen? Eben. Freuen Sie sich über Ihren Brecht`schen Enkel und beweisen Sie an der Stelle die größte Qualität Ihrer Generation - verdrängen Sie den Rest.

Haben Sie auch eine Frage? Schreiben Sie eine E-Mail an: familientrio@sueddeutsche.de

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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